Licht ins Dunkel von abgemeldet (Kurzgeschichten verschiedener Charaktere) ================================================================================ Kapitel 2: Sometimes dead - Jaque --------------------------------- „Also dann, bis heute Abend.“ Selima Jones gab ihrem Freund einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sah ihm nach, wie er das Gebäude verließ. Dann drehte sie sich zu den Schreibtischen um. An einem saß ihr Kollege, der jetzt die Zeitung zusammenfaltete und sie ansah. „Ich wusste gar nicht, dass du schon wieder einen Freund hast.“ Sie seufzte. „Sei nicht albern, Jaque. Ich muss dich nicht über jeden neuen Schritt informieren.“ „Das hab ich nie behauptet. Es überrascht mich bloß, dass du nicht mit dem gleichen jungen Mann unterwegs bist wie letzte Woche.“ „Ich hab dir doch schon mal erklärt, ich will mein Leben genießen, solange ich noch jung bin.“ Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken. „Nicht jeder hat so eine romantische Einstellung vom Leben wie du.“ Jaque begann zu lachen und Selima zog einen Schmollmund. „Ich hasse es, wenn du mich auslachst.“ „Das tue ich doch gar nicht.“ „Und ob du das tust! Aber ich hab doch recht.“ Sie schüttelte den Kopf und stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Tischplatte ab. „Deine letzte Freundin liegt fünf Jahre zurück, fünf! Du kannst doch nicht ewig auf ‚die Richtige’ warten.“ Ein amüsiertes Lächeln umspielte Jaques Lippen. „Wir werden sehen. Aber du solltest was an deiner Einstellung ändern.“ „Denkst du etwa, für mich gibt es ein Happy End?“ „Wer weiß?“ „Jetzt bist du wirklich albern.“ Ihr Kollege zuckte mit den Schultern. „Das macht der allabendliche Einfluss von Film und Fernsehen. Das kann ja nur schiefgehen.“ „Du solltest mal ausgehen.“ „Ich bitte dich...“ „Wirklich! Wenn du nicht so viel arbeiten würdest...“ „Was ich nicht tue!“ Selima ließ sich nicht beirren. „Wenn du nicht so viel arbeiten würdest, hättest du auch mal Zeit für dein Privatleben und dann könntest du- hör auf, so zu grinsen!“ „Das kannst du mir nicht verbieten.“ „Und ob ich das kann!“ Sie warf ihm einen giftigen Blick zu. „Und unterbrich mich nicht immer.“ „Du hast dich doch unterbrochen.“ „Ach, still. Wo war ich?“ „Bei meinem Privatleben.“ „Richtig. Du hättest bestimmt eine Freundin.“ „Ich will doch gar keine.“ „Falsch, du kriegst keine.“ Jaque zog eine Augenbraue hoch und klopfte auf die Zeitung. „Erzähl keinen Blödsinn.“ „Tu ich nicht. Wenn du nicht so schrecklich...konservativ wärst...“ „Ich bin nicht –!“ Das Klingeln des Telefons unterbrach die Diskussion. Jaque zischte noch ein „-konservativ!“ in Selimas Richtung und nahm den Hörer ab, bevor sie etwas erwidern konnte. Selima beobachtete Jaque, während er zuhörte, was derjenige an der anderen Leitung zu sagen hatte. Er hatte den Blick auf das Telefon gerichtet, als wäre das sein Gesprächspartner und nicht die Person am anderen Ende der Leitung. Das Schweigen wurde länger, es hing bedrohlich im Raum und in diesem Moment wusste Selima, dass es Probleme gab. Sie stand auf und nahm ihre und Jaques Jacke. In diesem Moment legte Jaque mit einem bestätigenden „Wir kommen.