Die Rückkehr von Motzi_die_Katze ================================================================================ Kapitel 2: Blut ist dicker als Wasser ------------------------------------- Zitternd und frierend saß Lyon vor dem Schrein des Schwarzkristalls und notierte mit steifen Fingern einige Sachen. Es war nun ungefähr ein Monat seit Akeydas Aussetzer vergangen und mittlerweile fiel Schnee auf die Landschaft rings um den Tempel. Und natürlich fiel er auch auf den Tempel selbst und durch die Löcher und Ritzen in Dach und Wänden. Daher war es hier noch kälter als zuvor. Hatte Lyon zuerst nicht gewusst, welche Jahreszeit gewesen war, als er wiederbelebt worden war, so konnte er nun mit Gewissheit sagen, dass er einen sehr milden Herbst und einen eisigen Winter erlebte. Im Umkreis des Tempels gab es nichts, woran man die Jahreszeit feststellen konnte, alles war kahl und tot. Lechta hatte damit begonnen, in allen Räumen Feuer anzuzünden, doch das Einzige, das diese abgaben, war Rauch. Hinter Lyon trat nun Rochta in den Raum und rieb ihre Hände gegeneinander. "Wenn das so weitergeht," murmelte sie. "dann müssen wir den Tempel verlassen und woanders hingehen, solange der Winter dauert." "Wohin denn?," erwiderte Lyon. "Hier in der Nähe ist doch nichts." "Doch," meinte sie. "Etwa zwei Kilometer von hier entfernt liegt eine kleine Stadt mit Namen Demesom. Dort könnten wir unterkommen..." Lyon gefiel die Vorstellung nicht, den Tempel zu verlassen, jetzt, da er dabei war, den Schwarzkristall zu untersuchen. Außerdem wollte er lieber nicht darüber nachdenken, was Akeyda anstellen könnte, wenn er ganz allein mit dem Kristall wäre. Doch wie sich herausstellte, war diese Sorge unberechtigt, denn Akeyda machte sich zusammen mit Lechta daran, die Räume, in denen sie sich am häufigsten aufhielten etwas wohnlicher für die Wintertage zu machen und einen Großteil der Löcher im Dach und in den Wänden zu verschließen, die kleineren mit Heu und die größeren mit schmalen Holzbrettern. So war es denn doch machbar, dass sie alle während des Winters im Tempel bleiben konnten. Lechta trieb einige Knäuel dicker grauer Wolle auf, aus der sie für Lyon und Rochta Mützen, Handschuhe und Westen strickte. Diese waren auch bitter nötig, denn obwohl es durch das Dichtmachen der Löcher und Ritzen wärmer geworden war, wurden nur die Räume beständig warm gehalten, in denen sich die vier Bewohner des Tempels am häufigsten aufhielten. Das bedeutete, dass man ohne entsprechende Kleidung jämmerlich fror, wenn man einen Gang entlang lief. An diese wurde nämlich keine kostbare Wärme verschwendet. Es war am Abend eines besonders kalten Wintertages kurz nach Sonnenuntergang, als sie unerwarteten Besuch bekamen. Lyon war der Aufruhr am Eingang des Tempels natürlich nicht entgangen, dachte sich aber zunächst nichts weiter dabei. Akeyda jagte schließlich ständig Menschen vom Grundstück des Tempels weg. Doch dadurch, dass der Aufruhr länger dauerte als gewöhnlich wurde der Nekromant dann doch unruhig. Daher ging er zu dem Ausgangspunkt des Lärmes. Als er am Eingang des Tempels ankam, bemerkte er neben Akeyda, Rochta und Lechta noch drei andere Personen. Diese hatten genau wie Lechta und Rochta dunkelgraue Haare und sehr helle Haut, offenbar Angehörige ihres Volkes. Und nach der Mimik und Gestik der beiden Frauen zu schließen waren sie mit den Fremden ihnen gegenüber bekannt. Lyon