Licht ins Dunkel von abgemeldet (Kurzgeschichten verschiedener Charaktere) ================================================================================ Kapitel 6: Chevaliers de Sangreal - Jullien ------------------------------------------- Genervt saß Jullien auf der Wehrmauer der Burg, auf der er jetzt schon die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Der zehnjährige Junge war schon vor Jahren mit seiner Mutter Sefia, den beiden Assassinen Shareef und Arisha, dem Schwertmeister Ares und dessen Gefährtin Alecia aus dem heiligen Land nach Frankreich geflohen, um dem Tod zu entgehen. Kurz darauf hatte Alecia ihren Sohn Alessio zur Welt gebracht, was die Flucht erheblich schwieriger gemacht hatte. Das alles war jetzt ziemlich lange her. Waren es inzwischen acht oder neun Jahre? Jullien wusste es nicht. Er wusste auch nicht, ob sie jemals in dieses Land zurückkehren würden, an das er so gut wie keine Erinnerungen hatte. Er erinnerte sich daran, dass es sehr heiß gewesen war und er fast die ganze Zeit Durst gehabt hatte, aber das war auch alles. Seine Mutter redete nicht gerne darüber, da sie mit diesem Land auch eine Menge unangenehmer Erinnerungen zurückgelassen hatte, die sie jetzt nicht wieder hervorholen wollte und Shareef - die nächste Person, an die Jullien sich gewendet hatte, da er inzwischen fast so etwas wie ein Vater für ihn war – tat Sefia den Gefallen und erzählte ebenfalls nichts. Auch über seinen richtigen Vater hörte Jullien nie auch nur ein Wort. Das einzige was er wusste, war, dass Shareef nicht sein Vater war, wie er anfangs geglaubt hatte. Der Araber hatte ihn nicht anlügen wollen und es ihm deshalb erklärt. Offensichtlich hatte sich Sefia nicht freiwillig mit Julliens Vater eingelassen, sondern war gezwungen worden. Shareef meinte auch, dass Julliens Vater nicht der Typ war, den er gerne kennen lernen würde und Jullien glaubte ihm. Allerdings hatte das sein Verhältnis zu Shareef etwas geändert, denn es war nicht zu übersehen, dass er und seine Mutter ein Paar waren. Inzwischen spürte Jullien immer leichte Eifersucht in sich aufsteigen, wenn er daran dachte, denn Shareef war weder sein Vater, noch war er mit Sefia verheiratet und trotzdem verbrachten die beiden soviel Zeit miteinander. Noch unverständlicher war es für den Jungen, dass seine Mutter die Gefühle des Assassinen offensichtlich erwiderte, obwohl sie doch einen Sohn hatte. Dachte sie, Shareef könnte seinen Vater ersetzen, auch wenn er diesen nie kennen gelernt hatte? Am meisten verwirrte es Jullien, dass er Shareef ja eigentlich mochte. Er mochte seine ruhige Art und die Tatsache, dass er immer ein aufmunterndes oder tröstendes Wort wusste. Aber Jullien wollte ihn nicht mögen. Nun, eigentlich schon, aber er dachte, er dürfe ihn nicht mögen, immerhin war er nicht sein Vater und trotzdem mit seiner Mutter zusammen. Seine eigenen Gedankengänge irritierten Jullien. Betrübt stützte er den Kopf auf seinen Händen ab und blickte über den Horizont. Warum musste das alles auch so kompliziert sein? Wieso konnte nicht Shareef sein Vater sein? Dann wäre alles so viel einfacher. „Warum ziehst du so ein langes Gesicht?“, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm. Jullien zuckte erschreckt zusammen und drehte sich um. Vor ihm stand Arisha, Shareefs Schwester. Sie war die Einzige, die mit ihm über das heilige Land redete, weil sie selbst es auch nicht vergessen wollte. Von ihr hatte er das Wissen, das er darüber besaß. Sie war es auch gewesen, die ihn beruhigt hatte, als er mit fünf Jahren geglaubt hatte, in seinem Zimmer würde ein Geist wohnen, indem sie ihm erklärt hatte, die europäischen Geister seien harmlos, verlorene Seelen, die irgendetwas nicht zuende gebracht hätten. Die orientalischen Geister seien viel rachsüchtiger und vor allem blutrünstiger. Daraufhin hatte sie Jullien eine ganze Weile nach diesen Geistern und anderen Mythen gelöchert und war schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass Arisha selbst einer war –einer der guten Sorte, verstand sich- da sie die Angewohnheit hatte, sehr leise und plötzlich hinter einem aufzutauchen, meistens dann, wenn man am wenigsten mit ihr rechnete. So wie in dem Fall. Jullien fiel auf, dass er noch immer nicht auf ihre Frage geantwortet hatte. „Ich habe nachgedacht.“, sagte er. Die Assassinin ließ sich neben ihm nieder und sah ihn an. „Worüber?“ In diesem Punkt glich sie ihrem Bruder, sie konnte genauso gut mit Menschen umgehen. Zwar besaß sie nicht seine Verschwiegenheit, unerschütterliche Ruhe und Geduld, sondern war etwas hitziger, aber wenn man reden wollte, war sie eindeutig der bessere Ansprechpartner. „Über meine Mutter und Shareef.“ „Aha. Ein völlig neues Thema.“ Jullien bemerkte die leise Ironie in ihrer Stimme durchaus, aber er störte sich nicht groß daran. Das war eine weitere ihrer Eigenschaften, ihr beißender Sarkasmus. „Ich kann doch ruhig öfter darüber nachdenken. Außerdem, was machst du eigentlich hier?“ „Dich holen.“, antwortete sie, ohne auf seine erste Bemerkung einzugehen. „Alessio sucht nach dir.“ Alessio, der Sohn von Alecia und Ares, war knapp ein Jahr jünger als Jullien, besaß ebenfalls Sangreal und schwierige Eltern. Die beiden verstanden sich normalerweise sehr gut, aber es war nicht zu ignorieren, dass Alessio adliger Abstammung war – er war ein Saintclair. Sein Vater Ares war der Bruder der Herrin der Prieuré von Sion und deren Schwertmeister...oder war es zumindest gewesen, bis er zusammen mit Alecia, die auch eine Prieuré und verstoßen worden war, versucht hatte zu fliehen und dabei geschnappt wurde. Er hatte sich damit zum Verräter gemacht und war im Kerker der Prieuré gelandet, wieder gemeinsam mit Alecia. Sefia, die damals schon die Todesstrafe erwartete, hatte versucht die beiden zu befreien, ebenso wie Arisha. Beide waren erwischt worden, konnten aber mit Ares und Alecia fliehen, begleitet von Shareef, der weder Arisha noch Sefia allein irgendwohin gehen lassen wollte. Eine Zeit lang hatte zwischen Shareef und Ares ein angespanntes Verhältnis geherrscht, da der Assassine dem Europäer die Schuld an allem gab und jedes kleine Wort wurde als Beleidigung aufgefasst. Ein Glück, das Shareef nicht viel redete, denn Ares war das genaue Gegenteil des Arabers und mit der Hand schneller an der Waffe, als man „Sangreal“ sagen konnte. Mit der Zeit hatte sich das jedoch gelegt und beide hatten eingesehen, dass sie auf die Hilfe des jeweils anderen angewiesen waren, wenn sie überleben wollten. Freundschaft konnte man das bis heute zwar immer noch nicht nennen, aber zumindest zeigten sie sich jetzt gegenseitig ihren Respekt. Meistens jedenfalls, denn manchmal musste Ares