“ auf und erhob sich. Er sah leicht verwirrt aus, als Selima ihm seine Jacke reichte, nahm sie dann aber wortlos an sich und ging zum Auto, nachdem er die Nachricht durchgegeben hatte. Selima setzte sich auf den Beifahrersitz, überschlug die Beine und wartete darauf, dass Jaque ihr erzählte, was vorgefallen war. Er ließ nicht lange darauf warten. „In der ‚Jefferson High’ ist einer der Schüler durchgedreht. Er hat eine Waffe bei sich, hat sich in der Sporthalle eingeschlossen und lässt niemanden an sich ran. Der Rektor meint, er sei nicht für Geld und gute Worte dazu zu bewegen, die Waffe wegzulegen.“ Selima legte den Kopf schief und sah ihn ungläubig an. „Sie haben es mit Geld versucht?“ Jaque lächelte schwach. „Ich denke nicht. Sonst würde bald jeder Schüler, der sein Taschengeld aufstocken will, einfach mal ein wenig in der Gegend rum schießen. Angeblich soll der Schüler nicht einmal schlechte Noten haben und er ist eigentlich auch ganz beliebt in der Klasse. Er hat keine Geldprobleme, trinkt den Angaben zufolge keinen Alkohol, raucht nicht und nimmt keine Drogen. Keiner weiß, warum gerade er jetzt solche Probleme macht.“ „Das hast du alles aus dem kurzen Gespräch mit dem Rektor?“ „Er hat sehr schnell geredet.“, erklärte Jaque, während er den Wagen durch den Großstadtverkehr Richtung Schule manövrierte. Er überfuhr mehrere rote Ampeln und als Selima ihn darauf aufmerksam machte, winkte Jaque nur ab und meinte, wer bei der Polizei sei, dürfe so etwas. „Das ist bestimmt der Grund, weshalb du zur Polizei gegangen bist.“, stichelte Selima, wurde aber wieder ernst, als sie vor der Schule hielten, vor der sich eine ziemlich große Menschenmenge versammelt hatte. Ein großer Mann mit Halbglatze und im braunen Anzug kam auf sie zu, während er aufgeregt mit den Armen fuchtelte. Anscheinend war er der Direktor. Ihm folgte ein nervös wirkender, zusammengesunkener Mann mit Hornbrille und schütterem Haar, der vom Rektor mit dröhnender Stimme als „Mister Joulie“ vorgestellt wurde. Mister Joulie hatte, wie Jaque und Selima mit der Zeit aus der Erzählung des Rektors heraushörten, die Klasse unterrichtet, in der auch Mark gewesen war, „So heißt er nämlich, wissen sie?“ Er hatte Mark zum Lösen einer Aufgabe nach vorne gebeten und in dem Moment hatte der Junge die Waffe gezogen und angefangen, herumzuballern. Anschließend sei er in Rekordzeit in die Sporthalle gerannt und hatte die Türen verbarrikadiert. Als Selima sich bei Mister Joulie nach der Art der Waffe erkundigte und wie viel Schuss Mark abgegeben hätte, sagte der Lehrer, er könne sich nicht erinnern. Er schien unter Schock zu stehen, seine Haut war ungewöhnlich blass und seine Hände zitterten und wollten damit gar nicht mehr aufhören. Jaque erkundigte sich, ob es Verletzte gäbe, was sowohl der Lehrer als auch der Rektor verneinten, woraufhin Jaque ihnen riet, trotzdem einen Krankenwagen anzurufen. Man konnte ja nie wissen. Außerdem hatte es den Anschein, dass Mister Joulie ein gutes Beruhigungsmittel gebrauchen könnte. Sein Handy begann monoton zu Summen. Jaque gab Selima ein Zeichen, bitte ohne ihn weiterzufragen und ging dann dran. Es war Harry Kyle, sein Vorgesetzter. Kaum hatte Jaque sich gemeldet, begann er auch schon zu wettern. „Was soll das? Wieso sind sie noch nicht drin?“ Jaque ließ sich Zeit mit seiner Antwort, es war besser, seinen Chef nicht zu reizen. „Entschuldigen sie Sir, aber der Junge ist bewaffnet. Ich dachte, wir warten besser auf-„ „Gedacht, soso! Sie werden aber nicht fürs Denken bezahlt. Der Kerl ist doch alleine, oder?