nahm die drei fremden Gestalten in Augenschein. Die erste der drei Personen war eine Frau zwischen dreißig und vierzig Jahren, die zweite ein Mann in etwa demselben Alter und die dritte ein Junge von vielleicht gerade mal neun Jahren. Er bemerkte allerdings auch, dass die Stimmung zwischen den Beteiligten sehr angespannt war, so schüttelte Rochta zum Beispiel mehrmals heftig den Kopf, wobei sie es wohlweislich vermied, der Frau ihr gegenüber in die Augen zu sehen. Akeyda, der von den Beteiligten völlig ignoriert wurde, bemerkte Lyon und ging auf ihn zu. "Akeyda, was ist hier los?," fragte dieser besorgt. Der Drache seufzte und zeigte mit der Schwanzspitze auf die fremde Frau. "Seht Ihr diese Frau dort?," begann er. "Ihr Name ist Merchta. Und das da neben ihr sind ihr Mann und ihr Sohn." "Ja, aber warum streiten sie sich mit Lechta und Rochta? Sie kommt aus demselben Volk wie die beiden, das habe ich bemerkt. Aber..." Der junge Mann hob ratlos die Schultern. "Merchta...," fuhr Akeyda fort. "Merchta ist Lechtas Tochter." Einen Moment lang brauchte Lyon, um diese Neuigkeit zu verdauen. "Aber das heißt, sie ist...," murmelte er. "Richtig," stimmte der Drache zu. "Sie ist Rochtas Mutter." Fassungslos sah der Nekromant erst den Drachen und dann die Streitenden an. Das konnte doch gar nicht sein! Hatte Akeyda nicht selbst gesagt, dass niemand aus Lechtas und Rochtas Volk den beiden jemals an die Oberfläche folgen würde? Sein Freund schien zu wissen, was ihn so durcheinander brachte, denn der Drache sagte: "Laut Merchtas Aussage sind die Drei ebenfalls geflohen. Allerdings konnte ich nicht herausbekommen, warum, denn in diesem Moment ist Rochta erschienen und dieser Streit losgebrochen." Lyon sah zu Rochta hin und murmelte: "Das muss ihr wohl sehr zusetzen, nach so langer Zeit ihre Mutter wieder zu sehen..." "Nicht nur ihre Mutter," meinte Akeyda. "Auch ihren Vater und ihren Bruder, den sie überhaupt nicht kennt. Sie kann die Vorstellung nicht ertragen, dass ihre Mutter jetzt bei ihr und Lechta Unterschlupf suchen will, nachdem sie von ihr all die Jahre nichts zu hören bekam." "Und was ist mit Lechta?," fragte der junge Mann besorgt. "Es muss doch auch für sie wie ein Schlag ins Gesicht sein, ihre Tochter plötzlich vor sich zu sehen." "Aber im Gegensatz zu Rochta ist sie bereit, Merchta aufzunehmen." Der Drache starrte zu den anderen, bei denen sich das Gespräch allmählich ein wenig entspannte. "Rochta will davon allerdings nichts wissen. Für sie ist ihre Mutter gestorben und nur eine schmerzliche Erinnerung an früher. Sie will nicht, dass diese Frau in ihrer Nähe ist. Oder zumindest behauptet sie das." Lyon sah ihn schweigend an. "Es ist der Wunsch eines jeden Lebewesens - aber vorrangig der der Menschen - Anerkennung und Zuneigung von seinen Eltern zu bekommen," fuhr Akeyda fort. "Und das Seltsame daran ist, dass es für ein Lebewesen wichtiger ist, diese von den leiblichen Eltern zu bekommen und nicht von Zieheltern. Immer wenn Menschen herausfinden, dass sie nicht von ihren leiblichen Eltern erzogen wurden, wollen sie wissen, warum. Irgendwie ist ein ungeschriebenes Gesetz im Kopf vieler Lebewesen verankert, dass die eigenen Eltern einen immer viel mehr lieben müssen als Pflege- oder Großeltern." "Stimmt das denn nicht?," fragte der Nekromant und sah zu, wie Rochta völlig aufgelöst ins Innere des Tempels stürmte. "Ihr Menschen sagt: 