Globetrotter von -Soul_Diver- (Wir brauchen keine Chemie, keinen Kompass, keinen Reiseführer, keine Landkarte... und kein Viagra!) ================================================================================ Kapitel 17: Oodinium Pillularis - 1 ----------------------------------- Die Morgendämmerung brach herein. Wie ein schummriger, fahl silbriger Schleier aus transparentem Stoff lag sie über dem Horizont – der Vorhang, der sich für den Auftritt der Sonne endgültig teilen würde. Die tägliche Lebensvorstellung, Eintritt frei. Von allen Stunden des Tages war mir diese die Liebste, weshalb ich gewohnheitshalber schon vor Sonnenaufgang aufzuwachen pflegte – ein Brauch, der sich seit meiner Promovationszeit über die Jahre hinweg verankert hatte, und den ich stets im Alleinsein genoss. Meine Gedanken hingegen verweilten nicht bei dem Anblick des morgendämmernden Himmels, sondern kreisten bereits jetzt in einem Fort um die nächste Mission, derer wir uns annehmen würden – begleitet von der Frage, ob es nicht besser wäre, vor dem Antreten eines neuerlichen Auftrags ein weiteres Mal mit Clow und dessen Crew in Kontakt zu treten. Nicht, dass es sonderlich nötig gewesen wäre – noch befanden sich unsere abgehandelten Kräuter- und Heilpflanzenvorräte in bestem Zustand – doch ich hielt mich bezüglich dem Stand der Dinge auf See gerne auf dem Laufenden. Eine flüchtige Bewegung aus dem Augenwinkel ließ mich unerwartet aus meinen Grübeleien aufmerken. „… Was tun Sie da schon wieder?“ Ach du je. Ich rollte die Augen. Es fiel mir nicht schwer, anhand des entnervten Tonfalls den Urheber dieser Frage eindeutig zu identifizieren. Mit einem Lächeln wandte ich mich zu Kurogane um, der soeben im Türrahmen des Eingangs aufgetaucht war und mich nun mit argwöhnischen Blicken beschoss wie die Sonne ein vegetabiles Gartengewächs mit Lichtphotonen. „Natürlich die unabdingbare Vermiesung deines Lebens planen. Du hast nicht zufällig Interesse daran, an diesen Reflexionen teilzunehmen?“, gab ich fidel zur Antwort und schlug ein Bein über das andere, was die fleckige Gartenbank, die ich zu meiner Sitzgelegenheit auserkoren hatte – und die wohl vor schätzungsweise zweihundert Jahren zum letzten Mal einen frischen Anstrich verpasst bekommen hatte – bedenklich zum Knarzen brachte. Der Schwarzhaarige ließ ein dumpfes Knurren hören und trat nach draußen in den Garten. „Was Sie wirklich tun, Doc.“ „Na schön, ich warte auf den Sonnenaufgang“, gab ich mich geschlagen und deutete mit einer Hand gen Horizont, „Und ich überlege, wie wir weiter vorgehen sollen. Mein Angebot zur Teilnahme steht jedoch nach wie vo-… ooooh! Wie lieb von dir!“ „Sie geben ja doch keine Ruhe, bis ich eingewilligt habe“, brummte Kurogane nur, der soeben nähergetreten war und sich nun schwer neben mir auf der Bank niederließ, was dieser eine weitere Wimmerarie entlockte. „Also gut, schon bestimmte Vorstellungen?“ „Nun, ich bin gerade zu dem Schluss gekommen, dass wir uns heute vielleicht zwecks Auftragssuche auf dem Postamt nach Subaru-kun und Hokuto-chan umsehen sollten.“ „Klingt vernünftig“, stimmte mein Arbeitspartner zu und verschränkte die Arme vor der Brust, „Wenn wir einen kriegen, sollten wir einen Teil des Geldes abzweigen, um im Notfall flüssig zu sein.“ „Das sind wir doch immer, mein Lieber! Der Körper des Homo sapiens besteht nicht umsonst zu fast achtzig Prozent aus Wass-… ganz ruhig, das ist doch nur Humor!“, fügte ich rasch hinzu, als die Zornesader des Schwarzhaarigen bedrohlich zu pochen begann, „Ich habe den Sinn deiner Aussage durchaus richtig aufgefasst! …Obwohl letztere Aussage an sich wieder als Wortwitz durchgehen könnte, da humor soviel wie ‚Körperflüssigkeit‘ bedeut-…“ „KLAPPE HALTEN!! Noch ein Wortwitz, und ich-…!!“ „Schon gut, schon gut“, seufzte ich ergeben und verneigte mich wie ein Muslime, der seine täglich anfallenden Rakats vollführte, „Du hast ja recht, wir sollten einen Teil des Honorars von Noctua-san mitnehmen, wenn wir einen Auftrag finden.“ „Wieso nicht gleich?“, knurrte Kurogane und fuhr sich entnervt durch das kurze, noch ungekämmte schwarze Haar, „Verpflegung sollten wir ebenfalls besorgen. Und diese grüne Schrottkamelle braucht eine komplette Restaurierung.“ „Da könntest du Recht haben“, gab ich kleinlaut zu. Autos waren ein seltener Luxus – auch wenn sich das vermutlich schon in wenigen Jahren ändern würde, Anzeichen wie zum Beispiel die sich rasant weiter entwickelnde Maschinenindustrie in diesem Land, gab es immerhin genug – und folglich kostete auch jeder Service, der damit in unmittelbarem Zusammenhang stand, eine beachtliche Stange Geld. Es würde ungeheure Summen verschlingen, unseren klapprigen Bentley soweit in Stand zu setzen, dass man damit über Land fahren konnte. „Was schlägst du vor?“, erkundigte ich mich, denn von uns beiden hatte Kurogane noch immer das bessere Händchen für Autos. Dieser lehnte sich grübelnd auf der Bank zurück. „Die Werkstattkosten können wir uns sparen, das kriege ich auch alleine hin“, erklärte er nach einer Weile, „Was wir auf jeden Fall brauchen, sind neue Teile. Bremsbeläge, Stoßstangen, ein besseres Getriebe. Ich kenne jemanden, der solches Zeug zum halben Preis verscherbelt…“ „Eeeeeecht?“, staunte ich und sah meinen Leibwächter groß an, „Woher denn?“ „Hab einige Monate in einem Maschinenwerk gearbeitet“, lautete die knappe Antwort. Fragend beobachtete ich das sich rasch verfinsternde Gesicht meines Reisebegleiters. Da war er schon wieder, dieser Blick. Obwohl er nicht direkt boshaft anmutete, verbot er mir unerbittlich den Mund – und das, ohne Worte zu verschwenden. Frag bloß nicht weiter, sonst setzt es was. „Achso“, sagte ich daher fröhlich und wippte auf der ärmlichen Bank auf und ab, „Prima, dann können wir auf diese Weise sicher eine Menge Geld sparen! Wie wäre es, wenn wir nach jedem Auftrag eine bestimmte Summe für die Reparatur von Kermit zurücklegen? Einhundert bis zweihundert Transkos, so um den Dreh rum?“ „Hmmmnh.“ „Wenn wir mehr als tausend Transkos zusammengekratzt haben, können wir ja einen Abstecher zu deinem Kontaktmann machen!“ „Hmmmnh.“ „Und vielleicht sollten wir auch ein paar Transkos aufheben, damit wir Clow und seine Mannschaft möglichst bald wieder anheuern können…“ „Hmm- was?!!“ Der Schwarzhaarige erwachte so abrupt aus seinem Wachkoma wie ein Schwarzbär, den man in die Schnauze gepiekst hatte. „Sie wollen schon wieder Unterhandel mit diesen Freibeutern betreiben?! Wann begreifen Sie eigentlich mal, dass Sie dabei früher oder später im Knast landen können?! Die Handelsmarine bestraft solche Vergehen wie der Teufel die arme Seele! Wenn Sie Glück haben, werden Sie nur hingerichtet!