Licht ins Dunkel von abgemeldet (Kurzgeschichten verschiedener Charaktere) ================================================================================ Kapitel 8: Look after you - Michel & Marilène --------------------------------------------- Perlende Klavierklänge schwebten durchs Haus, einzelne Töne, die sich auf eine melodische Weise zusammenfügten und die Zuhörer verzauberte. Wenn es denn welche gegeben hätte. Denn außer dem dunkelhaarigen Jungen, der still in einer Ecke saß und die Klavierspielerin beobachtete, war niemand anwesend. Michel Travonts Gesicht war ernst, den Blick hatte er auf seine Schwester gerichtet. Seine Mutter beklagte sich häufig, dass er so selten lachte, während sein Vater die Ruhe des Jungen lobte. Michel kümmerte sich nicht um das, was seine Eltern sagten. Um wen er sich kümmerte, das war Marilène, seine jüngere Schwester. Selbst auf die Entfernung wirkte sie etwas kränklich. Das dunkelbraune Haar hatte sie locker hochgesteckt, sodass einige Locken verspielt herabfielen. Konzentriert blickte sie auf die Tasten unter ihren Fingern. Ihre Haut schien durchsichtig, obwohl sie nicht wirklich blass war. Marilène hatte die feinen Glieder einer Glaspuppe, sie wirkte so zerbrechlich, dass alle Leute um sie herum ständig in Sorge waren. Ihre Mutter war sogar soweit gegangen, dass sie das Mädchen inzwischen Privat unterrichten ließ, während Michel weiter normal zur Schule ging. Somit war der Vormittag die einzige Zeit, in der er seine Schwester nicht sah. Marilène ließ die letzten Töne verklingen und ließ die Hände dann auf den Tasten liegen. „Was denkst du?“, fragte sie Michel, ohne sich nach ihm umzusehen. Sie hatte sich schon längst an seine schweigsame Anwesenheit gewöhnt. “Ich denke, sie übertreiben.“, antwortete er. „Sie sollten mal etwas zurückschrauben.“ Das Mädchen nickte und griff nach einem Wasserglas, das auf dem Flügel stand. Sie steckte sich die glatte Pille, die daneben lag, in den Mund und schluckte sie mit etwas Wasser. Michel beobachtete Prozedur, die er schon auswendig kannte. „Sie können dich ja nicht ewig einsperren.“ Marilène rutschte vom Klavierhocker. „Eben. Aber auf dich hören sie ja auch nicht.“, klagte sie. “Sie hören auf niemanden.“, murmelte er. Das brachte ihre Stellung wohl mit sich. Michels und Marilènes Eltern waren eher einflussreich als berühmt, brachten aber trotzdem eine gewisse Eitelkeit mit sich. Während ihre Mutter eine fröhliche Frau war, die fast nichts ernst nahm, besaß ihr Vater zwar Ernsthaftigkeit, machte aber gern zweitklassige Witze, über die niemand außer ihm lachte. Geistesabwesend stellte Marilène an eines der großen Fenster. Leise murmelte sie ein einzelnes Wort, dass Michel erst nach kurzem Nachdenken verstand. “Wahrscheinlich.“ Knapp sieben Jahre später schrillte in einer dunklen Wohnung ein Telefon. Ein übermüdeter Michel tastete nach dem Hörer und überlegte, ob er nicht einfach gleich wieder auflegen sollte. “Michel Travont?“ Es konnte nur seine Mutter sein. Keiner sonst würde sich nicht die Mühe machen, erst mal zu erklären, wer sich am Ende der Leitung befand. „Marilène ist ausgezogen.“, erklärte sie ihm aufgeregt. Sie war schon immer viel zu besorgt um seine jüngere Schwester gewesen. Aber wenn er im Nachhinein darüber nachdachte, war diese Sorge durchaus berechtigt. Immerhin hatte sich Marilène innerhalb der letzten zwei Jahre drei Mal im Krankenhaus befunden. Michel unterdrückte ein Gähnen. „Ich weiß. Musst du mich deshalb mitten in der Nacht anrufen?“ Seine Mutter schien sich zu verschlucken. „Du wusstest davon? Und hast sie nicht aufgehalten?“ Genervt verdrehte Michel die Augen, was sie zum Glück nicht sehen konnte. „Sie ist neunzehn.“, erklärte er lahm. „Bald zwanzig. Lass sie doch ausziehen, wenn sie will.“ Bei ihm hatte sie doch auch nicht so ein Theater gemacht. “Aber stell dir vor, sie nimmt ihre Tabletten nicht mehr.“, jammerte seine Mutter. „Was, wenn sie sich dann irgendwas holt und wieder ins Krankenhaus muss und keiner merkt es? Was...“ “Ganz ruhig. Mari ist ein kluges Mädchen, sie weiß, was gut für sie ist.