'Blut ist dicker als Wasser.'," meinte sein Gesprächspartner. "Das bedeutet, dass die blutsverwandten Verbindungen stärker sind als alles andere. Doch oft setzen Eltern ihre Kinder einfach aus, wohl wissend, dass diese sterben werden, wenn niemand anderes sie findet. Oder sie bringen sie gleich um. Anders herum töten Kinder auch des Öfteren mal ihre Eltern, um so früher an ihren Erbteil zu kommen. Im Grunde ist es so, dass man Liebe wirklich nicht daran festmachen kann. Viele Menschen, die nach ihren wirklichen Eltern gesucht haben, mussten bittere Enttäuschungen ertragen, wenn sie feststellten, dass sie nur weggegeben wurden, weil sie ihren Eltern ungemütlich wurden." "Und wie ist mit Merchta?" Lyon sah zu der Frau, deren Gesicht nach Rochtas Flucht einen leichten Ausdruck von Trauer angenommen hatte. "Ihr habt mir gesagt, dass es in Rochtas alter Heimat verboten war, dass Eltern ihren Kindern gegenüber viel Zuneigung zeigten." "Ja, das stimmt," erwiderte der Drache. "Und ich habe keine Ahnung, inwiefern das freiwillig oder gezwungenermaßen bei Merchta so war." Lyon und Lechta brauchten lange, um Rochta dazu zu bringen, die Anwesenheit ihrer Eltern und ihres Bruders hier zu akzeptieren und etwas Essen zu sich zu nehmen. Allerdings wechselte sie kein Wort mit ihren Eltern, obwohl vor allem ihre Mutter sich um ein Gespräch mit ihr zu bemühen schien. Auch Lechta war nicht sonderlich angetan davon, dass Merchta da war, daher versuchte Lyon zu vermitteln und eine einigermaßen entspannte Atmosphäre aufzubauen. Leider weitestgehend vergeblich. "Lasst ihnen Zeit, Lyon," meinte Akeyda, als sich der Nekromant entnervt seufzend neben ihn setzte. "Das ist ziemlich schwierig für sie alle." Lyon nickte. Vermutlich würden seine Versuche zu helfen alles noch schlimmer machen. Er war ein Fremder und konnte den Schmerz und die Bitterkeit, die seit Jahren zwischen diesen Leuten herrschten, nicht nachvollziehen. Die Tagen vergingen, ohne dass sich irgendetwas Nennenswertes zwischen Rochta und ihren Eltern geändert hätte, weder zum Guten noch zum Schlechten. Die Fronten waren hoffnungslos verhärtet und wann immer Rochta die Möglichkeit dazu hatte, verschwand sie aus den Räumen, in denen sich ihre Eltern - vorrangig ihre Mutter - aufhielten. Schließlich versuchte Lyon mit Rochta zu reden und eine Annäherung zu bewirken. "Ich danke Euch, Meister Lyon, dass Ihr Euch solche Sorgen um mein Seelenheil macht, aber es geht mir wirklich gut," meinte sie dazu nur. "Wirklich?," erwiderte er. "Ihr wirkt so bedrückt, seit Eure Familie hierher gekommen ist..." Rochta lachte trocken auf. "Ist das nicht verständlich?," fragte sie. "All die Jahre habe ich versucht die Existenz meiner Mutter zu vergessen. Und auch die Tatsache, dass dort unten die Regel gilt, dass Zuneigung nur Schwäche bedeutet. Und jetzt steht sie plötzlich vor mir, zusammen mit meinem Vater und einem Bruder, von dem ich gar nichts gewusst habe." "Ist das denn so seltsam?," wollte Lyon wissen. "Ihr habt schließlich schon seit Jahren nichts mehr von ihnen gehört, oder nicht?" Die junge Frau seufzte schwer. "Ja...," antwortete sie. "Ja, das mag wohl stimmen. Aber es ändert nichts daran, dass ich mehr oder weniger abgeschoben wurde. Merchta selbst hat nicht meine Rückkehr zu ihr von meiner Großmutter verlangt, das war die Verwaltung dort. Es ist ihr doch ganz offensichtlich egal!," fügte sie in lauterem