Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 5 --------- „Hey, Junge, alles in Ordnung?!“ Jemand schüttelte mich. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Die Sonne stand schon fast im Zenit. Ich hatte bis Mittag auf dem Dach gelegen und geschlafen. Meine Flügel waren verschwunden, aber meine Kleidung war dort, wo sie durchgebrochen waren total zerrissen. „Alles bestens“, sagte ich zu einem Mann mit grauen Haaren und grauem Kittel. Offensichtlich der Hausmeister des Gebäudes. Prüfenden Blickes betrachtete er mich. „Bist du n Straßenjunge?“ Kopfschüttelnd versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Ich war gefallen, weil ich Nick das Auge des Orion hatte abnehmen wollen und dann war ich geflogen. Mit einem Mal war ich Teil der magischen Welt, deren Existenz ich bis gestern trotz Ricks Wunderheilerqualitäten geleugnet hatte. Mir fiel ein, warum ich den Edelstein gebraucht hatte und kalte Schauer liefen mir den Rücken herunter. Nick hatte ihn immer noch. Die Spritze würde ausbleiben. Aber Moment! Ich zitterte nicht und mein Rücken fühlte sich zwar verspannt aber sonst völlig normal an. Schlagartig wurde mir klar, was das für eine Flüssigkeit gewesen war. Sie hatte verhindert, dass das, was in mir schlummerte und mich seit einem halben Jahr wahnsinnig machte ausbrechen konnte. Ich erinnerte mich daran, wie Ronga gesagt hatte, Nick würde mich von dem Zeug befreien. Durch sein Ungeschick. Jeder Teil seiner Prophezeiung war eingetroffen. Der Hausmeister starrte mich immer noch an, offensichtlich verwirrt. „Wie hast du es geschafft, durch die verschlossene Tür hier raufzukommen?“ Das würde ich ihm lieber nicht erklären. Stattdessen fragte ich zurück, ob ich einen Schluck Wasser haben könne. Danach würde ich mich auf den Heimweg machen. „Heimweg, ja?“ meinte der Hausmeister skeptisch. Ich nickte. „Ich muss nur mein Motorrad, finden und...“ Die Kawasaki! Ich hatte völlig vergessen, sie zu sichern! Sogar der Zündschlüssel hatte noch gesteckt! Das Wasser war vergessen. Blitzschnell war ich auf den Beinen, ließ den Hausmeister stehen und rannte zum Fahrstuhl. Als ich das Gebäude endlich wiedergefunden hatte, sah ich, was ich zu sehen erwartet hatte. Die Kawa war nicht mehr da. Resigniert ging ich zur selben Bushaltestelle, die mein Mitbewohner gestern noch benutzt hatte und fuhr nachhause. Dort angekommen wusch ich mich, aß und trank reichlich und hatte dann das plötzliche Bedürfnis, mir eine Packung Streichhölzer zu suchen und damit zu kokeln. Feuerzeuge konnte ich nicht ausstehen. Da war ich altmodisch. Es ging nichts über den leichten Schwefelgeruch eines entzündeten Streichholzes. Nach einer halben Stunde hatte ich die ganze Packung leergekokelt und mich immer noch nicht an dem Feuer sattgesehen. Ich kaufte mir neue Hölzer (im Vorratspack) sowie eine Tüte Teelichter und zündete alle Fünfzig davon auf einmal an. Als ich den gesamten Wohnzimmertisch mit den kleinen Kerzen vollgestellt hatte, fühlte ich mich endlich wohl genug, um an etwas anderes zu denken. Ich meldete mich auf der Arbeit krank, wo man mich bereits vermisst hatte. Es waren einige Anrufe für mich gekommen, also rief ich die Voicemail an. Ich hörte die Ansage. Wir formulierten sie in der Firma alle gleich: „Sie sind verbunden mit Kodansha Technologies, Sicherheitsabteilung. Arbeitsplatz Nummer 377, Kori Virgin. Zur Zeit ist niemand zu erreichen. Bitte teilen Sie uns Ihr Anliegen nach dem Piepton mit.