Lieb mich! von abgemeldet (YuKa) ================================================================================ Dämmerung --------- Es roch alt und ein wenig muffig, nach abgestandener Luft und faulenden Blättern. Die Stufen gaben leise unter Kais Füßen nach, als er hinauf ging. Ein ohrenbetäubendes Knarren bei jedem Schritt. Das Treppenhaus war mit Holz vertäfelt. Altem, brüchigem Schreinerwerk, das sich bei jeder Belastung erschreckend weit durchbog. Kein Wunder. Das große, klobige Mehrfamilienhaus war ein Altbau. Einer von der vernachlässigten, baufälligen Sorte, kein teuer restauriertes Exemplar für reiche Liebhaber. Zugig, mit Wasserflecken und Schimmel in den Ecken und Kanten, aber trotzdem war es zu gut erhalten und ursprünglich zu üppig und großzügig gebaut, als dass es sich eine einfache Studentin leisten konnte. Die Japanerin musste also irgendwoher genug Geld bekommen, um sich die Miete und die Lebenshaltungskosten leisten zu können, denn er wusste, dass ihre Mutter sie nicht unterstützen konnte. Der Gedanke hatte sich in seinem Kopf tief eingegraben, aber er hütete sich davor, nachzufragen, denn die Antwort war vorhersehbar - sie schwebte förmlich in der Luft – und nur ihre Unausgesprochenheit machte sie erträglich, also vergrub er den Gedanken einfach. Irgendwann, nach unzähligen knarrenden Stufen, blieb Asako vor einer der hohen Eingangstüren aus schwerem, dunklem Holz stehen und zog ein üppiges Schlüsselbund aus ihrer Tasche, ohne seine Hand loszulassen. Er sah die vielen bunten Anhänger, hörte das Klimpern des Metalls und das Schaben des Schlüssels im Schloss, aber in seinen Gedanken war kein Platz für die Bedeutung der Situation. Nicht weil ihn irgendetwas so intensiv beschäftigte, sondern ganz einfach, weil die Blockade in seinem Hirn keinen einzigen klaren Gedanken mehr zuließ. Die Tür öffnete sich und er trat ein, behutsam hinter ihr her, von ihrer Hand gezogen, die so dürr und zerbrechlich in seiner eigenen wirkte. Einen Moment erhaschte er einen Blick auf das Innere ihrer Wohnung, als sie die Tür wieder ins Schloss schob und er sich kurz umschaute – ein schmaler Flur mit nacktem, ausgeblichenem Dielenfußboden und vier dunkle Zimmereingänge – dann wurde er unsanft gegen die kastanienbraune Eingangstür gestoßen. Sie stand auf ihren hohen Stilettos und musste dennoch ihren Hals ein wenig recken, um auf eine Höhe mit ihm zu gelangen. Ihre mandelförmigen Augen, die in der Dunkelheit fast schwarz waren, bohrten sich fest in seine und ihre schmalen Lippen kamen seinem Gesicht so nah, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte, als sie sprach. „Warum bist du hier, Kai? Warum bist du mitgekommen?“ Sie flüsterte nur, mit gepresster Stimme, als müsse sie sich anstrengen, um nicht zu schreien oder zu weinen oder zu fluchen. Diese Szene kannte er. Es war genau wie damals, als sie in einem Team gewesen waren. Auch da war sie über ihn hergefallen, hatte ihn gegen die Wand gedrückt und ihn geküsst. Einfach so, ohne Vorwarnung. Jetzt küsste sie ihn nicht. Sie starrte ihn nur an, mit diesem aufgebrachten Funkeln in den Augen. Sie hatte ihn nicht vergessen. Natürlich nicht. Er hatte sie damals abgewiesen, hatte ihr auf den Kopf zugesagt, dass er sie verachtete für ihre Lügen und Betrügereien und für ihr Selbstmitleid. Wie sollte sie jemanden vergessen, der sie so schonungslos abgefertigt hatte? Frauen vergaßen so etwas nicht. Niemals. Im Gegenteil. So hatte er sich in ihr Gehirn eingebrannt, als der einzige, der ihrem Charme