Tonfall als zuvor hinzu. Rasch wandte sie den Kopf ab, doch Lyon sah, dass sie weinte. "Wenn ich ihr irgendetwas bedeutet habe, warum wollte sie mich dann nicht bei sich haben?," sagte sie mit bebender Stimme und mehr zu sich selbst. "Ich habe gesehen, wie die Menschen hier oben sich um ihre Kinder kümmern. Hier gibt es nichts Ungeliebtes, nichts Abgeschobenes..." "Da irrt Ihr Euch, Rochta," erwiderte der Nekromant leise. Überrascht drehte sie sich zu ihm um. Er lächelte traurig und fuhr fort: "Vielleicht habt Ihr nur solche Beispiele gesehen, doch die Wahrheit ist, dass hier auch nicht alles rosarot ist. Wir sind hier auch oft allein. Manche Eltern haben überhaupt keine Zeit für ihre Kinder, weil sie arbeiten müssen und diese Kinder fühlen sich dann einsam und vielleicht auch im Stich gelassen, auch wenn sie es zum Teil nicht wirklich wahrnehmen, weil es nur in ihrem Unterbewusstsein vorhanden ist..." Er schwieg und sah zur Decke. 'Ja, auch ich habe mich so gefühlt...,' dachte er. 'Immer wenn Vater nicht da war und vor allem in den letzten Tagen seines Lebens.' Als er wieder zu Rochta blickte, sah er, dass sie ihn zweifelnd ansah. "Wenn Ihr mir nicht glaubt, Rochta," meinte er. "dann fragt Akeyda. Er wird Euch dasselbe erzählen." "Er sieht sowieso in allem nur das Schlechteste," erwiderte sie. "Aber was er erzählt, ist häufig leider die Wahrheit," antwortete Lyon. Rochta stand seufzend auf und sagte: "Wie dem auch sei... Ich gehe ein wenig spazieren." Damit war sie aus der Haupthalle gegangen. Wenige Minuten danach betrat Merchta den Raum, was Lyon allerdings erst bemerkte, als sie ihn ansprach. "Herr Lyon?," sagte sie. Lyon drehte sich um. "Merchta?" Verwundert sah er sie an. "Was möchtet Ihr?" Merchta antwortete nicht darauf, sondern fragte: "Kann ich mich setzen?" Der Nekromant blinzelte verdutzt, nickte aber. Sie setzte sich auf eines der Kissen, das Akeyda für Lyon in den Raum geschafft hatte, damit dieser nicht auf dem kalten, harten Boden sitzen musste. Auf diese Weise sah sie unweigerlich zu ihm auf und Lyon hatte den starken Verdacht, dass sie das absichtlich tat. Rasch setzte er sich auf ein anderes Kissen, um auf einer Augenhöhe mit ihr zu sein. "Was möchtet Ihr?," wollte er wissen. Sie antwortete nicht gleich. Stattdessen spielte sie mit dem Saum ihres Ärmels und knetete nervös ihre Finger. Lyon wartete geduldig, bis sie bereit war, zu sprechen. Schließlich seufzte sie tief, blickte zu ihm hin und sagte: "Wisst Ihr, Herr Lyon, Rochta war schon immer ein schwieriges Kind." Überrascht runzelte er die Stirn. Worauf wollte sie hinaus? "Bitte lasst mich jetzt einfach nur reden," beeilte sie sich zu sagen, als sie seinen verwirrten Blick sah. "Es fällt mir leichter, wenn Ihr keine Fragen stellt." Sie seufzte tief und fuhr dann fort: "Rochta wollte immer beosnders viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, viel mehr als es für Kinder in Eukarta üblich war. Aber bei uns ist es nicht üblich, dass man seinen Kinder besondere Sympathie entgegenbringt. Viele Familien dort bestehen aus so vielen Kindern, dass sie gar nicht alle in ein Haus passen, das meist nur aus einem Raum besteht. Aber im Allgemeinen legt sich das, denn über die Hälfte stirbt nach kurzer Zeit. In unserer Welt der Schatten sind wir selbst nicht mehr als das: Gefühllos, kalt, berechnend. Dem zum Trotz war Rochta anhänglich und sehr verschmust. Sie