Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 19 ---------- Ronga tauchte die Schnauze in das warme Blut seiner Beute. Es gab nichts tröstenderes als eine erfolgreiche Jagd, die nicht nur den Hunger bekämpfte, sondern auch alles Denken völlig verdrängte. Nur die Instinkte herrschten. Niemals konnte er sich eine bessere Art der Meditation vorstellen. Tief atmete er den Geruch ein, der zu gleichen Teilen gesättigt war von Lebendigkeit und dem sich ankündigen Tod. Er fraß gierig. Doch für immer ließ sich der Verstand, der in ihm wohnte nicht fernhalten. Ebenso wenig wie die Wirklichkeit in der Ronga lebte. Noch immer kauend wurde ihm klar, was er da gerade getan hatte. Um das Kalb, dessen Eingeweide er fraß, tat es ihm nicht leid. Schließlich würde ja auch ihn einmal ein anderes Tier fressen, wenn er starb. Ein Aasfresser vielleicht, oder, wenn er vollkommen vergangen war, vielleicht sogar ein Kalb. Worum es ihm leid tat, war das, was ihn nun erwartete. Wie auf ein Stichwort drehte der Wind und trug ihm die Witterung seines Herren zu. Also hatte ihn jemand bei der Jagd beobachtet und die Kunde verbreitet. Blitzschnell machte er Kehrt und rannte davon. Möge dies mein Abschiedsgeschenk an dich sein, grausamer Mann. Ich weigere mich, dieses Leben weiterhin zu führen. Seine flinken Pfoten trugen ihn weit fort von dem Mann, der ihn in den Wäldern gefangen hatte. Wie viele seiner Artgenossen mochte dieses Schicksal inzwischen ereilt haben? Mag sein, dass ich des Nachts einer von euch bin, doch ich werde euch Menschen nie verstehen, dachte er traurig. Du sprachst wahr: Ich bin ein Narr und werde es bleiben. Mir wird nie klar werden, warum ihr alles zu unterjochen sucht. Pflanze, Tier und sogar euresgleichen. -- Das Bild verschwamm vor meinen Augen. „D-das ist deine Art Geschichten zu erzählen?“ flüsterte ich fasziniert, während Rick erneut den Pinsel schwang, um die Szene zu wechseln. „Sieht so aus“, sagte er verlegen. „Ronga hat mir zwar gesagt, dass die Geschichten sehr... echt sind... Aber davon, dass es so sein würde, hat er nichts erzählt.“ Vor uns erschien ein neues Bild. „Woher weißt du, was du malen musst?“ fragte ich. Rick lachte. „Ich weiß nie was es wird. Ich mal’s einfach.“ Plötzlich wackelte alles um uns herum. Mir fielen verschiedene Filme mit diesem Effekt ein, doch keine Kameraführung konnte ein so wirkliches Bild vermitteln wie dieses. Wir verschmolzen förmlich mit Rongas Perspektive. -- Unter ihm raste er Boden vorbei, drehte sich mal wild im Kreis, verschwand ein anderes Mal völlig, um dann viel zu grell und scharf wieder aus dem Nichts zu erscheinen. Er schloss die Augen und verließ sich lieber auf seine anderen Sinne, die sowieso weit besser funktionierten als seine Augen. Er spürte die eiligen, kraftvollen Schritte seines Trägers, hörte seinen flachen, doch ausdauernden Atem und das Klatschen nackter Füße auf dem Grund. Schwindel erfasste ihn und er krallte sich hilfesuchend an dem Mann fest, auf dessen Schulter sein Körper lag. „Ruhig, Junge“, keuchte dieser. „Halt still, sonst kann ich dich gleich nicht balancieren.“ Plötzlich veränderte sich der Takt der Schritte, wurde ausgreifender, gedehnter. Tapfer widerstand Ronga dem Drang, sich noch stärker festzukrallen, als er mit einem Mal gar keine Schritte mehr hörte. Zeitgleich erfasste ihn eine unglaubliche Hitze. Die Luft schien aufgeladen mit einer ihm fremden Energie. Ein unbekannter und doch altvertrauter Geruch drang ihm in die Nase. Feuer, zusammen mit uralter Erde und einem Hauch Mensch. Zwei Hände schoben den Wolf nach hinten, während der Körper unter ihm sich in die Wagerechte legte. Er fand sich auf dem Rücken seines Trägers wieder. „Rühr dich nicht, sonst fällst du herunter. Wir sind gleich da. Sicherlich findet sie ein Heilmittel für dich.