“ Den rebellischen Charakter ließ er hierbei mal weg. Zwar war Marilène, ebenso wie er, gut erzogen worden, allerdings hatte man ihr ihren Übermut nie ganz austreiben können. Irgendwann war sie zwar von selbst ruhiger geworden, allerdings gab es noch immer Anwandlungen an ihr früheres Wesen. “Sieh doch bitte nach ihr. Auf uns hört sie nicht.“ Michel seufzte. Warum bloß musste er immer den Vermittler zwischen den Fronten spielen? Am liebsten hätte er abgelehnt, aber irgendetwas hinderte ihn daran. „Ist gut, ich geh sie besuchen.“ Er gab sich geschlagen. „Mach dir keine Sorgen.“ Bevor sie antworten konnte, legte er auf. Den Rest der Nacht verbrachte er mit wirren Träumen, in denen schwarze Vögel die Fensterscheiben im Zimmer einschlugen, die für ihre geringe Größe erstaunlich viel Glas enthielten. Völlig gerädert und durch den vielen Kaffee mit viel zu viel Koffein im Blut setzte er sich am Morgen hinter das Lenkrad seines Kleinwagens. Wie auch Marilène, weigerte er sich, Geld von seinen Eltern anzunehmen. Zum einen nervte es ihn, wenn man ihm den Wohlstand ansah, zum anderen wollte er sich endlich von seinen Eltern lösen, die seiner Meinung nach viel zu sehr an ihren Kindern hingen. Den Wagen parkte er vor der Adresse, die Marilène ihm bereits vor einer Woche gegeben hatte. Es war eine Mietwohnung, das hatte er nicht anders erwartet, weder wirklich groß, noch klein. Die großen Fenster fielen ihm sofort auf, ihre Vorliebe für Licht war also geblieben. Als er klingelte, dauerte es nicht lange bis seine Schwester ihm aufmachte. Sie hatte keine Besuch erwartet, er sah es sofort an ihren Haaren, die ihr locker über die Schultern fielen. Normalerweise steckte sie diese immer hoch, wenn sie jemand besuchte, das hatte sich in den letzten Jahren nicht geändert. “Michel.“ Überrascht blickte sie ihn an. Er lächelte schief. „Hallo, Schwesterherz. Kann ich reinkommen?“ Immer noch verwirrt trat sie zur Seite, um ihn hereinzulassen. „Was tust du hier?“ “Darf ich dich nicht einmal mehr besuchen?“, fragte Michel zurück. Von einem Moment auf den anderen kam die Erkenntnis. „Ma schickt dich, nicht wahr?“ Michel war noch nie ein sonderlich guter Lügner gewesen, deshalb nickte er nur. „Du kennst sie ja. Sie macht sich ewig Sorgen, wegen nichts und wieder nichts. Davon mal abgesehen ist sie geschockt, dass du einfach ausgezogen ist. Aber vergiss sie mal einen Moment. Wie geht’s dir?“ “Gut.“ Es klang ehrlich, aber Marilène konnte sich schon immer besser verstellen als er. Er blickte sich um und sah zu den weißen Gardinen, die das Licht durchs Fenster ließen. “Hübsch.“, stellte er fest. „Aber kein Klavier?“ “Ich spiele nicht mehr.“, gab sie trocken zurück. Erstaunt warf er ihr einen Blick zu. Es war das Letzte, was er erwartet hätte, doch sie zuckte nur mit den Schultern. “Wie bezahlst du das eigentlich alles?“, wollte er wissen. “Ich arbeite. Ich verdiene zwar nicht viel, aber es reicht.“ Ihr Blick sagte etwas anderes. Er sagte Michel, warum sie nicht gewollt hatte, dass er jetzt hier auftauchte. “Du brauchst Geld.“ “Nein.“ “Doch, brauchst du.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet Michel, dass er recht hatte. „Ich kann nicht immer arbeiten gehen.“, gab sie zu. „Du weißt schon, Krankheiten und das alles.“ Er erinnerte sich an Tage, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Damals hatte sie gesagt, Gott müsse sie hassen, weil er sie so oft krank werden ließ. Inzwischen wusste sie es besser, aber anscheinend hatte sie sich immer noch nicht damit abgefunden. “Ich kann verstehen, wenn du unsere Eltern nicht darum bittest.“, sagte er lächelnd. „Aber du kannst nichts dafür. Und du weißt, dass du mich immer fragen kannst.“ “Ich will dich aber nicht bitten.“, erwiderte sie trotzig. „Immerhin bin ich ausgezogen, weil ich für mich selbst sorgen will.“ Michel schüttelte nur schweigend den Kopf. „Da kannst du machen, was du willst Schwester. Ab jetzt hast du mich am Hals.“ Eine Weile blickte Marilène ihn an, dann resignierte sie. „Wahrscheinlich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)