“ Das Band kam nur bis Sicherheitsab-, dann hatte ich die rettenden vier Ziffern meiner PIN gedrückt. Wie ich diese Ansage hasste. Der Absender der einzigen Nachricht fand sie allerdings grandios. Bevor er zu Wort kam, begann er schallend zu lachen. „Oh mein Gott! Und ich dachte, mein Name wäre schlimm. Jungfrau!! Ich lach mich tot!“ Die nächste Lachsalve ließ darauf schließen, dass dazu wirklich nicht mehr viel fehlte. Zu meiner Freude verschluckte er sich irgendwann. Als er sich wieder beruhigt hatte, fuhr Nick fort: „Du hättest mir ruhig sagen können, dass du fliegen kannst. Ich meine, es wäre mir natürlich egal gewesen, wenn du Matsch gewesen wärst, aber du wärst auf deinem schönen Motorrad gelandet. Weißt du, wie ich mich erschrocken habe?“ Wann würde der arme Tropf die vergeblichen Versuche des Lügens aufgeben? „Wiiiie auch immer... äh... Ehe, du die Polizei rufst... äh... Ich hab sie mitgenommen als du nach über einer Stunde nicht wiedergekommen bist. Die stand da noch wegfahrbereit draußen... Der Stein ist auch noch hier. Aber wie ich schon sagte... Den gibt’s erst, nachdem du mir geholfen hast.“ „Aaaaah!“ ertönte es in meinem leeren Wohnzimmer. „Meine Kawa ist bei diesem Tollpatsch?!“ Dabei konnte ich froh sein, dass nichts Schlimmeres passiert war. Ich war sogar problemlos in meine Wohnung gekommen. Glücklicherweise gehörte ich zu den Menschen, die ihre Schlüsselbunde klein hielten. Den Zündschlüssel führte ich immer separat mit. In diesem Moment hörte ich einen weiteren Schlüssel. Es war später Nachmittag und Rick kam zurück von einem weiteren Minijob. Er schnüffelte hörbar. „Kori? Bist du da? Ich glaub, hier brennt was!“ Dann sah er den voll beladenen Wohnzimmertisch und die verkokelten Streichhölzer. Er pfiff anerkennend durch die Zähne. „Für welchen Damenbesuch gibst du dir denn so viel Mühe?“ „Ich erwarte keinen Besuch. Anscheinend bin ich heute selbst die Frau. Wenn’s nach mir ginge, könnten wir hier ein gigantisches Lagerfeuer machen. Warst du bei Ronga oder jobbst du jetzt in nem Tierheim? Hier riecht’s nach Hund.“ In diesem Moment kam ein gigantischer schwarzer Schäferhund leichtfüßig um das Sofa herumgelaufen. „Rick? Ich bin zwar nicht dein Vater, aber ich darf hier keine Haustiere halten. Wo immer du den her hast, bring ihn wieder zurück.“ Als hätte er mich verstanden, schüttelte sich der schwarze Hund heftig und ließ sich auf meinem zweiten Sofa nieder. Rick machte Anstalten, sich daneben zu setzen, doch mitten in der Bewegung hielt er plötzlich inne, murmelte ein leises „Okay“ und verzog sich in sein Zimmer. Merkwürdiger Junge. Aber offensichtlich Magiebewandert. Ich würde ihn später fragen, was es mit den Flügeln auf sich hatte. „Das wird nicht nötig sein“, sagte Rongas Stimme. Ich schrak zusammen und starrte den Hund entgeistert an. „Nun schau nicht so. Du hast doch mein Haus gesehen. Tagsüber gehe ich eben auf vier Beinen. Du fliegst ja neuerdings auch. Also, wo ist das Problem?“ „Dann warst du das gerade wirklich?“ Er schenkte sich die Antwort. „Es heißt übrigens Wolf. Nicht Hund. Ich mag das nicht.“ „So wie das mit dem Lügen, was?“ „Genau. Ich bin übrigens hier, weil ich noch was von dir bekomme.“ Er blieb todernst, was mich gehörig verunsicherte. „Als Wahrsager solltest du wissen, dass es nicht hier ist“, erwiderte ich trocken. „Ich werde ihn heute Abend holen.“ „Ich denke, es wird länger dauern, denn ich will nicht, dass du ihn stielst.“ „Soll ich dem Trottel vielleicht helfen, eine Frau herumzukriegen, die nie was von ihm wollen wird?“ Nicht länger als eine Schrecksekunde lang hatte ich das vorgehabt und Ronga wusste das offensichtlich. Sein Kopf wippte auf und ab. Das Nicken eines Werwolfes, der sich mit dem Timing vertan hatte. „Ich bin nur gekommen, um dich an meine Bezahlung zu erinnern.