“ Vorsichtig schlug Ronga die Augen auf, um sie gleich darauf wieder angstvoll zu schließen. Ein langgezogenes Winseln erklang, als ihm klar wurde, dass sie flogen. Er kauerte auf dem Rücken eines Drachen. Oder waren das Halluzinationen von dem Gift? Verschwommen erinnerte er sich daran, beim Laufen in eine Art Trance gefallen zu sein. Er hatte nicht mehr genau darauf geachtet, wohin er rannte. Normalerweise war das auch nicht nötig, doch dieses Mal hatte ihn etwas gebissen. Seine Beine waren augenblicklich taub gewesen. Nach und nach hatte sich diese Taubheit dann ausgebreitet. Er war in den fiebrigen Zustand verfallen, in dem er sich jetzt befand. Es war bereits Nacht als er endlich wieder klar denken und sehen konnte. Von dem furchtbaren Fieber war nichts mehr zu spüren. Man hatte ihm etwas eingeflößt und ihn dann schlafen lassen. Das hatte wahre Wunder gewirkt. Er sog den Duft des Strohs ein, auf dem er lag, bewegte vorsichtig die Gliedmaßen seines nun menschlichen Leibes. Sofort schreckten die Hände zurück, die ihn bis dahin gepflegt hatten. „Ihr seid wach“, sagte die junge Frau neben ihm in ängstlichem und zugleich fröhlichen Ton. „Was bin ich froh. Ich hatte große Zweifel, ob meine bescheidenen Künste genügen würden.“ Ihre Stimme... Noch nie war er so dankbar für seine guten Ohren gewesen. Wie mochte die Witterung sein, die zu diesem wunderschönen Klang gehörte? Er setzte sich auf und beugte sich vor, bis seine Nase sich in ihrem goldenen Haar vergrub und fast ihren Hals berührte. Ein seltsames Aroma erreichte ihn. Er roch Lavendel und den süßen Geruch, den weibliche Menschen besaßen, sofern sich ihm da Vergleichsmöglichkeiten boten. Das Gegengewicht bildete der Geruch von Erde und Feuer, der ihm schon auf dem Flug hierher zugeweht worden war. „Einhalt!“ rief sie erschrocken. Hastig sprang sie auf und entfernte sich von ihm. „Ich bin bereits vergeben!“ Ronga lächelte verlegen. „Verzeiht“, stammelte er. „I-ich bin den Umgang mit Menschen noch immer nicht gewohnt. Ja, Ihr seid vergeben. Ich kann den Drachen an euch riechen, der mich herbrachte. Den Teufel werde ich tun ’s ihm zu danken, indem ich ihm das Weib nehme.“ Erleichtert lachte sie. „Vergeben und vergessen. Der Name des Drachen ist übrigens Kariyuu. Mein Name ist Lavande.“ „Vielen Dank für Eure Hilfe. Ich bin Ronga“, entgegnete er. „Ihr könnt euch ruhig wieder setzen. Entgegen der landläufigen Meinung bin ich kein nach Blut dürstendes Monster. Es besteht also kein Grund zur Furcht.“ Lavande? Das sollte Luv sein? Ich betrachtete sie genau und schüttelte fassungslos den Kopf. Dieses durch und durch gutmütige Wesen und der grausame Engel, den ich kannte waren niemals ein und dieselbe Person. Ich erkannte ihr Gesicht und auch die Stimme gehörte eindeutig zu ihr, doch war beides bei dieser Frau völlig verändert. Die kühlen, unnahbaren Gesichtszüge, deren Zentrum die emotionslosen Augen bildeten, schienen hier warm und freundlich, strahlten geradezu Geborgenheit aus. In der Stimme fehlte der harte, verletzende Unterton, der einen voller Furcht auf die nächsten Worte warten ließ. Ihr Klang war melodisch und weich. Zwischen den beiden