widerstanden hatte. Eine Beleidigung, eine Herausforderung. Sie wollte ihn. Er konnte es spüren. Sah das Verlangen, das sich hinter der Wut in ihren Augen verbarg, spürte das Zittern ihrer Hände an seinem Mantelkragen. Und ohne zu wissen warum, war diesmal er derjenige, der sich vorbeugte und seine Lippen ohne Warnung auf ihre drückte. Der Schwung und der Schreck und die wackeligen Absätze ließen sie rückwärts stolpern und da er seine Arme um sie gelegt hatte, wurde er mitgezogen. Haltlos und ungelenk, bis sie gemeinsam gegen die andere Wand stießen. Die junge Frau gab einen kurzen Schmerzlaut von sich, als sie mit dem Kopf unsanft an die weiße Tapete stieß und für einen Augenblick war Kai wieder wach, ließ von ihr ab und sah sie unsicher an, mindestens genauso verwirrt wie sie selbst. Da war etwas in ihren Augen, in ihrer Verblüffung. Ihr süßliches Parfum hing in seiner Nase und vernebelte seine Sinne. Ihre Finger, die ihn unwillkürlich losgelassen hatten, um Halt zu suchen, krallten sich in die raue Wand. Sie bebte, ihr ganzer Körper bebte und ganz besonders ihre rot geschminkten Lippen zitterten vor Aufregung, vor Erstaunen, vor Schreck und vor Verlangen. Sie starrten einander an, beide unsicher, ob er das ernst gemeint hatte. Ihr Mund öffnete sich ein wenig, als sie endlich genug Mut gefasst hatte, um ihre Sprache wieder zu finden, aber bevor die Worte tatsächlich hervorkommen konnten und so den merkwürdigen Moment auseinander gerissen hätten, beugte er sich wieder vor. Langsamer diesmal. Kurz vor ihren Lippen machte er Halt. Es war eine Frage, ein Angebot, kein Überfall mehr. Und sie nahm das Angebot an. Sie küssten einander verwirrt und vorsichtig, wussten beide nicht, was sie von der ganzen Situation halten sollten, aber dann wurde der Kuss inniger, intensiver, intimer. Ein leiser Seufzer entwich der Japanerin, als sie sich für einen Moment wieder trennten, um sich anzuschauen. „Kai…“, setzte sie an, den Kopf noch immer an die Wand gelehnt, doch sie wusste nicht, was sie weiter sagen sollte. Er wusste es. Seine Wange strich an ihrer entlang, bis seine Lippen sanft an ihr Ohrläppchen stießen. Ein erregtes Zittern lag in seiner Stimme, genau wie in ihrem ganzen Körper, als er die drei Worte flüsterte, von denen er wusste, dass sie sie wahnsinnig machen würden. „Ich will dich…“, wisperte er in ihr Ohr. Sie musste tief einatmen, um sich wieder zu fassen, erst dann konnte sie sein Gesicht in die Hände nehmen und ihn mit sich in den nächsten Raum zu ziehen. Es war die Küche, um das zu erkennen war sein Verstand noch klar genug. Auf der schmalen Arbeitsfläche standen noch Teller und Besteck vom Mittagessen und ein Tablett mit Gewürzen und Ölen, aber als er sie hinauf hob, schob Asako einfach alles mit einer unwirschen Armbewegung in die Spüle ohne die andere Hand aus seinem dunklen Haar zu lösen. Es klirrte und schepperte als einige der Flaschen im metallenen Spülbecken aufschlugen, doch das störte sie nicht. Sie nahmen es eigentlich kaum wahr. Sie knöpfte hastig, mit geübten Griffen seinen Mantel auf und zog ihn von seinen Schultern, während er ihr das eng anliegende Top über den Kopf zog und es achtlos neben seinem Mantel auf die kalten Fliesen des Küchenfußbodens fallen ließ. Die Welt um sie herum existierte einfach nicht mehr. Ein leises Rascheln machte die undurchdringlichen Träume ganz unmittelbar transparent. Stück für Stück sickerte die Wirklichkeit durch. Der Untergrund auf dem er lag veränderte sich ein wenig und plötzlich war die Wärme auf