“ Ich runzelte die Stirn. „Weißt du, seit unserem letzten Abkommen mit Clow habe ich das dumpfe Gefühl, dass du ihn auf den Tod nicht ausstehen kannst“, erklärte ich und rieb mir gründlich die Nase, „Wie kommt das, wenn ich mir diese Frage erlauben darf? Kommt das, weil du aus Prinzip erst einmal jeden hasst, den du triffst, oder hat das tiefergehende Gründe?“ „Liegt das nicht auf der Hand?“, schimpfte mein gereiztes Gegenüber, „Ich lehne Methoden wie Raub, Hehlerei, Erniedrigrung und Ermordung unbescholtener Männer, die ihr tägliches Brot mit dem Überseehandel verdienen, ganz einfach ab! Und zufälligerweise sind es genau diese Methoden, von denen Ihr Handelspartner so fleißig Gebrauch macht, dieser, dieser-… Pirat.“ Verwirrt registrierte ich, dass er das letzte Wort wie ein Schimpfwort aussprach, obwohl es Clow so gesehen korrekt beschrieb. „Und ich hasse nicht jeden, den ich kenne“, fügte er nach einem längeren, ziemlich unangenehmen Schweigen noch hinzu und verschränkte bockig die Arme vor der Brust. Ich ließ ein dezentes Räuspern hören. „Die vorangehende Hetzrede untermauert diese Behauptung auf höchst eindrucksvolle Weise“, stellte ich sachlich fest, „Und darüber hinaus ist und bleibt es Tatsache, dass mein ‚Unterhandel‘ mit Clow und seiner Crew bisher nur Gutes mit sich gebracht hat. Wir kennen uns mittlerweile seit Jahren, und ich habe ihm mein finanzielles Überleben ebenso zu verdanken wie er mir das Seine.“ Keine Antwort. Dann eben nicht. Ich seufzte. „Hör zu… was hälst du von folgendem Plan? Nach dem Frühstück gehen wir zum Postamt und sehen uns nach einem neuen Auftrag um, danach treffen wir alle nötigen Vorbereitungen und sehen zu, dass wir uns zeitig auf den Weg machen, und wenn wir wieder zurück sind und das Honorar bereits berechnet wurde, können wir immer noch sehen, wie es sich am geschicktesten verteilen lässt. Einverstanden?“ Offenbar zog mein Reisebegleiter es vor, noch ein wenig zu schmollen, denn es nahm fast eine Viertelstunde in Anspruch, bis er sich endlich zum Antworten bequemte. „… Einverstanden.“ Ich wusste nicht wieso, doch das dumpfe Murmeln brachte mich zum Lächeln. „Gut. Aber bevor wir unserem Plan folgen, bleiben wir noch ein wenig sitzen, ja?“ „Wieso das denn?“, brummte Kurogane unwillig. Ich deutete als einzige Antwort in Richtung des Horizonts. Noch während wir uns mit Diskussionen über Geld, Autoreparaturen, Gott und die Welt in Atem gehalten hatten, hatte die Morgendämmerung endgültig dem Sonnenaufgang Platz gemacht. Wie eine schmale Scheibe aus purem Gold verließ die Sonne die nächtliche Umarmung des Firmaments und ergoss ihren warmen, ruhigen Schein über das gesamte Himmelszelt. Durchdrang und durchstrahlte die dünnen Wolkenschleier, die ihr schimmerndes Antlitz noch vor der irdischen Welt zu verbergen suchten. Blinzelte und atmete durch den Morgentau, der still über den Firsten der Dächer und auf den Blättern der bereits aufschießenden, auftreibenden Blumen und Gräsern in den benachbarten Gärten lag und das wie sie zur vollen Blüte emporstrebende Licht zu trinken schienen wie ein leises, leichtfüßiges Tier, das Wasser aus einer Quelle trank. Umarmte alles, was sie erreichen konnte, mit ihrer Wärme. In der stillen Straße wurden erste Geräusche von aufgehenden Schindeln und Fensterläden hörbar. Das Leben erwachte, und mit ihm auch seine Geschöpfe. Gedankenverloren sah ich einem einzelnen Zitronenfalter nach, der sich trotz der morgendlichen Kühle bereits aus seinem Versteck hervorgewagt hatte und in schaukelnden Schleifen an uns vorbeiflog, um sich auf Frühstückssuche zu begeben. Wie immer, wenn sich mir die Schönheit der Welt offenbarte, die uns umgab, hatte sich ein dumpfes, unterschwelliges Zwicken in meiner Brust breitgemacht. „Schön, nicht wahr?“, hörte ich mich leise fragen und fühlte das Zwicken stärker werden, „Ghâlil hat einmal zu mir gesagt, dass zu den Stunden des Sonnenaufgangs die Geister aller Lebewesen am stärksten in Verbindung ständen. Das Leben erfüllt sie und stärkt sie für den anbrechenden Tag.“ „Aha“, erwiderte Kurogane lahm und folgte meinem Blick, „Ich habe mir immer nur den Sonnenuntergang angesehen.“ „Ich mir auch. Meistens jedoch allein“, gab ich fröhlich zur Antwort. „Aha. Ich auch.“ „Na, dann ist es doch schön, dass sich das geändert hat, nicht wahr?“ „Hmmmnh.“ Ich musste lächeln und beschränkte mich der Simplizität halber einfach darauf, weiterhin mit meinem Leibwächter die aufgehende Sonne zu beobachten. Es war wahr, und nun konnte auch ich es nicht mehr abstreiten – seit unserem mehr oder weniger unfreiwilligen Zusammentreffen war bereits so manche meiner Gewohnheiten umgeworfen worden. Und mittlerweile hatte ich den Eindruck, dass es nicht nur mir so ging. Doch ob ich mit der Empfindung, diese Veränderung nicht als etwas Unerwünschtes anzusehen, ebenfalls nicht allein war, würde für diesen Morgen – wie so manche andere Frage zwischen meinem neuen Partner und mir – wohl ungeklärt bleiben. „… Zu hundert, eine zu zwanzig, zwei zu dreißig-…“ „Hierher! In den Dschungel bringen mich keine zehn Pferde mehr, verstanden?“ „Bei mir warst du auch noch nicht! Zack zack!“ „Fünf zu sechzig! Wer legt zusammen?“ „Hier drüben, zwei zu fünfundzwanzig!“ Am Postamt war wie immer die Hölle los. Als Kurogane und ich auf der Szene eintrafen, befanden sich gerade drei Abgeordnete der Stadtverwaltung – man erkannte sie an ihren auffallenden, roten Schärpen über den Hakama – dabei, mit der zurückgekehrten Kohorte der Soldaten zu verhandeln, die wir noch gestern in der Stadt gesehen hatten, und die jetzt auf dem schmalen, von Pappeln gesäumten Vorhof des Postamts und dem Fußsteig lagerten. Zwei von ihnen hatten sich von irgendwo zwei alte, abgeschabte Gitarren besorgt und spielten einige veraltete Soldatenmelodien. Eine kleinere Schar Kinder hatte sich um sie versammelt, lauschte und tanzte zu den Liedern. „Was da wohl passiert?“, überlegte ich laut und wich höflich einem an uns vorbeistürzenden Telegrammboten aus, „Klingt ja fast wie eine Auktion!“ „Sie kaufen sich Parzellen von der Stadtverwaltung, um eine vorläufige Bleibe zu finden“, erklärte Kurogane achselzuckend, offenbar wusste er auch auf diesem Gebiet bestens Bescheid, „Wenn sie in der unmittelbaren Nähe des Dschungels stationiert waren, wird von den Lagern nicht viel übrig geblieben sein.“ Dem konnte ich leider nicht widersprechen. Es war auch schon so verwunderlich genug, dass die Soldaten so zahlreich zurückgekehrt waren. Niemand, der den Dschungel von N’Galia betrat, kam lebend wieder heraus. Das war die Regel. Lustig nur, dass schon wieder ich derjenige war, der aus diesem Schema herausfiel. „Sie werden versetzt?