würde es also niemals in dieser Welt aushalten, wenn sie nicht genauso würde. Darum wurde uns aufgetragen, uns nicht mehr so intensiv um sie zu kümmern, als sie etwa zwei Jahre alt war." Den Moment, in dem sie Luft holte, nutzte Lyon, um zu fragen: "Aber hatte das denn keinerlei Auswirkungen auf Rochta? Das muss den Leuten doch aufgefallen sein!" "Natürlich hatte das Auswirkungen auf sie," gab Merchta zu. "Ihr Wortschatz war ziemlich gering und sie vergaß sogar Wörter, die sie schon gelernt hatte. Ich glaube, eine Zeit lang wusste sie nicht mal mehr, wie sie hieß." Sie blickte ihn traurig an. "Wir gingen natürlich zum Rat und wollten wissen, warum dem so war, aber alles, was sie uns sagten, war, dass das nur normal wäre, weil sie sich umstellen müsse. Andere Kinder würden genauso wenig sprechen, meinten sie und dass wir uns darüber nicht den Kopf zerbrechen müssten." Abermals begann sie damit, ihre Hände zu kneten. "Aber dabei blieb es nicht," fuhr sie fort. "Rochta wurde gereizt. Immer wenn wir etwas zu ihr sagten oder auch nur ein lautes Geräusch machten, wurde sie wütend und begann zu schreien. Einmal warf sie sogar mit einem kleinen Messer nach Kerta, meinem Mann. Da man mich beim Rat nicht anhören wollte, wandte ich mich an meine Mutter. Als ich ihr von der Sache erzählte wurde sie sehr wütend und ging zu Rochta. Uns schickte sie aus dem Haus. Schließlich kam sie mit Rochta auf dem Arm wieder heraus. Kerta wollte wissen, was das zu bedeuten hatte und Mutter meinte, dass sie das machen würde, in dem wir versagt hätten. Sie ging zu ihrem eigenen Haus, in dem sie seit Vaters Tod allein lebte. Bis Rochta fünf war, behielt sie sie bei sich und gewährte uns nur geringen bis keinen Kontakt mit ihr. Aber es machte sowieso keinen Unterschied. Kerta und ich stimmten darin überein, dass sich besser meine Mutter um Rochta kümmerte, da sie als die beste Heilerin in Eukarta eine gewisse Immunität gegenüber dem Rat genoss. So glaubten wir jedenfalls. Doch eines Tages standen plötzlich die führenden Ratsmitglieder vor ihrer Tür und forderten Rochtas Rückgabe zu uns. Wenn sie das nicht täte, so sagten sie, werde man sie, Lechta, töten." Merchta blickte ihm verzweifelt in die Augen. "Oh, Herr Lyon, ich schwöre, wir haben dem Rat nichts gesagt!," stieß sie verzweifelt hervor. In ihren Augen standen nun Tränen. "Wie hätten wir das auch tun können? Die Anweisungen des Rates hatten schließlich nur Leid verursacht." Sie verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte leise. Lyon wusste nicht, was er tun sollte, legte ihr aber tröstend eine Hand auf den Rücken. Nach einer Weile ebbten die Schluchzer langsam ab und sie richtete sich wieder auf. "Es war klar," fuhr sie nun mit ruhiger Stimme fort. "dass der Rat seine Drohungen wahr machen würde, wenn sie sich nicht fügte. Noch am selben Abend stand sie mit der schlafenden Rochta im Arm vor unserer Haustür. Erst dachten wir, sie wolle uns unser Kind wiedergeben, doch dann meinte sie, dass wir nicht so närrisch sein sollten. Sie sagte, dass sie mit Rochta zusammen an die Erdoberfläche gehen werde. Aber sie habe nicht vor, uns ihren Bestimmungsort zu verraten, allein schon, weil der Rat sonst hinter uns her wäre. Dann verschwand sie von der Bildfläche und am nächsten Tag ging eine Suchaktion los, die bis an die Erdoberfläche ging. Nach kurzer Zeit waren sie aber schon wieder zurück, ergebnislos