seinem Brustkorb weg. Die Dielen knarrten leise, auch wenn der Teppichboden die Schritte dämpfte. Kai öffnete die Augen und sah gerade noch, wie eine blasse Gestalt das Wohnzimmer verließ und vorsichtig die Tür wieder schloss. Seine Hand tastete nach der kleinen Stehlampe neben seinem Kopf und schaltete das Licht ein. Auf dem weißen Teppichboden, nur ein paar Schritte vom Sofa auf dem er lag entfernt, lagen seine Boxershorts und seine Hose zerknüllt auf dem Boden und daneben der Minirock, den Asako am Abend zuvor getragen hatte. Alles andere musste noch in der Küche liegen. Er stand auf, sein Kopf schmerzte fürchterlich. Alles in ihm sehnte sich plötzlich danach, dass Asako zurückkam. Solange sie bei ihm war, konnte er das Geschehen auf der Herrentoilette der Disco einfach vergessen. Sie tat ihm erstaunlich gut und eine leise Stimme in seinem Hinterkopf wisperte, dass sie ihm vielleicht helfen konnte, über Yuriy hinwegzukommen. Es war egoistisch und nicht ganz fair ihr gegenüber, aber sie wirkte wie ein Heilmittel. Vielleicht hatten sie sich auch einfach in der vergangenen Nacht das Hirn aus dem Schädel gefickt. Gut möglich. Sie brauchte erstaunlich lange. Sein Blick fiel auf die digitale Uhrenanzeige des Videogeräts. Es war zehn Minuten nach zwei. Durch die Schlitze in den Jalousien fiel kein Licht, also war es noch nachts. Was machte sie so lange? Als er in die Stille horchte, in der Hoffnung einen Hinweis zu finden, hörte er endlich die Stimmen. Sie waren leise und gedämpft, aber da sprach jemand in der Wohnung. Und zwar ein Mann. Seine Kopfschmerzen waren schneller verschwunden, als er das Wort überhaupt hatte denken können. Er sprang auf die Füße und schlüpfte hastig in seine Unterwäsche und seine Hose. Dann durchquerte er den Raum so lautlos er konnte. An der Tür fand er seine Socken und seine Schuhe und zog sie an. Im Flur knarrten die Dielen ein wenig unter seinen Füßen, aber das störte nicht sonderlich, denn mittlerweile war das leise Flüstern in der Küche zu einem lautstarken Wortgefecht ausgeartet. Durch die Tür konnte er so gut wie jedes Wort verstehen. Der Mann, mit einem feinen Lispeln in der tiefen Stimme, sprach hitzig, erzürnt vielleicht, während das Mädchen immer verzweifelter versuchte, sich zu verteidigen. „Jacob, bitte! Ich weiß, dass es dumm war, es tut mir Leid!“ Darauf schrie er ihr etwas entgegen, doch sein Lispeln, sein aufgeregtes Haspeln und die hölzerne Barriere zwischen Kai und dem Sprechenden verzerrten die Silben bis zur Unkenntlichkeit. Vielleicht war er auch einfach in eine andere Sprache verfallen. „Ich habe dich nicht betrogen!“, kreischte die Japanerin verzweifelt auf, „das würde ich nie tun, du weißt es!“ Es gab ein platschendes Geräusch und ein dumpfes Rumpeln. Asakos Stimme schluchzte erschrocken auf, dann war es kurz wieder stumm, bis der fremde Mann – ihr Freund? Dafür schien seine Stimme viel zu alt – so überdeutlich wie er es vermochte, einen einzigen Satz formulierte: „Ich war die ganze Zeit in deinem Schlafzimmer.“ Beim nächsten Satz war seine Stimme wieder zu leise, um bis zu dem heimlichen Zuhörer hinter die Tür zu dringen, aber der wusste, dass es nicht das Wetter war, worüber gesprochen wurde. Ein schwerer Schritt auf den kleinen Küchenfliesen und Asako schrie wieder auf, diesmal nicht wortlos vor Schmerz, sondern aus Angst: „Nein! Jacob, bitte! Lass ihn! Er wusste nichts davon, bitte- Nein!“ Ein weiterer Schritt und noch einer, jetzt fing sie an zu wimmern. „Jacob!