“, erkundigte ich mich bei einem der Soldaten, der sich bereits seine Parzelle gesichert hatte und mit dem abgestempelten Schein in der Hand den Platz verlassen wollte, und er nickte. „Ja. Wir werden am Stadtrand untergebracht, bis wir in ein anderes Lager kommen.“ „Ist dort überhaupt genug Platz?“, kam es stirnrunzelnd von Kurogane. „Eigentlich nein, aber zum Glück sind auf diesem Höllentrip genug Männer gestorben, damit es nun genügend Platz für alle gibt. Eine Hälfte kommt in die Parzellen, die andere ins Krematorium.“ Die Stimme des Soldaten troff vor Sarkasmus, sodass mein Reisebegleiter es vorzog, keine weiteren Fragen zu stellen. „Verstehe… nun, auf jeden Fall viel Glück Ihnen!“, gelang es mir nach einer Weile letztendlich doch, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. Der Soldat bedankte sich mit einem Nicken und verließ die Szene im Laufschritt, offensichtlich war er das stundenlange Herumlungern vor dem Postamt leid. „Wie das nur passieren konnte, frage ich mich…“ „Wieso fragen Sie sich das noch?“, entgegnete Kurogane geringschätzig, „Sie waren doch auch schon in dem Dschungel. Und Sie wissen, was dort ist.“ Schweigen. Ich beobachtete aufmerksam die Gesichtszüge meines Partners. Seltsamerweise regten mich diese Worte nicht auf, obwohl ich sie mir auch schon von unzähligen anderen Personen hatte anhören dürfen. „Nein“, erwiderte ich schließlich wahrheitsgemäß, „Nein, weiß ich nicht.“ Niemand wusste es. Unser zweifelhafter Disput wurde unterbrochen, als eine zerrupft wirkende Gestalt an der Treppe auftauchte und bei unserem Anblick enthusiastisch einen Zeigefinger in die Luft stieß. „Aaaaaah!! Endlich hab ich euch!“ Ich kam kaum dazu, mich umzudrehen, als die Gestalt auch schon wie von der Tarantel gebissen herangerast kam, mich beim Abbremsen fast von den Füßen riss und sich in eine atemlose Verbeugung warf. „Fye-san, Kurogane-san! Schön, dass ihr wieder zurück seid, ich habe mich schon gefragt, wo ihr eigentlich bleibt!“ Die Gestalt entpuppte sich als einer meiner fleißigen Telegrammboten, wie immer in der properen blauen Uniform mit Schirmmütze und Telegrammtragetasche gekleidet, und dazu noch über das ganze Gesicht strahlend. „Die Freude ist ganz auf unserer Seite, Subaru-kun!“, gab ich fröhlich zur Antwort, nachdem ich mit beiden Füßen wieder sicheren Halt gefunden hatte, erleichtert darüber, dass wir uns nicht erst in das chaotische Innenleben des Postamts vorwühlen mussten. Mein beflissenes Helferlein lachte glucksend. „Ooooohohooho, schon wieder verspielt! Hokuto!“, verbesserte sie mich und klopfte mir übermütig auf die Schulter, „Ich bin schon seit zwei Tagen auf der Suche nach euch, und der Portier des Hotel Grande hat mir gesagt, du wärst schon lange rausgeflogen…“ „Nur keine Panik, ich habe bereits eine neue Bleibe gefunden, Hokuto-chan“, beruhigte ich meine aufgeregte Kumpanin – den Ärger über die Tatsache, dass ich die beiden Geschwister noch nie hatte auseinanderhalten können, hatte ich schon vor Jahren verdaut – und beklopfte meinerseits väterlich die Schulter meines Bodyguards, „Ist es nicht schön, wenn man einen so rücksichtsvollen Angestellten hat?“ „Oooohohoho! Er lässt dich bei sich woooooooooohnen?? Wie lieb von dir, Kurogane-san!“ „Mmmpfh“, grollte Kurogane dumpf, offenbar war es einfach noch zu früh am Morgen, als dass er sich in wirkliche Wut hineinsteigern konnte, „Komm endlich zur Sache! Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!“ „Wie der Herr wünschen!“, gab Hokuto aufgeräumt zur Antwort und wühlte geschäftig in den weiten Fächern ihrer Telegrammtasche herum, „Subaru und ich sind während eurer Abwesenheit nämlich nicht untätig geblieben, schließlich arbeiten wir für unser Geld!“ „Will heißen, du hast einen Job für uns?“, hakte ich hoffnungsvoll nach, und das Mädchen nickte. „Hundert Punkte! Und wir mussten nicht einmal drum kämpfen, vorgestern kam die reinste Telegrammwelle rein!“ Stolz wie ein Papagei überreichte sie mir einen der von mir so heiß und innig verehrten Umschläge aus steifem grauem Zellpapier, doppelt abgestempelt von den Postbehörden von Uranoke Sho. „Aaaaaaaaaaaahh! Vielen Dank, Hokuto-chan!“, trällerte ich entzückt, sobald ich das vertraute Gefühl des rauen Papiers unter meinen Fingern spürte und nahm Hokuto fröhlich bei beiden Händen, was bereits nach wenigen Sekunden in eine Art Ringelreihentanz ausartete, „Dieses Knistern, dieses knisternde Knistern, das riecht geradezu nach Abenteuer!“ „Heeeeehehehehe!“ Kurogane sah unserem Tänzchen genau eine Minute lang zu, bis er mir das Telegramm kompromisslos aus der Hand schnappte und es mit den Augen eines misstrauischen Kunstkritikers beäugte. „Das ist der Inlandsstempel von Kongoseki Oka“, meinte er und deutete auf den roten Stempelabdruck am linken oberen Rand des Umschlags, „Das heißt, der Absender logiert in diesem Land…“ „Ganz richtig!“, zwitscherte ich, „Hokuto-chan, dich stört es doch nicht, wenn wir das Telegramm sofort öffnen, oder?“ „Ganz und gar nicht!“, antwortete das Mädchen wohlgemut, „Allerdings ist das nicht das einzige, was ich für euch habe. Da ist jemand, der euch sprechen will! Er schien es ziemlich eilig zu haben, ich konnte ihn kaum zum Warten überreden! Soll ich ihn schnell holen?“ „Jemand, der uns sprechen will?“, wiederholte ich erstaunt, doch dann besann ich mich schleunigst und nickte, „Natürlich, immer nur her mit ihm, solange es kein Schuldeneintreiber ist, wahahahahah!“ „In Ordnung, ich hole ihn schnell, ich muss nämlich noch auf ein paar andertweitige Botengänge. Macht’s gut, ihr beiden, und meldet euch, wenn ihr mit dem Auftrag nichts anfangen könnt!“ „Alles klar! Bis dann!“ Hokuto nickte und machte sich im Dauerlauf auf den Rückweg in das Postamt. Kurogane starrte mich scheel von der Seite an. „Schuldeneintreiber?“ „Oh ja, das ist die Menschensorte, mit der ich in den vergangenen Jahren am intensivsten Kontakt hatte!“, flapste ich und kicherte, als sich die schwarzen Brauen meines älteren Gegenübers augenblicklich erbost zusammenzogen, „Sie müssen mich für außerordentlich sexy gehalten haben, denn sie sind mir zuweilen auf Schritt und Tritt gefolgt!“ „Oh sicher, das wird es gewesen sein“, brummte der Schwarzhaarige nur und machte eine wegwerfende Handbewegung, „Eins sage ich Ihnen, wenn jetzt ein Schuldeneintreiber auf der Matte steht, war es das mit unserer Zusammenarbeit! Dann pfeife ich auf den Kündigungsschutz!