Lachen der Frauen lag eine Entfernung so groß wie zwischen Himmel und Hölle. Falls das jemals Lavande gewesen war, musste diese Zeit Jahrhunderte zurückliegen. Wenn nicht gar Jahrtausende, denn die beiden sprachen in der alten Sprache, die auch auf Ricks Zettel gestanden hatte. Immer noch bewirkte Ricks Beschwörung, dass ich jedes Wort verstand. Wann mochte man so gesprochen haben? Und wo? „Man erzählt sich über uns menschliche Drachen und euch Nachtwölfe Ähnliches“, schaltete sich Rongas Retter in das Gespräch ein. Meine Hände begannen zu zittern, als ich sah, dass er mir wie aus dem Gesicht geschnitten war. Rick bemerkte nichts. Die Welt, die er mit dem Pinsel schuf, hatte ihn vollkommen in sich aufgesogen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals einen von Euch zu Gesicht bekommen würde“, meinte Lavande und betrachtete Ronga mit kindlicher Neugierde. „So wie ich nie daran dachte, von einem Menschen gerettet zu werden“, gab Ronga voller Dankbarkeit zurück. „Engel“, berichtigte Kariyuu. „Doch auch unter den verängstigten Menschen gibt es solche und solche.“ Rongas Augen weiteten sich. „Aber ich dachte zwischen Engeln und Drachen wäre ein Streit ausgebrochen, wegen der Drachen Rohheit.“ „Wegen einiger dummer Missverständnisse. Ja, der Krieg zwischen unseren Völkern tobt immer noch. Ein Königreich für einen geschickten Diplomaten, der das alles endlich aufklären könnte.“ Ein Schleier legte sich über Lavandes Gesicht, als ihr Lebensgefährte dies sagte. Hastig wechselte sie das Thema. „Waren es auch Missverständnisse, die Euch so zurichteten?“ Ronga sah an seinem nackten Oberkörper herunter und wünschte sich sein schwarzes Fell vom Tage herbei. Seine Haut war bedeckt mit roten Striemen. Die jüngsten von ihnen hatte Lavande gesäubert als er aufgewacht war. „Das war meine Torheit“, gestand er leise. „Ich lebe seit sieben Jahren im Dienst meines jetzigen Herrn und nie war ich fähig, seine Arbeiten annähernd zufriedenstellend zu verrichten. Seine Anweisungen sind...“ Ungenau, wollte er sagen, brach jedoch ab und sah zu Boden. „Ich bin wohl bloß zu dumm, um den Mann zu verstehen. Schließlich beging ich auch noch die Dummheit eines seiner Tiere zu reißen. Ich werde den Vorurteilen der „reinen“ Menschen bestens gerecht.“ Kariyuus Miene verfinsterte sich. Er schnaubte verächtlich, wobei ihm eine kleine Zornesflamme entwischte. Reflexartig schickte Lavande eine Wassermagie aus und löschte das Feuer, bevor es irgendetwas verbrennen konnte. Der Drache räusperte sich. „Verzeihung“, grinste er. „Ein Wunder, dass unser Holzhaus noch steht bei deinem Temperament“, spöttelte sie. Alle drei lachten. Sogleich wurde Kariyuu jedoch wieder ernst. „Ihr kennt die Strafe, die euch erwartet?“ Ronga nickte. Er wusste, dass man den Tod des Kalbes mit seinem, Rongas, Leben vergelten würde. Das allein empfand er nicht als schlimm. So war der Lauf der Dinge, doch die Folter, die dem vorangehen würde, fürchtete er mehr als alles, was er kannte. „Dann bleibt hier und versteckt euch, bis ich die Nachricht verbreitet habe, ihr wärt verstorben.“ Überrascht stöhnte Ronga auf. „Das ist wirklich großzügig, aber...“ „Widerspruch ist zwecklos, mein Freund“, schnitt der Drache ihm das Wort ab. „Ihr bleibt und Ihr werdet den Unfug vergessen, den dieser Mensch Euch an den Kopf warf. Mir macht ihr nicht den Eindruck, als wärt ihr in irgendeiner Weise begriffsstutzig. Ganz im Gegenteil.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)