“ Seine Stimme klang bedrohlich. Äußerlich knurrte der Wolf nur leise, aber seine Kiefer blieben bewegungslos. Er musste zu irgendeiner mir unbekannten Form der Telepathie fähig sein, denn ich hörte ihn wirklich in meinem Ohr. „Du bist mir unheimlich“, teilte ich ihm mit. „Deswegen wirst du mich sicherlich für meine Weissagung von gestern entlohnen.“ Es gefiel ihm wohl, ein bisschen bedrohlich zu sein. „Aber vom Wie war nie die Rede“, beschwerte ich mich. „Du hast mir von Anfang an misstraut. Da hättest du dir denken können, dass die Sache einen Haken hat.“ Hörte ich da einen lachenden Unterton? Oh ja, ganz deutlich. Missmutig gelobte ich, Nick zu helfen, geleitete Ronga zur Tür und rief erneut meine Voicemail an, um Nicks Nummer zu bekommen. Ich landete bei seinem Pizzaservice und fragte mich zu ihm durch. „Hey, ich hab zwischendurch in der Firma nach dir geschaut, aber du hast dir wohl freigenommen.“ Woher nahm er diese entsetzlich gute Laune? „Wollte mein neugewonnenes Leben genießen. Eigentlich ohne dich“, gab ich zurück. „Aber wir haben da ja leider diese Abmachung.“ „Hat sich wohl gelohnt, den Stein zu behalten.“ „Jaja“ Du mich auch. „Heute ist Freitag. Da ist sie immer im Lethal Nightmarez. Kennst du das?“ Eine meiner Lieblingsadressen. Ausgerechnet da wollte ich mich nicht so gern mit ihm sehen lassen. „Wo ist sie die anderen Tage?“ „Keine Ahnung. Ich seh sie immer nur da. Ich fand es unfair, ihr hinterher zu spionieren.“ „Du meinst, du wolltest dich nicht durch irgendwelche Tollpatschigkeiten verraten.“ Ein Seufzen am anderen Ende. „24 Uhr an der Bar?“ „Sagen wir, ne Stunde früher. Das ist zwar uncool, aber man versteht wenigstens noch sein eigenes Wort.“ Künstlerpause. Dann: „Vielleicht brauchst du Einweisungen.“ „Ha-ha“ Er ärgerte sich. Ein kleines Erfolgserlebnis an diesem Tag. „Achso, und ich hol dich ab. Meine Kawa fährst du keine 100 Meter weit, solang ich das verhindern kann.“ „Mann... Da fällt mir ein... Wie hast du die so aufgemotzt, dass man damit so rasen kann? Und diese vielen Knöpfe...“ „Du hast ja wohl keinen davon gedrückt?!“ „N-nur einen“, beteuerte er. „Da kam Musik im Helm. Leider nur Metal...“ Glück im Unglück, dachte ich, ließ mir seine Adresse geben und machte mich auf den Weg. Ich musste über anderthalb Stunden mit der Hochbahn und dann noch eine ganze Weile Bus fahren bis ich endlich zu einer schmucken Villa am äußersten Stadtrand gelangte. Als ich das Haus sah, fühlte ich mich verarscht. Er war Pizzabote und er konnte nicht lügen. Wie hatte er es geschafft, mir diese Adresse als sein Zuhause zu nennen? Doch dann sah ich meine Kawa im Hof stehen. Auch das Klingelschild verriet mir, dass er nicht gelogen hatte. Meinem ohnehin angeknackstem Weltbild blieb ein weiterer Riss erspart. Also sammelte ich Nick ein und nahm ihn mit zu besagtem Club. Jener wurde hauptsächlich von Gothics und anderen schwarzgekleideten Menschen aufgesucht. Nick hatte sich an diesen Klamottenstil angepasst, wodurch er noch schlanker wirkte. „Isst du eigentlich genug, mein Junge?“, fragte ich ihn, als ich geparkt hatte. „Jaja“, machte er. „Ich kann auch nichts dafür.“ Es war noch nicht viel los. Die Tanzfläche war bis auf einige Mutige noch leer und an den Seiten waren noch einige Ecken mit Tischen frei. Ich ließ mich auf eine der Sitzbänke an der Wand fallen und sah mich um. „Normalerweise kommt sie erst später“, erklärte mir Nick. In diesem Moment fand ich sie an der Bar. „Ist sie das nicht, Blindfisch?