“ Ich wollte gerade erwidern, dass solch ein unfeiner Vertragsbruch alles andere als zuvorkommend wäre, doch die Sorge des Schwarzhaarigen erwies sich just in diesem Augenblick als überflüssig. Die Leute am Eingang sprangen erschrocken einen Schritt zurück, als sich etwas Großes, Kräftiges mit einem Satz den Weg zum Portal freimachte, sich mit einigen schnellen Flügelschlägen Auftrieb verschaffte und schwer vor uns auf dem gepflasterten Boden landete. Sowohl Kurogane als auch ich sahen den unerwarteten Besucher überrascht an. Butterfarbene Federn. Lange, knochige Arme. Klauenhände. Ein Vogelgesicht. Eine Harpyie. Während uns die Umstehenden noch immer etwas perplex anstarrten, spreizte die junge Kreatur ihre Federhaube auf und neigte den Kopf vor uns. „Doktor… Fleoratu. So wir uns begegnen… nun erneut.“ Hatte ich diese Stimme nicht schon einmal gehört…? Wie immer ließ mich mein Gedächtnis im Stich, doch nun meldete sich Kurogane zu Wort. „… Gwri, nicht wahr? Wir kennen dich aus Shuryotori Aitoki.“ Die Harpyie nickte und faltete unter schwerem Rascheln ihre langen Flügel. „J-ja, ihr tut. Ich… kehre wieder her… zu euch.“ Mehr bedurfte es nicht, um auch meine grauen Zellen endlich wieder in Gang zu bringen. „Aber natürlich!“, rief ich aus und fasste das junge Wesen bei den sehnigen Klauen, „Gwri! Bitte entschuldige vielmals, dass ich dich nicht gleich erkannt habe, mein Gedächtnis ist nicht das Beste! Al-shaak an nan!“, fügte ich entschuldigend hinzu, doch das Harpyienmädchen schüttelte den Kopf. „Nicht… schlimm, das. Die Zeit, sie fließt. Sehr schnell.“ Ich spürte, wie meine Verwunderung allmählich ins Unermessliche wuchs. Binnen knapper zwei Wochen schien dieser Nestflüchter sowohl mehrere Brocken unserer Sprache als auch das Fliegen erlernt zu haben – ein Prozess, der bei Artgenossen ihres Alters normalerweise fast ein halbes Jahr in Anspruch nahm, wenn nicht mehr, und oft als der quälendste Akt der Jugendzeit in Erinnerung behalten wurde. Meinen Leibwächter schien dieser kuriose Fakt nicht gerade den Stöpsel hinaus zu hauen, denn er runzelte lediglich die Stirn. „… Und was führt dich zu uns?“ Gwri klapperte mit dem Schnabel und musterte den Schwarzhaarigen aus ruhigen, jedoch gleichzeitig aufmerksamen gelben Adleraugen. „Es… mögen eure Geister gewesen, großer Mensch. Krank… ich lag krank, sehr lange. Mein Geist aber blieb, und folgte, denn ihr rettetet ihn. Alle beide!“ Dieses Zugeständnis überraschte mich ebenfalls in gewissem Maß. Es war gemeinhin bekannt, dass Harpyien, vor allem Abkömmlinge des Geschlechtes der Masaip, wie Gwri es war, eine gewisse Begabung zur Telepathie besaßen – jedoch waren die Grenzen ihrer Begabung eng gezogen und erlaubte es ihnen entweder gar nicht oder erst sehr spät, frühestens ab Mitte des sechzigsten Lebensjahres, davon Gebrauch zu machen. Ghâlil hatte mir ebenfalls ein wenig davon erzählt – bei ihm hatte es sich erst kurz nach dem Erreichen seines neunzigsten Lebensjahres herausgestellt, dass er eingeschränkt telepathisch begabt war. Von hundert Harpyien waren nach der unter Studenten sehr beliebten Klingstein-Hutscher-Studie gerade mal fünf Exemplare zum Knüpfen telepathischer Kontakte fähig. Telepathie war in der Universalmedizin ohnehin ein sehr heikles Thema – bis heute war es keinem Forscher gelungen, die Vorgänge im Gehirn während eines telepathischen Austauschs vollständig zu erfassen. Und nun sollte ein gerade mal sechs Jahre alter Nestflüchter bereits Ansätze dieser geheimnisvollen Gabe entwickelt haben? „Wir haben es aber gern getan!“, beeilte ich mich schließlich zu sagen, ehe ich in meinen Überlegungen noch völlig ins Abseits driftete, „Du musst dich deswegen nicht in unserer Schuld fühlen, Gwri! Eryak en kuolei-…“, wollte ich anfangen zu übersetzen, doch die junge Harpyie schüttelte den Kopf. „Nein, Doktor. Sprich zu mir in eurer Zunge. Ich lerne.“ „Hat dir Ghâlil das überhaupt erlaubt?“, fragte Kurogane doch etwas befremdet, der das eigenbrötlerische, selbstbezogene Leben der Harpyien dieses Landes ja nun etwas besser kannte. Gwri senkte den Blick. „Er sagte Ja und sagte, wo ihr lebt. Aber viele Brüder und viele Schwestern wollten nicht, dass ich gehe. Nicht sehr. Sie meinten: Menschen sind es, Gwri, und… Menschen tun Menschendinge. Bleib und tue Harpyiendinge, so wie wir. Aber ich wollte. Mein Geist wollte folgen. Aber… noch mehr will er, dass er weiß wie du nun dich nennst, großer fremder Mann mit dunklen Augen, der mich rettete.“ Bei dem unwillig überraschten Gesichtsausdruck meines Reisebegleiters musste ich grinsen. „Er heißt Kuro-asa-…“, fing ich fröhlich an, doch der Schwarzhaarige knurrte augenblicklich wie ein angeketteter Hofhund, sodass ich meinen Mund schleunigst wieder schloss. „Kurogane! Und dabei bleibt es auch, verstanden?“ Statt einer Antwort wiegte Gwri ihren Kopf fragend von einer Seite zur anderen. „Kura-… Kuraga…?“ „Kurogane“, brummte mein Leibwächter ungeduldig. „Kur Agama.“ „Kurogane…“ „Kur Agane.“ „KUROGANE!!“ Der Nestflüchter machte große Augen. „Großer Mann, du stöhnst und knurrst wie ein großer schwarzer Bär“, stellte sie erstaunt fest, „Das Beste wird wohl, ich nenne nun dich Schwarzer Bär, Kur Agane, denn es ist ein Bär, dem du verleihst deine Stimme.“ „WAS?!!“, stieß Kurogane hervor, „Auf keinen Fall!! Es heißt Kurogane, und nicht anders, kapiert?!“ „Doktor Fleoratu, ist Schwarzer Bär Kur Agane immer so finster?“ „Man könnte es rundheraus so nennen!“, erwiderte ich fröhlich und erntete eine ganze Salve missbilligender Blicke, „Und was planst du nun zu tun, Gwri, wo du uns gefunden hast?“ Die junge Harpyie dachte eine Zeitlang über diese Frage nach. „Ich plane nun zu helfen“, gab sie schließlich zur Antwort, „Ich plane nun, euch zu helfen bei euren Menschendingen. Nur Harpyiendinge… sind zu verliebt in mich.“ Die Worte waren etwas unbeholfen gewählt, doch ich verstand, was sie ausdrücken wollte – sie wollte neue Erfahrungen machen und sich nicht nur auf die Erfahrungen ihrer Artgenossen beschränken, da sie es für egoistisch hielt. „Wir zwingen dich nicht dazu“, sagte ich erneut, doch sie schüttelte wieder den Kopf. „Ich will.“ Ich warf einen kurzen Seitenblick zu Kurogane. Dieser zuckte nur die Achseln, offenbar schien es ihm – mal wieder- am Gluteus Maximus vorbeizugehen. „Also gut, hör zu, wir machen es folgendermaßen, Gwri“, sagte ich schließlich und sah die Harpyie an, „Du kannst uns gerne helfen, wenn du möchtest. Wir haben hier einen neuen Auftrag gekriegt. Du kannst uns entweder begleiten, oder du wartest bis wir dich rufen und kommst dann.“ „Wie soll das funktionieren?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige geringschätzig, „Haben Sie ein Walkie-Talkie oder sowas?“ „Nein, aber eine Gelegenheit findet sich sicher“, entgegnete ich, wobei ich mich nicht von dem verächtlichen Tonfall meines Bodyguards aus der Ruhe bringen ließ, „Unmöglich ist nun einmal nichts!