immer noch klarstellen, wer von ihnen das Sagen hatte, was Shareef aber gleichmütig hinnahm. Solange er mit seiner Schwester, Sefia und deren Sohn zusammenleben konnte, war er zufrieden und da störten ihn auch Ares’ kleine Sticheleien nicht. Seufzend erhob sich Jullien und begab sich nach unten in den Hof. Ihm fiel auf, dass Arisha ihn und Alessio beobachtete, tat jedoch so, als bemerke er das nicht. Es war eine allgemein bekannte Tatsache, dass Arisha ab und zu auf die beiden Jungen aufpasste, damit deren Eltern mal Zeit für sich hatten. Und da sie die einzige der Erwachsenen war, die keinen Partner hatte, hatte sie auch genug Zeit, auch wenn sie immer wieder betonte, sie besäße nicht die Nerven, auf zwei laute, chaotische Kinder zu achten. Meistens fingen Alecia und Sefia dann an zu lachen, Ares gab einen abfälligen Laut von sich, Shareef lächelte milde und Arisha zog sich gespielt beleidigt zurück. „Hey, Jullien!“, riss Alessio seinen Freund aus den Gedanken. Auch wenn er erst neun Jahre alt war, besaß er bereits ein perfektes Äußeres. Sämtliche Erwachsenen, die ihn sahen, meinten, sie hätten noch nie ein so hübsches Kind gesehen. Er hatte die schwarzen Haare und das makellose Gesicht seines Vaters und die eisblauen Augen seiner Mutter, die jetzt noch kindlich groß waren und ihn niedlich wirken ließen, zugleich aber auch über seine Intelligenz hinwegtäuschten, die für sein Alter schon sehr groß war. Angeblich lag es am Sangreal, denn auch Jullien war seinem Alter weit voraus. Allerdings wurde er nicht ganz so bewundert, da seine Haut und seine Augen dunkler waren und Ausländer hier nicht so respektiert wurden. Seine Mutter, Shareef und Arisha hatten lange dafür kämpfen müssen, bis sie nicht mehr schief von der Seite angesehen wurden und auch jetzt gab es noch Menschen, die die drei am liebsten tot oder zumindest in einem anderen Land gewusst hätten. Sefia hatte Jullien geraten, einen großen Bogen um diese Leute zu machen und der Junge hielt sich pflichtbewusst daran. „Jullien!“, wiederholte sich Alessio, als keine Reaktion kam. „Was ist los?“ Jullien war wesentlich ruhiger als Alessio, der eine Energie besaß, die scheinbar nie zuende ging, auch ein Erbe seines Vaters. Allerdings verlor er nicht so schnell die Fassung und schaffte es auch zu lächeln, ohne das einem dabei ein kalter Schauer über den Rücken lief. Alessio erklärte ihm in Kurzfassung, dass er seinem Vater zwei seiner Dolche hatte abknöpfen können. Die beiden Jungen verband eine eigenartige Faszination von Waffen, sie konnten sich stundenlang darüber unterhalten. Ihr Gebettel, selbst kämpfen lernen zu dürfen, war aber abgelehnt worden. Jullien beäugte die Dolche skeptisch. Ihm gefiel die Idee nicht, schon jetzt mit wirklichen Waffen zu kämpfen. Besser, wenn sie noch mit ihren Holzschwertern trainierten, die sie in mühevoller Kleinarbeit hergestellt hatten. Alessio nickte zu diesem Vorschlag und legte die Dolche vorerst beiseite, um sich dann die Holzwaffen zu schnappen und damit auf seinen Freund loszugehen. Von oben betrachtete Arisha amüsiert, wie sich die Jungen gegenseitig bekriegten, ohne dabei wirklich eine Technik oder Vorgehensweise zu haben, als Shareef hinter sie trat. „Immer noch keine Nachricht von Yasif oder Ashraf?