“ fragte ich meinen Begleiter. „Wow, tatsächlich!“ Augenblicklich begann er, nervös zu werden. Er rutschte unruhig auf seinem Platz herum und knetete die Hände ineinander. „Sag mal... Du hattest aber schon mal ne Freundin, oder?“ „Ja“, versicherte er mir ungelogen. (Wie denn auch sonst?) „Die ist aber auf mich zugekommen.“ „Hatte wohl Mitleid“, vermutete ich und stand auf. „Ich hol uns was zu trinken. Wenn ich kann, bring ich sie mit.“ Zur Antwort zeigte er mir den Mittelfinger. Perfektes Teamwork. Dann konnte es ja losgehen. Ich bestellte zwei Drinks und näherte mich ihr möglichst unaufdringlich. Dann sprang ich ins kalte Wasser. Zwar hatte ich eine gewisse Routine, aber mein Herz schlug trotzdem etwas schneller, als ich sie ansprach: „Hey, ich weiß, das ist ne ziemlich abgewetzte Anmache, aber wenn ich dich frage, ob du öfter hier bist, kann ich wenigstens stolz sein, dass ich nicht gesagt habe, deine Augen wären so schön wie Sterne. Also: Bist du öfter hier?“ Wie erhofft, lächelte sie. „Jede Woche“, antwortete sie. „Hab dich sogar schon n paar Mal gesehen. Du bist jedes Mal mit ner Anderen weggegangen.“ Ihr Lächeln bekam etwas Gehässiges. „Ganz schön mutig, mir sogar n Drink mitzubringen.“ „Tut mir leid, deine heimlichen Hoffnungen enttäuschen zu müssen“, entgegnete ich streitlustig. „Aber der ist für meinen Kumpel da drüben. Er ist weder hübsch noch charmant, noch sonderlich klug, aber verglichen mit mir hat er dennoch einen entscheidenden Vorzug.“ Sie folgte meinem Blick und erspähte den immer nervöser werdenden Nicholas. „Und der wäre?“, fragte sie provozierend. „Im Gegensatz zu mir hat er ein Herz“, sagte ich. „Anscheinend hat er sogar genug Herz, mit jemandem wie dir hier herzukommen.“ „Erstaunlich, oder?“, grinste ich. Sie lachte. „Allerdings. Was gibst du ihm dafür?“ „Botengänge zur Bar und Verkupplungsservice. Hilfst du mir bei der Arbeit?“ „Na ja“, erbarmte sie sich. „Ich kann ihn mir ja mal ansehen. Solange du ihn verkuppelst, gräbst du immerhin keine naiven kleinen Mädchen an.“ „Ganz meine Meinung“, flötete ich, gab ihr nun doch einen Drink aus und führte sie zu unserem Sitzplatz, wo ich Nick seinerseits das Getränk vor die Nase knallte. „Dieser hier geht auf mich, aber mehr Mitleid werde ich nicht für dich aufbringen.“ „Sowas wie Mitleid hast du bestimmt gar nicht“, antwortete Nick erstaunlich schlagfertig. Nervös befeuchtete er seine Lippen als seine Angebetete sich an unseren Tisch setzte. „Hi“, sagte er kaum hörbar. „Hi, freut mich dich kennen zu lernen. Das erste Mal, dass du verkuppelt wirst?“ „KORI! Warum hast du ihr das gesagt?“ Sie beantwortete ihm die Frage an meiner Stelle: „Weil dadurch seine Anmache besser zog. Er sagte, du hättest ein Herz im Gegensatz zu ihm.“ Nick lachte schallend. „Das stimmt garantiert!“ Verschwörerisch grinsten sich die beiden an und waren zu meinem großen Erstaunen in Windeseile warm miteinander. Als Zettel mit Telefonnummern über den Tisch wanderten, klinkte ich mich aus und sah zu, dass ich aus dem Laden herauskam. Mir war nicht nach Feiern zumute. Das hatte ich zuhause mit der Packung Streichhölzer zur Genüge getan, fand ich. Draußen atmete ich tief die regenschwangere Luft ein und trödelte auf dem Weg zum Motorrad. Die kalte Dusche war eine Wohltat und der typische Regengeruch eine willkommene Abwechslung zu Smog und Benzingestank. Doch schließlich stieg ich auf die Maschine (sollte Nick doch zu ihr fahren, wenn er nachts nicht in seine Villa am Stadtrand kam) und freute mich nur noch auf mein warmes Bett und eine Mütze Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)