“ „Ich warte, bis ihr mich ruft“, entschied Gwri, „Aber wohin muss ich fliegen, wenn ihr ruft?“ „Stimmt, das wäre sicher nicht schlecht zu wissen!“, stimmte ich zu und öffnete den Telegrammumschlag, „Dann lasst uns mal sehen, was der Auftrag sagt!“ Zu dritt nahmen wir das steife, eng bedruckte Blatt in Augenschein, nachdem ich es umständlich aus dem Umschlag befreit hatte. Es enthielt folgende Zeilen: BITTE WAHREN SIE DISKRETION DIES IST EIN AMTLICHES SCHREIBEN stop Notfall in Betrieb ausgesuchtes Fotomodell schwer erkrankt stop Symptomatik Details Voraussetzungen erst vor Ort nennbar stop Diskretion oberste Priorität stop Bezahlung nach Absprache stop ABSENDER F.I.E.S.-GMBH Assistierender Betriebsmanager Shigeru Tsuzukikatsu INSEL SHIMABOKO „Das ist ja wirklich noch in Kongoseki Oka…“, stellte mein Begleiter fest. Genaugenommen gehörte diese Insel zu den Boko-Inseln, eine Inselgruppe im Mittelmeer, welches den Östlichen und den Westlichen Kontinent trennte. Eigentlich lag sie schon eher an der Küste von Kazan Tou, das Nachbarland von Kongoseki Oka, das eigentlich kein Land an sich war, sondern eine ehemalige Vulkaninsel, die, durch die früher häufigen und heftigen Vulkanausbrüchen, mit dem Festland verschmolzen war. Somit waren der einst nördliche Kontinent, auf dem Ghwen-Elfaer lag und der Östliche mit Kongoseki Oka, Balkjebeeke, Ceria und Noreno zu einem einzigen Kontinent geworden. Das Vulkanland hatte sich immer weiter ausgebreitet, bis die Vulkanaktivität nachgelassen hatte und zog sich nun der Länge nach von West nach Ost über den gesamten Kontinent, während eine schmale Magmazunge ungefähr mittig den Nördlichen Kontinent verband, der jetzt allerdings eher als Nordteil des Östlichen Kontinents bezeichnet wurde. Im Süden gab es ebenfalls noch einige Inselgruppen und einen der kleineren Kontinente, tief im Südosten, der allerdings dem Steppenland angehörte. Aber mich interessierte die Geographie eher weniger – der Absender war durchaus interessanter. Die F.I.E.S.-GmbH war ein Familienbetrieb. Ein ziemlich erfolgreicher sogar. Die Insel gehörte quasi der Firma – sie war nicht sehr groß, aber deswegen eignete sie sich wohl gut. Die Familie hatte sich über Jahrzehnte hinweg ein Fotounternehmen aufgebaut – und das Erfolgsrezept war, dass sie die Fotos schon innerhalb einer Stunde entwickelt hatten. Das schaffte noch kein anderer Fotograf. Fotoapparate waren ebenfalls eine recht neue Erfindung – ziemlich praktisch, da man nicht mehr alles zeichnen musste oder zeichnen lassen musste, allerdings auch ebenso aufwändig und wie so oft teuer. Und oft waren die Fotos verwackelt oder über- beziehungsweise unterbelichtet. Außerdem arbeiteten sie mit vielen der führenden Model- und Werbeagenturen sowie mit einer Druckerfabrik zusammen. Sie verlegten Zeitschriften und Zeitungen und hin und wieder auch Bücher. Speziell die, in die Fotos gedruckt werden sollten. „Fa-…Fotomodoll? Was…sein das?“, fragte Gwri holpernd. Sie hatte anscheinend noch nie von Fotos gehört. War auch nicht verwunderlich. Selbst in Kleinstädten würde man wohl auch auf fragende Blicke stoßen und auf dem Land wahrscheinlich sowieso. „Nun… das ist eine Person, die sich fotografieren lässt. Meistens für eine bestimmte Sache“, erklärte der Arzt und Gwri legte fragend den Kopf schief. „Foto?“ „Das ist ein Bild… aber es wird nicht gemalt, sondern mit einem Apparat gemacht. Wie eine Kopie.“ „Tut…weh?“ Fye lachte freundlich. „Aber nein! Es ist nur kompliziert zu erklären.“ „Es wird eine lichtempfindliche Schicht, die üblicherweise aus winzigen Silberhalogenidkristallen in einer Gelatineschicht besteht, auf ein Trägermaterial, meistens Zelluloid, aufgebracht. Dieser ‚Film’ wird mittels einer Kamera belichtet und danach unter Ausschluss störender Lichteinflüsse entwickelt, sowie anschließend fixiert und damit lichtunempfindlich gemacht. Das ist dann das Foto.“ Fye starrte mich an. Gwri tat es ihm nach. „Was denn?“, fragte ich. Warum reagierte er immer so überrascht, wenn ich mal was erklären konnte? „Du hast ja richtig Ahnung!“, begeisterte sich Fye. „Sag bloß, du hast…“ „Ja… ich hab schon mal in dieser Branche gearbeitet…“ Er sah mich bewundernd an. „Ich war immer nur Arzt...“, sagte er. Irgendwie klang es nicht ganz so glücklich, wie ich es erwartet hätte. „Na und? Solang Sie das können, ist das doch egal“, brummte ich. Gwri nickte eifrig. „Doktor Fleoratu…“ Anscheinend suchte sie nach Worten. „ Kanaahn schtriik-tsa… Das Herz ist wichtig… sehr! Und Ziel auch. Beides zusammen…guter Weg.“ Fye lächelte. Anscheinend hatte er verstanden, was die Harpyie sagen wollte. Und auch ich hatte eine Ahnung, auch wenn sie sich vielleicht unbeholfen ausgedrückt hatte. Dann widmete er sich wieder dem Telegramm. „Das Modell muss aber ziemlich berühmt sein, wenn die so ein Geheimnis darum machen…“, meinte er. Dann grinste er breit. „Genau das Richtige für uns, was, Kuro-rin?“ „Es heißt Kurogane!!“, lamentierte ich müde – es schien sowieso nichts zu bringen. Wir waren auf dem Weg zum Markt, um Proviant und einige andere Dinge zu besorgen. Viel brauchten wir wohl nicht, da es ja nicht sehr weit war. Das Problem war wohl eher, dass wir ein Boot brauchten. Und ein Ruderboot würde da nicht ausreichen… „Ich könnte Clow fragen, ob er uns mitnimmt“, schlug Fye munter vor. „Auf gar keinen Fall!“, protestierte ich sofort. „Ja, aber warum denn nicht? Er würde uns sicher gern mitnehmen…“ Er schaute mich fragend an. „Na ja, wahrscheinlich nicht umsonst, aber… du kannst segeln! Das würde schon reichen, damit er uns mitnimmt, denke ich…“ „Ich werde dieses Schiff nicht betreten“, sagte ich. „Warum denn nicht?“ „Weil es ein Piratenschiff ist!“ „Ja, na und?“ „Na und? Ich will mich nicht wegen Piraterie verhaften lassen.“ Das musste nun wirklich nicht sein, und bei so was würde man sich sicherlich nicht rausreden können. Es war ja schon erstaunlich dass wir noch nicht aufgeflogen waren, weil wir mit ihnen Geschäfte machten. Das war – nebenbei – ebenfalls strafbar. Wir diskutierten über die Möglichkeiten, wie wir nach Shimaboko kommen sollten, bis wir den Markt erreichten. Er schien mittlerweile wirklich verzweifelt an meiner Sturheit. „Wieso bist du nur so uneinsichtig?!“, jammerte er und zupfte an meinem Ärmel wie ein Kleinkind. Ich schüttelte ihn ab. „Ich bin nicht uneinsichtig! Ich bin nur vernünftig!“ „Aber--!“ „Kein Aber! Wenn Sie mir damit nur noch einmal kommen, kündige ich!“, unterbrach ich ihn und er sah mich großen Augen an. „Aber!“, versuchte er es noch einmal. Ich sah ihn drohend an und er hob abwehrend die Hände. „Schon guuut, schon guuut…“ Gwri ließ ein amüsiertes Schnabelklappern über unseren Köpfen hören. „Ihr zwei… gut verstehen, ja?