“ Endlich begriff Kai, dass es um ihn ging und dass der Mann – Jacob unangenehme Pläne für ihn hatte. Sein Blick glitt hastig durch den Flur, auf der Suche nach einer Waffe oder etwas anderem, das ihm vielleicht behilflich sein konnte, doch da war nichts. Kein Schürhaken, Knüppel oder Kerzenständer. Nicht einmal ein Stuhl, dem er das Bein hätte stehlen können. Was sollte er tun? Er wusste nicht einmal wo das Telefon stand. Die Tür – Hilfe. Er musste loslaufen und Hilfe holen, wenigstens ins Treppenhaus brüllen! Jacob und er öffnete beinahe gleichzeitig Küchen- und Wohnungstür, aber der aufgebrachte Wüterich reagierte schneller. Außerdem hatte er etwas, das Kai nicht hatte: Einen schweren Gegenstand mit großer Reichweite. Was auch immer es war, es kollidierte so fest mit dem Kopf des Flüchtenden, dass es ihn buchstäblich von den Füßen riss und er mit einem unartikulierten Seufzer zu Boden stürzte. Einen Spalt breit öffnete Kai seine Augen und erkannte nur unförmiges Halbdunkel. Er fror so sehr, dass er seine Füße und Hände und sein Gesicht kaum zu spüren glaubte. Seine tauben Finger tasteten sich durch das zerzauste Haar zu der Stelle am Hinterkopf, an der er selbst jetzt noch mit eisigen Fingern die kahl verkreuzten Striemen der Narbe spüren konnte. Im Halbdunkel neben ihm zeichneten sich menschliche Konturen vor dem Schatten einer Wand ab. Er tastete zitternd nach dem Gesicht direkt neben ihm und strich über das stoppelige Kinn und die Wangen. Der andere murmelte etwas vor sich hin, nahm die kalte Hand aus seinem Gesicht und hielt sie an seine Lippen, sodass der warme Atem sie sanft umhüllte. Auch ihm war kalt, daran gab es gar keinen Zweifel, so sehr wie der Wind durch die schwach erleuchteten Risse, Spalten und Löcher des Scheunentores pfiff. Das Heulen und Klagen hatte sie am Abend in den Schlaf begleitet und nun hieß es sie auch am Morgen gleich wieder willkommen. Wahrscheinlich würden sie auch noch eine ganze Weile von ihm begleitet werden. „Wie spät ist es?“, nuschelte der Rothaarige durch ein ausgiebiges Gähnen und reckte langsam seine Arme empor, um die müde Starre aus seinen Gelenken und Muskeln zu vertreiben. Kai kramte die lilafarbene Uhr mit dem bunten Plastikarmband, die ihnen an einem Bahnhofsstand in einer österreichischen Kleinstadt zugefallen war, aus der Hosentasche und warf einen prüfenden Blick darauf. „Es ist halb neun.“, stellte er fest und verbarg das kunterbunte Ding wieder in seiner schmutzigen Jeans. Dann stand er auf und klaubte ihr weniges Hab und Gut zusammen ohne von dem selbstmitleidigen Gejammer seines Freundes Notiz zu nehmen. Erst als er bereit zum Aufbruch war und der andere noch immer am Boden lag, seinen Mantel eng um den Körper geschlungen und den Kopf auf seine funkelnagelneue Umhängetasche vom Flohmarkt gebettet, sagte er abfällig: „Ich werde jetzt gehen. Wenn du wieder alleine sein möchtest, kannst du bleiben, aber wirf mir dann nicht wieder vor, dass ich dich verlassen hätte.“ „Was ist los?“ Auf Yuriys Stirn erschien eine tiefe Furche. Ihn traf die Feindseligkeit sehr unerwartet. „Hast du ein Problem?“ „Ich hab schlecht geschlafen.“ Damit wandte er sich ab und ging, ohne dem anderen begreiflich gemacht zu haben, ob das eine Entschuldigung oder ein Vorwurf hatte sein sollen. Die Sachen waren in sekundenschnelle zusammengepackt und nach einem kurzen Sprint liefen die beiden wieder gleichauf. „Hattest du einen Alptraum?“ „Ich träume nicht“, war die schroffe Antwort, „ich erinnere mich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)