und mit schlimmen Verbrennungen. Es sei ein Ding dort oben, behaupteten sie, das das Höllenfeuer auf all jene hinabsendete, die es wagten, in seinen Schein zu treten. Es sei außer Frage, dass Lechta und Rochta tot seien. Die Einzigen, die so etwas überleben könnten, wären Teufel. Es herrschte natürlich große Aufregung in unserem Volk, da sie sich dergleichen nicht vorstellen konnten. Mutter hatte uns allerdings erzählt, dass dieses 'Ding', das Höllenfeuer herabregnen ließ, Sonne hieß und in der oberen Welt für das Gedeihen aller möglichen Arten von Lebewesen verantwortlich sei. Nur für uns, die wir immerzu fern der Sonne im Dunkeln leben sei sie gefährlich." Merchta atmete tief durch. "Bei Ajta wollten wir es dann anders machen," erklärte sie. "Also haben wir die Anweisungen des Rates ignoriert. Das ging auch bis vor kurzem gut. Aber nun hat uns der Rat ein Ultimatum gestellt: Entweder wir übergeben Ajta an eine andere Familie, die ihn dann 'korrekt' erziehen soll oder wir wählen den Tod und lassen zu, dass auch Ajta als misslungener Mensch getötet wird. Nun, wir wählten eine dritte Variante, die wir uns selbst ausdachten: Wir gingen an die Erdoberfläche, auch auf die Gefahr hin, dass wir uns schlimme Verbrennungen zuziehen. Wir haben nicht erwartet, Rochta oder meine Mutter wiederzusehen." "Am besten Ihr erzählt es Rochta," meinte Lyon. "Sonst wird sich nie etwas ändern." Merchta lächelte traurig. "Ja, aber leider bin ich ein ziemlicher Feigling," erwiderte sie. "Der Widerstand gegen den Rat und die Flucht nach oben waren beides Kertas Ideen." "Aber wenn Ihr es nicht tut, dann werdet Ihr auf ewig bereuen, mit dieser Lüge gelebt zu haben," widersprach er. "Niemandem ist damit geholfen, wenn Ihr Euch versteckt." Rochtas Mutter stand auf und drückte den Rücken durch. "Vielleicht habt Ihr Recht, Herr Lyon," meinte sie, als auch er sich erhoben hatte. "Aber es wird nicht leicht..." "Das Leben ist selten leicht," erwiderte er. "Besonders dann nicht, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht." Als sie die Halle verließen, sahen sie sich plötzlich Rochta gegenüber. Ihre Augen waren voller Tränen und sie schniefte leise. "Rochta, was...?," begann Lyon und brach dann ab, als er sah, dass sie ihn überhaupt nicht wahrnahm. Ihre Augen waren einfach nur auf ihre Mutter fixiert. Einige Minuten lang blickte er nur hilflos von einer zur anderen und wusste nicht, was er tun sollte, während das Schweigen für ihn immer unerträglicher wurde. Dann stupste ihn jemand sanft in den Rücken und sagte leise: "Kommt. Lasst die beiden jetzt alleine." Als er sich umdrehte, sah er in Akeydas goldgelbe Augen, die jetzt ungewöhnlich sanft blickten. "Die beiden brauchen jetzt Zeit allein." Lyon nickte und folgte seinem Drachenfreund. Als sie gerade um die Ecke gebogen waren, konnten sie Rochtas unterdrücktes Schluchzen hören, das ihre Worte unverständlich machten. "Das habt Ihr gut gemacht," meinte Akeyda. Abermals stupste er ihn liebevoll mit der Schnauze an. "Wirklich gut gemacht, Meister Lyon." _______________ Das zweite Kapitel ist nun fertig und ich hoffe, es hat euch gefallen und hoffentlich war das auch nicht so viel Information auf einmal für ein Kapitel. Aber ich hätte auch schlecht schreiben können, wie sich Rochta und Merchta jeden Tag aus dem Weg gehen... Ciao. Eure Motzi_die_Katze Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)