“ „Nein!“, sagte ich. „Aber klar!“, sagte Fye zur gleichen Zeit. „Wooow, seht mal da!“ Fye warf die Arme in die Luft und stürzte los – was auch immer er entdeckt hatte. Irgendwann würde ich noch durchdrehen… Nachdem wir auf dem Markt alles hatten was wir brauchten – oder auch angeblich unbedingt haben mussten – schleppten wir es wieder in Richtung Yuugumo Nomichi 125, sprich meine Adresse, und plötzlich blieb er stehen, als hätte sich spontan eine Mauer vor ihm aufgebaut. „Was ist denn jetzt wieder?“, fragte ich und warf ihm einen genervten Blick zu. Die Sachen, die er mir zum Tragen gegeben hatte waren ziemlich schwer. „Mir ist eingefallen, wie wir nach Shimaboko kommen!“, sagte er und grinste begeistert. Ich verzog skeptisch das Gesicht. „So? Wehe, das ist noch so eine Schnapsidee!“ „Aber nein! Komm schon, ich weiß, wen wir fragen müssen!“ Ohne meine Antwort ab zu warten, wandte er sich an Gwri. „Du könntest schon mal vorfliegen, es ist nicht mehr weit. Die Hausnummer ist 125, das findest du ganz bestimmt.“ Dann beschrieb er ihr noch mein Haus, damit sie auch bloß nicht das Falsche erwischte. Nur würde das ihr auch nicht so viel bringen, denn die Häuser in dieser Gegend sahen sich ziemlich ähnlich. Also schrieb ich ihr schnell auch noch meinen Nachnamen auf, damit sie das Schriftzeichen mit dem auf meinem Briefkasten vergleichen konnte. Mit diesem Haufen an Informationen und den restlichen Einkaufstüten, die sie noch tragen konnte, flatterte die Harpyie davon. Und ich stand mit meinem Arbeitgeber und seiner Schnapsidee alleine da. „Und wen müssen wir fragen?“, fragte ich, schon mit der Erkenntnis, dass ich das eigentlich nicht wissen wollte. „Na, wen wohl – Ten!“ „Den Fusselwurm?!“ „Ja, den Fusselwurm! Oder kennst du noch jemand Anderen, der Ten heißt?“, fragte er und machte sich in die Richtung auf, in der sich das Fusselwurm-Lokal befand. „Und wie soll der uns bitteschön helfen, nach Shimaboko zu kommen? Etwa mit einem Floß aus Fusseln?!“, beschwerte ich mich, während ich ihm folgte. Fye schien das witzig zu finden, denn er fing an zu lachen. „Ich glaube nicht, dass das uns weiterhelfen würde… nein… wir fragen ihn einfach, ob nicht einer seiner Lieferanten, für Gewürze zum Beispiel, an der Insel vorbeikommt, oder in die Richtung fährt. Vielleicht können die uns mitnehmen und dort absetzen! Ten schuldet mir noch so einige Gefallen…“ „Sie schulden ihm auch noch eine Menge Geld“, unterbrach ich ihn, doch er redete einfach weiter. „… und ich denke nicht, dass er mir diesen ausschlagen kann. Und eigentlich tut ja nicht einmal er mir den Gefallen, sondern sein Lieferant. Da hätte ich aber eher drauf kommen können!“ Ja. Hätte er wirklich. Die Idee war zumindest nicht ganz so bescheuert wie seine Erste. Hoffentlich funktionierte sie auch. Denn ich würde wirklich eher kündigen, als auch nur einen Fuß auf dieses Piratenschiff zu setzen. „Ten-kuuun!“, flötete Fye, kaum dass wir das Fusselwurmrestaurant betreten hatten. Ten konnte auch nicht so tun, als wäre er nicht da – weil er augenblicklich herumfuhr, erstarrte, bei Fyes Anblick alarmiert schaute und bei meinem prompt hellgrün erbleichte. „F…Fye-kun…ahahaha… wasse für eine Ehre!“, stammelte er, breitete sechs seiner Arme zur Begrüßung aus, sichtlich bemüht, es auch ernsthaft freudig herüberzubringen. Es misslang ein wenig. Aber ehrlich gesagt, konnte ich das durchaus nachvollziehen. „Wasse führt dich hier her, eh?“, fragte er und wackelte hinter den Tresen. Dabei huschten seine Blicke immer zu mir hinüber. „Willsu mir meine Geld zurückzahlen, heh?“, wagte er es doch hoffnungsvoll zu fragen, allerdings sehr leise. „Sage mir bitte nicht, dasse du gekomme bist, um noch mehr Geld zu fordern!“ Fye schien das alles gar nicht zu bemerken, sondern lehnte sich nur grinsend an die Theke, um sich ein wenig vorzubeugen. „Aber nein, Ten-kun!“ Der Fusselwurm seufzte erleichtert. „Gut! Denne ich werde dir nichtse mehr leihen!“ „Aber ich hätte eine Bitte! Wir müssen unbedingt nach Shimaboko! Sag mal, fährt dort zufällig ein Lieferant von dir vorbei, der uns dort absetzen könnte?“ „Eh…ich nicht wisse…“, meinte der Inhaber. „Vielleichte…“ „Würdest du nachschauen? Deine Gewürze… sie kommen teilweise aus Ghwen-Elfaer, oder?“ Das war nicht einmal eine Frage, sondern eine Feststellung. „Ehhh… jaaa….“, meinte Ten gedehnt. „Ich schaue nach, eh?“ „Natürlich, tu das.“ Fye lehnte sich noch ein wenig weiter vor und tuschelte ihm – laut genug dass ich es allerdings auch noch mitbekam –, während er auffällig unauffällig in meine Richtung deutete zu: „Aber denk an seinen Geduldsfaden….der leidet in letzter Zeit wieder so…..“ Ten keuchte auf, bevor Fye den Satz beendet hatte und verschwand blitzschnell im Hinterzimmer, in dem er eine Weile zu kramen schien, bis er mit einem dicken, in abgegriffenes Leder eingeschlagenen Wälzer wiederkam und ihn aufschlug. „Ahhh… hier eh? Heute mittag… da kommte Matz und bringte mir neue Ladung Kräuter. Frage den, eh?“ „Oh, danke, Ten-kun! Du bist meine Rettung!“ Fye klopfte ihm überschwänglich auf die fusselige Schulter. „Ich bin dir was schuldig!“ „Si, sechsundzwanzigtausendsiebenhundertunddreizehn Transkos!“, war die Antwort. Ein typischer Nachmittag an den Ankerplätzen Uranoke Shos. Für so manchen Touristen, Lakai, Matrosen oder Seemann bedeutete dies ein vielfarbiges, multikulturelles Treiben aus unzähligen Frachtern, Kuttern, Fähren, Schiffen und Fischerbooten, in dem man selbst mit den ungewöhnlichsten Wünschen etwas Verwendbares aus dem förmlich überquellenden Warenangebot herauspicken konnte, egal ob man marinierte Riesenschnecken im Glas suchte, fließend feine Stoffe aus Musselin und Azetatseide von den südlichen Kontinenten, Schuhe aus Perlmutt und Seegras, Säcke voller Nachtigallenzungen, eigens für Straußenspiegeleier angefertigte Pfannen, Schnauzenbalsam gegen Wildschweinherpes, Ketten, deren Perlen so groß wie der Kopf eines Menschensäuglings waren, kleine Hunde, Kätzchen in allen Farben, die sich maunzend in der Mittagssonne balgten, bunt durcheinanderflatternde Vögel in hölzernen Käfigen, deren Federkleid den Anschein eines Farbkastens erweckte, der das Fliegen gelernt hatte, wallende Kleider, Togen, Tuniken, Kimono… Kurzum: es war für jeden Geschmack etwas dabei. Die umtriebige Geschäftigkeit, dieses Überquellen des Lebens in all seinen Farben am nahen Hafen, bedeutete für einen Bewohner von Uranoke Sho jedoch anscheinend nichts als eine Hypertrophie der nervlichen Belastung. Und so wie es aussah, bekam ich just jenen Fakt heute am eigenen Leib zu spüren. „… Und Sie sind sich sicher?