“, wandte sie sich an ihren Bruder. Er schüttelte den Kopf und betrachtete die beiden ‚Kämpfer’. An seinem Gesichtsausdruck erkannte Arisha, dass ihm die Waffenbegeisterung der zwei nicht gefiel. „Es ist nur ein Spiel.“, sagte sie aufmunternd. „Ja, aber wie lange noch?“ Shareef wandte den Blick ab und sah zu ihr. „Ab wann wird es Ernst?“ „Ich weiß es nicht.“ Arisha zuckte mit den Schultern. „Vielleicht nie, vielleicht bald. Keine Ahnung.“ „Sie sollten das Kämpfen nicht jetzt schon lernen.“, meinte er ernst. „Und du wirst es ihnen nicht beibringen, wenn sie dich darum beten.“ „Wie ihr wünscht, Sihdi.“, lachte Arisha und ignorierte seinen verärgerten Blick. „Lass das, Arisha. Ich meine es ernst.“ Sie bemerkte an seinem Tonfall, dass es wirklich so war. „Gut. Ich werde sie nicht trainieren. Zufrieden?“ Shareef nickte. „Danke.“ „Keine Ursache, Bruderherz.“ Ein weiterer strafender Blick, aber nicht ganz so ernst wie zuvor. Shareef konnte es nicht leiden, wenn man ihn mit „Herr“ ansprach. Andere Namen waren zwar besser, aber ebenso unerwünscht. Seine Schwester hob abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut. Ich hör ja auf.“ Der Assassine stützte sich auf der Wehrmauer ab und sah wieder auf die beiden Kinder hinab. „Denkst du, wir hören noch was von Yasif und Ashraf?“, wechselte er das Thema. Arisha folgte seinem Blick und schwieg eine Weile. „Nein.“, sagte sie schließlich. „Vielleicht sind sie tot. Und wenn nicht, kann es sie das Leben kosten, zu antworten.“ Shareef seufzte und wandte sich dann ab. „Grüß Sefia von mir.“, rief Arisha ihm hinterher. Er warf ihr einen undefinierbaren Blick über die Schulter zu. „Du siehst sie doch oft genug.“ Die Araberin zuckte mit den Schultern. „Trotzdem.“ „Meinetwegen.“ Mit diesen Worten verschwand Shareef und Arisha wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Jullien und Alessio zu, die den Holzschwertkampf aufgegeben und sich in den Schatten eines Baumes zurückgezogen hatten. „Vater meint, wir können bald zurück, nach...äh...wo auch immer wir vorher waren.“, meinte Alessio zum Älteren. Er hatte Arabien nie kennen gelernt. „Dann treffe ich meine Tante Lucrezia!“, fügte er noch hinzu, allem Anschein nach ganz aufgeregt. Bis vor kurzem hatte er nicht einmal gewusst, dass er eine Tante hatte. Auch Jullien freute sich. „Bleiben wir dann dort?“ Sein Freund zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Da muss ich Vater fragen. Aber ich denke nicht, dass wir dann noch woanders hingehen.“ Zumindest hoffte er das. Leicht bedauernd sahen die beiden sich um. Sie hatten die Burg mit den umliegenden Ländereien und dem nahen Dorf zwar ins Herz geschlossen, gleichzeitig wollten sie aber auch, dass sich endlich etwas veränderte. Und die Aussicht auf die eise in ein nahezu fremdes Land war da genau das Richtige. Eine Weile diskutierten sie, wie es dort wahrscheinlich werden würde und was anders sein würde als hier in Frankreich. Natürlich mussten sie sich erst mal an die Temperaturen gewöhnen, aber ansonsten konnten sie sich nicht vorstellen, worin die Veränderungen liegen würden. Dass es welche geben würde, war ihnen aber klar. Alessio lehnte sich zurück und verschränkte die Arme unter seinem Kopf. „Was denkst du, wie wird es?“ Jullien blickte erst zu ihm und dann zum Himmel, wo zwei Greifvögel ihre Kreise zogen. „Lassen wir es einfach auf uns zukommen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)