“ „Ja“ „Und Junge, sagen sie? Wie alt ist er? Vierzehn, fünfzehn?“ „Siebzehn, Sir.“ „Na also! Sie werden doch wohl zu zweit mit einem Siebzehnjährigen fertig werden, der keine Ahnung von Waffen hat!“ „Entschuldigen sie, Sir, aber das ist nicht geklärt. Vielleicht hat er in seiner Freizeit-„ Kyle ließ ihn nicht einmal aussprechen. „Papperlapapp, alles Ausflüchte! Sie wollen mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass ein sechzehnjähriger-“ „Siebzehn“ „-ein siebzehnjähriger Junge gegen zwei ausgebildete Polizisten ankommt?“ „Das habe ich nie behauptet.“ „Was soll dann die Rumjammerei?“ „Ich habe lediglich gesagt...“ Kyle schlug einen neuen Ton an. „Hören sie mal zu.“, zischte er aggressiv. „Entweder sie gehen da jetzt rein und bringen diesen Burschen wieder zur Vernunft oder ich komme persönlich vorbei und dann können sie sich auf was gefasst machen!“ Er legte ohne ein weiteres Wort auf. Mit einem Seufzen schob Jaque das Handy zurück. Es war ein offenes Geheimnis, dass er Kyle nicht ausstehen konnte und Kyle verheimlichte nicht, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Selima beendete ihr Gespräch mit den beiden Männern und kam zu ihm. „Sie wollen nicht, dass wir mit den Schülern reden.“, erklärte sie. „Sie haben Angst, dass die Schüler überreagieren.“ Sie ahnte offensichtlich nicht, wie das Gespräch mit Kyle verlaufen war, denn sie fuhr munter fort: „Weißt du, was der Grund ist, warum deine letzte Freundin sich von dir getrennt hat? Du hast sie zu viel sich selbst überlassen. Wenn du ihr mal ein wenig hinterher gerannt wärst...“ Natürlich hatte sie recht. Jaque genoss seine persönliche Freiheit sehr und ging davon aus, dass jeder andere Mensch das auch tun wollte. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um über längst vergangene Beziehungen zu reden, über deren Ende er ihm Nachhinein froh war. „Kyle will, dass wir den Schüler aus der Halle holen.“ Sie runzelte die Stirn, verwirrt über seinen offensichtlichen Widerwillen. „Natürlich müssen wir das.“ „Er will, dass wir es jetzt tun, ohne die Verstärkung.“ Auch auf Selimas Gesicht zeichnete sich jetzt Unglauben ab, der im krassen Gegensatz zu ihren Worten stand. „Nunja, er ist der Chef, oder?“ „Selima! Du kannst doch nicht wirklich...Das ist unverantwortlich!“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er zerreißt uns in der Luft, wenn wir nicht das machen, was er sagt.“ Damit wandte sie sich ab und ging zielstrebig auf das Schulportal zu. Kopfschüttelnd folgte Jaque ihr. Er hatte ja gewusst, dass sie vieles sehr locker nahm, aber bis jetzt war sie immer vernünftig gewesen. Kurz hinter den Türen holte er sie ein. Selima hatte ihre Waffe bereits gezogen. „Das ist Irrsinn.“, beschwerte sich Jaque, aber er tat es ihr nach. Gemeinsam gingen sie den Flur zur Sporthalle entlang. Die Türen der Halle waren rot und aus Stahl. Jaque verspürte keine Lust, diese Türen aufbrechen zu müssen, aber bevor er etwas in dieser Richtung andeuten konnte, hatte Selima bereits die Klinke gedrückt. „Sie ist offen.“, sagte sie verblüfft. „Der Rektor meinte doch, der Schüler habe sich verbarrikadiert.“ „Vielleicht hat er sie wieder aufgeschlossen.“ „Wozu?“ „Um dumme, kleine Polizisten reinzulocken, die nicht vorhaben auf die Verstärkung zu warten.“ Selima sah ihn einen Augenblick lang an. „Ich glaube nicht, dass er daran gedacht haben könnte.