“ Ich rollte seufzend mit den Augen und schulterte meinen bis zum Gehtnichtmehr mit Medikamenten, Heilkräutern, Toilettenartikeln und meinem geliebten Chirurgenbesteck vollgepfropften Rucksack neu. „Gwri hat es uns selbst versichert, falls du dich erinnerst“, versuchte ich meinen – wie so oft missgelaunten – Reisebegleiter zum gefühlten tausendsten Mal zu beschwichtigen und wich höflich einer Gruppe Wüstenwachteln aus, die sich lauthals schnatternd mit einem Stadtplan auseinandersetzten, „Sie bleibt bei uns zuhause und passt auf das Haus auf, bis wir wieder zurück sind! Du tust ja direkt, als hätten wir uns den leibhaftigen Luzifer ans Bein gebunden…“ Die Augenbrauen des Schwarzhaarigen hoben sich bedenklich. Für einen Moment verharrten sie fast schüchtern in den oberen Breitengraden seiner Stirn, ehe sie sich in exekutionshaft anmutender Radikalität wieder nach unten senkten. Ich hatte bereits festgestellt, dass es mir ein gewisses Vergnügen bereitete, die kurvenreichen Wanderungen seiner Brauen zu beobachten, doch leider war es eine nur allzu kurze Verlustierung, da auf solch eine Wanderung meistens eine gesalzene Schimpftirade folgte. „Bei uns zuhause?“ „Na schön, na schön, bei dir zuhause“, korrigierte ich mich seufzend, um den Vulkan am Ausbrechen zu hindern, und ließ schicksalsergeben die Schulter nach unten sacken, „Ist es dir denn derartig zuwider, dass wir sie damit beauftragt haben, ein Auge auf das Haus zu haben, während wir auf Shimaboko sind?“ „Wir sie damit beauftragt?“ „Na gut, also fein, ich sie damit beauftragt!“ Allmählich litt auch mein Geduldsfaden unter einer gewissen Abbreviation, oder wie Wissenschaftler sagen würden, unter einer Verkürzung. „Du legst wieder äußerst pestilenzialische Verhaltensweisen an den Tag, mein Lieber!“, warnte ich ihn daher mit energisch erhobenem Zeigefinger, „Hör zu, wir haben gemeinsam entschieden, dass Gwri während unserer Abwesenheit dafür sorgt, dass unserem Haus nichts zustößt, und ebenso haben wir entschieden, dass wir mit der Unterstützung von Ten-kuns Geschäftsfreund Matz nach Shimaboko gelangen! War das jetzt genug erste Person Plural, Herr Hochwürden Majestät Motzpräsident?“ Statt einer Antwort schnappte sich Kurogane nur mit einem langgezogenen Seufzen den Fresszettel aus der Hand, auf den uns Ten-kun in aller Eile die wichtigsten Dinge aufgeschrieben hatte, die wir wissen mussten. „Wo müssen wir überhaupt hin?“ „Ha!! Aha!!“, triumphierte ich augenblicklich, „Du hast wir gesagt!“ „Kein Wunder, nach der grammatischen Gehirnwäsche“, brummte der Schwarzhaarige und überflog unter gerunzelter Stirn das fahrige Gekritzel unseres Fusselwurmfreundes, „Hat er überhaupt einen Namen?“ „Wer?“, fragte ich ahnungslos. „Na, er!“ „Wer er?“ „Der Kutter, Sie Pillendreher!“ Ungeachtet dieser höchst unqualifizierten Beleidigung nahm auch ich das Gekrakel in Augenschein, das Ten uns als Informationsgehalt mitgegeben hatte. Laut ihnen zeichnete sich der Kutter seines Geschäftsfreundes Matz Zenko als Träger des Namens ‚Otter‘ und pflegte an den vieldockigen Kais der Hafenstraße anzulegen, gar nicht weit von der kaputten Straßenlaterne, die die Stadt noch immer nicht gegen eine Neue eingetauscht hatte… Noch während ich diese Zeilen las, spürte ich unwillkürlich, wie sich ein kleines Lächeln auf meinen Lippen formte. Mein Leibwächter registrierte es ebenfalls und sah mich fragend an. „Was ist?“ „Ich glaube, ich weiß, wo wir hinmüssen!“, gab ich fröhlich zur Antwort und fasste ihn kurzerhand am Ellenbogen, um ihn im Steilflug quer durch die belebte Masse hinter mir herzuzerren, „Es ist gleich dort vorne! Komm!“ Kuroganes Augenbrauen schnellten sichtlich skeptisch nach oben, doch ich lächelte nur. Wie sollte ich den Ort vergessen können, an dem wir uns zur ersten gemeinsamen Arbeitssuche verabredet hatten? Ich vergaß niemals einen Ort, an dem ich je gewesen war. Eine Tatsache, die mir auch heute noch sowohl Freude als auch Magendrücken zu bereiten verstand. Es war eine Angelegenheit von lediglich zehn Minuten, bis wir uns erfolgreich aus dem geschäftigen Alltagspulk herausgewühlt, die betreffliche Straßenlaterne erreicht und die von Meereswasser und Algen glitschige Steintreppe an der Promenadenbrüstung hinabgestiegen waren, wo uns die langen, hölzernen Planken des Piers mit ihrem sanften Schwanken im ruhigen Auf und Ab des Wellengangs empfingen. An ihren Seiten waren in gleichmäßigen Abständen entweder Signalbojen, Rettungsringe oder kleinere Fischer- und Transportboote vertäut, und an der viertletzten Planke von außen war-… „Hallohooooh!“, juchzte ich augenblicklich und schwang zum Winken beide Arme wild in der Luft herum, sodass mein Leibwächter augenblicklich in Deckung gehen musste. Der tief maronenfarbene, gut drei Meter lange Fusselwurm, der bis eben noch damit beschäftigt war, mit einem tüchtig mit rutschfester Seife eingeriebenen Wurzelbesen den Pierboden zu schrubben, drehte sich bei meinem Zuruf schwungvoll zu uns um und kam unter Zeichen der verhaltenen Neugier näher. Und der grobe, hölzerne Kahn mit dem doppelt mannshohen Schleppmast, der keine zwei Meter weiter weg vertäut lag, konnte nichts anderes als die ‚Otter‘ sein. „Aah! Hiere Sie nun vielemehre endgültige seie!“, begrüßte uns der Fusselwurm mit weit ausgebreiteten Beinpaaren, wobei sein pompöser Fusselbart bei jeder Lippenbewegung erzitterte, als würde er frieren, „Iche Sie habe bereits erwarte! Ihre Name seie Doktore Fye de Flourite und Kurogane Koimihare, isse nicht wahr? Und Sie seie Geschäftefreunde meines gutes Freundes Ten, isse nicht wahr?“ „Das ist es in der Tat!“, bekräftigte ich fröhlich und schüttelte die – zum Glück schmierseifenfreie – Pfote, die mir angeboten wurde, „Und Sie müssen demzufolge Matz Zenko-san sein!“ Der Fusselwurm nickte und beförderte mit einem gezierten Zucken seiner gewaltigen Schnobernase die halbmondförmige Brille, die seine bernsteinfarbenen Augen unnatürlich vergrößerte, an ihren richtigen Platz zurück. „Isse vollkommene richtig! Fühle Sie siche so frei, miche Matz zu nenne! Ten habe mir bereits vor wenige Minute gesagt, dass Sie baldigst komme werde, um zu gelangene nach Shimaboko, isse nicht wahr?“ „Absolut korrekt!“, bestätigte ich keineswegs verwundert – die Tratschsucht meines alten Geschäftsfreundes Ten war eben ein nicht zu unterschätzender Informationsfaktor –, „Ich hoffe doch, dass Ihnen das keine Umstände bereitet?“ „Aber keineswegse!“, beschwichtigte uns Matz sofort und führte uns mit wichtiger Miene über den Pier zu dem dort vertäuten, breitbauchigen Kutter, „Miche und meine Otter sinde mehr alse froh, Ihne helfe zu könne, vorausgesetzte Sie mache keine Blödsinn währende der Fahrte!“ Für meinen Leibwächter konnte ich nun wirklich nicht sprechen, dennoch nickte ich. „Wir werden unser Möglichstes tun, Ihnen nicht im Wege zu stehen.“ „Dasse freute mich. Es gibte jedoch eine winzkleinige Probleme“, erklärte unser Geschäftspartner in spe Ernst und strich sich über den fusseligen Schnauzer, „Meine Befugnisbereiche füre den Kaiyonnobannan endete bereitse eine bis zwei Kilometer vor Shimaboko, da ich, wie Sie vielleicht bereitse wissene, meine Lieferwege inne die nördliche Gewässer einschlagene. Und deshalb-…“ „Na wunderbar!“, fiel Kurogane ihm patzig ins Wort und funkelte ihn finster an, „Ein bis zwei Kilometer, selten so einen Blödsinn gehört! Wir sollen die restliche Strecke bis nach Shimaboko wohl schwimmen, was?“ Es gelang mir nur schwerlich, das Seufzen meiner Resignation angesichts Kuroganes Verhalten abzudämpfen, während Matz vor verletztem Stolz anschwoll wie ein Ballon, den man mit Teppichfransen beklebt hatte. „Ahhh!! Das isse ja kaum zu glaubene, Sie bösgemeine Ignorante! Iche wollte doch gerade sage, dass es eine Lösung gebe!“, empörte er sich und warf beleidigt den Kopf in den Nacken, „Ich wollte gerade sage, dass seit mehrere Woche etwa eine bis zwei Kilometer vor Shimaboko eine große, überaus stattliche Schiff ankere! Ich beabsichtige, Sie dort abzusetze, damitte Sie von dorte aus Shimaboko endgültige erreiche könne! Oder isse das etwa nix, häh?!“ Rasch ging ich dazwischen, ehe mein Bodyguard eine unnötig bissige Antwort zurückbellen konnte. „Aber gewiss ist das etwas!“, versicherte ich eilends im überzeugendsten Ton des Geschäftseifers, „Auf jeden Fall ist es eine gute Alternative! Wissen Sie möglicherweise, was genau auf diesem Schiff vor Shimaboko vor sich geht?“ „Nichte genau“, gab Matz zu, „Aber auf jede Fall seie es groß und überaus stattlich. Und nun folge Sie mir, Zeite iste Gelde, und Gelde iste Zeite!“ Nun ja. Besser als nichts. Mein übellauniger Kompagnon schien das jedoch anders zu sehen und motzte solange halblaut irgendetwas von wegen dreimal verfluchten Fusselwurmgeschäften und höllischer Schinderei, bis Matz ihn mit einem Silberblick beschoss, bei dem sogar er sich wieder zum Schweigen bequemte. Die Liebe auf diesem Pier war so deutlich zu spüren, dass es mir nahezu die Socken auszog. Diese Gedanken verzogen sich jedoch glücklicherweise wieder ins Abseits, als ich das Wassergefährt näher in Augenschein nahm, mit dessen Hilfe wir näher an unseren Zielort gelangen sollten. Wie alle Kutter besaß die ‚Otter‘ eine pfeilgerade, scharf geschnittene Rumpfform, die sich am Bug zu einem steilen, fast senkrechten Vorsteven – die vordere Rumpfverlängerung – aufwölbte und dem ansonsten truthahnhaft plumpen, schwerfälligen Schiffskörper die nötige Wendigkeit verlieh, um sich auch auf hoher See behaupten zu können. Da die Tide heute sehr gleichmäßig kam und ging und der Seegang für die Maienzeit erstaunlich still ausfiel, war nur eines der schweren, gischtfleckigen Rahsegel am wichtigsten und einzigen Mast, dem Schleppmast, gehisst und blähte sich zuweilen leicht in der warmen Brise. Der gesamte Rumpf des Kutters sowie die kleine, windschiefe Führerkabine und der Treppengang in den Schiffsbauch waren fleckenhaft weiß getüncht, bis auf die schmalen roten Schriftzeichen rechts Backbord, die ihm seinen Namen verliehen. Nicht gerade ein Luxusdampfer, aber auf jeden Fall ausreichend. „Man möchte bitte an Deck zu komme!“, ließ Matz hören und stieg gekonnt über die hölzerne Planke an Deck. Wir folgten kurzerhand seinem Beispiel. „Würde es Ihne etwasse ausmache, die Leine loszumache, wenn wir-…“, fing der maronenfarbene Fusselwurm an Kurogane gewandt an, doch auch diesmal ließ dieser ihn nicht ausreden. „Ich weiß, wann man die Leinen loszumachen hat“, erwiderte er ungerührt, „Falls ich es vor lauter Estragon nicht vergesse.“ Irgendwie hatte ich es mir bereits denken können, dass ihm der auffallende Kräuter- und Gewürzgeruch, der wie eine unsichtbare Glocke über dem Kutter hing, sauer aufstoßen würde, doch hätte er bescheidentlich angemerkt gar nicht viel Anderes erwarten können, wenn Ten uns den Kutter bereits als ‚Gewürzkutter‘ beschrieben hatte. Der beizende, appetitstimulierende Geruch von Estragon, Kardamom und schwarzem Pfeffer überwogen, doch es waren auch leichte Nuancen von Koriander, Zimt und Luzerne in dem wilden Durcheinander von Gewürzdüften wahrzunehmen. „Aaaahh!! Sie!!“, keifte Matz sofort wieder los, der die Bemerkung meines Leibwächters freilich nur als Beleidigung auffassen konnte, „Sie habe keine Ahnunge, welche Kostbarekeite iche hier mitte mir transportiere! Diese Gewürze betreibene eine gesamtene Gastronomie! Dasse iste infame! Dasse, dasse, dasse-…!!“ „Dessen sind wir uns vollstens bewusst“, lenkte ich ein und lud mit unternehmungslustigem Klatschen zum Aufbruch ein, „Und daher würde ich doch vorschlagen, dass wir nun die Leinen losmachen und das Meer uns leiten lassen!“ „Leinen sind schon los“, brummte der Schwarzhaarige abfällig und hielt demonstrativ das dicke Tau hoch, das bis eben noch an einem der Täuknäufe des Piers befestigt gewesen war. Matz warf ihm einen giftigen Blick zu und marschierte hoch erhobenen Hauptes in die Führerkabine, um das Steuerrad zu übernehmen. „Ganze rechte! Leine lose! Und gute festhaltene, vor allem Sie!“ Trotz meines Missmuts konnte ich deutlich spüren, wie sich der Schiffsrumpf unter unseren Füßen unter hohlem, knarrenden Ächzen und Stöhnen allmählich, von dem sanften Wind angetrieben, in Bewegung setzte. Na also. Shimaboko, wir kommen. In meinem Nacken spürte ich Kuroganes vorwurfsvollen Blick und wandte mich fragend zu ihm um. „Was gibt es?“ „Bis nach Shimaboko auf einem Gewürzkutter!“, schimpfte der Schwarzhaarige, „Die Idee kann nur von Ihnen gewesen sein! Und wehe, ich höre jetzt erste Person Plural!“ Gegen meinen Willen musste ich grinsen und schenkte meinem muffeligen Wegbegleiter einen treuherzigen Blick, während die Planken des Piers zunehmend weit hinter uns blieben. „Aber aber, Kuro-wan, bedenken Sie die Alternativen! Entweder können wir auf einem Gewürzkutter nach Shimaboko fahren, auf dem es aus unerfindlichen Gründen nach Gewürzen riecht, oder Sie freunden sich mit einem Delfin an und legen den Rest der Strecke schwimmend zurück! Na, wie klingt das?“ „Arrrrrrrrrrrrgh!!“ Erbost wirbelte mein Bodyguard herum und stieg, wie um seine Ruhe vor mir zu haben, kurzerhand die Treppe in den plumpen Bauch der ‚Otter‘ hinab. Ich ließ es geschehen und sah ihm fröhlich hinterher. Es mochte auf dieser Fahrt kommen, was wollte – fest stand, dass dank mehreren Pfund Estragon, Koriander, Kardamom und Zimt nun auch in dieser Gleichung das ‚wir‘ eindeutig dominierte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)