“ Sie legte einen Finger auf die Lippen und schlüpfte dann in die Halle. Jaque hätte ihr gerne zum wiederholten Male gesagt, wie unüberlegt sie handelte, aber er verkniff es sich. Immerhin wollte er den Amokläufer nicht unnötig auf sich aufmerksam machen. Die Halle schien leer. Ein paar Geräte, Barren und Kästen, standen noch herum, sowie einige Matten. Offenbar war hier eine Sportstunde abgebrochen worden. Jaque begann die Halle an der Wand entlang zu umrunden, Selima tat es ihm an der anderen Seite nach. Anscheinend war wirklich niemand anwesend, hinter den Kästen hatte sich jedenfalls keiner versteckt. Aber wo war er dann? Jaque warf seiner Kollegin einen Blick zu, die nur hilflos mit den Achseln zuckt und sich umdrehte, um zur Tür zurückzugehen. Plötzlich riss sie die Augen auf. „Jaque!“ Ihre Stimme klang panisch. Alarmiert wirbelte Jaque herum. Im selben Augenblick spürte er, wie die Kugel seine Schulter traf. Brennende Schmerzen schossen durch seinen Körper. Krampfhaft hielt er seine Waffe fest und zielte auf die Tribüne, auf der der Amokläufer stand und die Selima und Jaque übersehen hatten. Der Junge kümmerte sich gar nicht darum, ob er sein Opfer getroffen hatte oder nicht, sondern richtete seine Waffe auf Selima. Sie sah ihn nicht, weil sie zu Jaque rannte, aus Sorge um ihn. „Selima, nicht!“ Jaques Warnung kam zu spät. Es war kein Geräusch zu hören, aber die Kugel hatte eindeutig getroffen. Selima ging zu Boden. Jaque fluchte und suchte hinter einem der Kästen Deckung. Der Junge war verdammt zielsicher und offensichtlich benutzte er einen Schalldämpfer. In Gedanken verwünschte er Kyle und sah zu seiner am Boden liegenden Kollegin. Sie rührte sich nicht; er konnte nicht sagen, ob sie noch lebte. Und wo war dieser verdammte Junge hin? Die Tribüne war wie leergefegt. Jaque erhob sich und sah sich um. Er hörte Schritte. Mark kam also die Treppe herunter. Das dumpfe Pochen in seiner getroffenen Schulter ignorierend, hob Jaque die Waffe. Er ging auf den Durchgang zu, der zur Treppe führte und drückte sich gegen die Wand. Er musste nicht lange warten. Mark schien es offensichtlich nicht für notwendig zu halten, sich umzusehen. Jaque wunderte sich gar nicht erst, woher diese unglaubliche Arroganz kam. Was er bemerkte, war die entsicherte und geladene Pistole in der Hand des Jungen, um dessen Abzug sich der Zeigefinger krümmte. Er wusste also Bescheid, oder vermutete zumindest etwas. Jaque entschied sich gegen die übliche „Hände hoch und Waffe auf den Boden“- Floskel und zog Mark kurzerhand mit der Waffe eins über den Hinterkopf. Schwierige Situationen erforderten nun mal schwierige Maßnahmen. Jaque ließ den ohnmächtigen Schüler liegen, wo er war und ging, nachdem er ihm die Waffe abgenommen hatte, zu Selima. Der Blutfleck zeichnete sich deutlich auf ihrer Bluse ab, aber zumindest atmete sie noch. Jaque hob sie vorsichtig hoch. Sie reagierte nicht. Was sollte er auch erwarten? Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass Mark noch eine Weile liegen bleiben würde. Dann verließ er die Halle. Offenbar hatte der Lehrer seinen Rat befolgt, jedenfalls stand ein Krankenwagen vor der Schule. Einer der Sanitäter entdeckte ihn und reagierte sofort. Er nahm ihm Selima ab, brachte sie zum Wagen und begann sich mit zwei seiner Kollegen um sie zu kümmern. Jaque ließ den Blick schweifen. Er fühlte sich seltsam dumpf, als wäre nichts von allem wirklich geschehen. Gleichzeitig überkam ihn große Erleichterung. Selima befand sich in ärztlicher Behandlung. Sie lebte. Das war die Hauptsache. „Jaque!“ Einer der Kollegen vom Präsidium hastete ihm entgegen. „Wir sind eben angekommen. Was ist passiert? Wo ist-?“ Er brach ab. „Meine Güte, du blutest ja!“ Jaque winkte ab. „Halb so schlimm, Carl. Kannst du mir einen Gefallen tun? Könntest du den Amokläufer aus der Sporthalle holen? Er ist ohnmächtig.“ Carl nickte und winkte zwei anderen Polizisten, die ihm daraufhin in das Gebäude folgten. Mit einem erleichterten Seufzer lehnte Jaque sich gegen sein Auto. Nur am Rande bekam er mit, wie der Krankenwagen mit heulenden Sirenen und Blaulicht abfuhr. Als ein Sanitäter sich ihm näherte, um sich um seine Schulter zu kümmern, ließ er die Prozedur schweigen über sich ergehen. Er nutzte die Gelegenheit, den Mann nach dem Krankenhaus zu fragen, in das Selima gebracht wurde. Kaum war der Sanitäter mit seiner Arbeit fertig und hatte ihm die Adresse genannt, stieg Jaque in sein Auto. Kyle konnte warten. Jaque musste nicht lange warten, bis er mit einem der Ärzte sprechen konnte. Auf seine Frage nach Selimas Zustand, machte der Mann ein bekümmertes Gesicht, was sein Gesicht noch faltiger wirken ließ, als es ohnehin schon war. „Die Kugel hat ihre linke Herzkammer gestreift.“, erklärte er. „Wir mussten operieren, um sie zu entfernen. Die Kugel, meine ich.“ Jaque ahnte nichts Gutes. Das Zimmer schien plötzlich um mehrere Grad kälter zu werden. „Schafft sie es?“ Eine Weile herrschte Schweigen. Dann schüttelte der Arzt den Kopf. „Nein. Sie wird es nicht schaffen. Tut mir Leid.“ Jaque atmete tief durch, während er versuchte, zu verstehen, was das bedeutete. Etwas in ihm weigerte sich dagegen, etwas, das sagte: Noch lebt Selima, sie kann es schaffen. Sie muss. „Kann ich zu ihr?“ Der Arzt tat Jaque den großen Gefallen ,nicht nachzufragen, ob er zur Verwandtschaft gehörte. Er ließ ihn zu Selima ins Zimmer. Sie war an einen Haufen Geräte angeschlossen, deren Bedeutung Jaque nicht kannte. Ihre Haut stellte fast keinen Kontrast zur Bettdecke dar. Die persönlichen Gegenstände –Schlüssel, Handy, Ausweis und Portmonee- hatte jemand auf einen kleinen Nachttisch neben dem Bett gelegt. Sie schien zu schlafen. Jaque nahm auf einem der Stühle Platz. Er betrachtete seine junge Kollegin. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, sah sie friedlich aus, aber das Lächeln, dass sie sonst immer auf den Lippen hatte, war verschwunden. Er dachte darüber nach, wie eng die Verbindung zwischen ihnen beiden war. Selima hatte oft gescherzt, sie ständen kurz davor ein Paar zu werden, aber das war nie geschehen. Letztlich waren sie nur Freunde und Kollegen geblieben. Aber fast zwei Jahre lang war Selima die einzige Person gewesen, zu der er Kontakt hatte. Sie war ihm ans Herz gewachsen und er hatte vor, sich wenigstens von ihr zu verabschieden, wenn er sie schon nicht retten konnte. Gegen ein Uhr morgens scheuchte eine Krankenschwester ihn aus dem Zimmer und sagte, er könne morgen wiederkommen. Ohne große Widerreden fuhr Jaque nach Hause zu seiner kleinen Mietwohnung. Eigentlich hätte er in Deutschland ein Haus besessen, dass er nach dem Tod seiner Eltern geerbt hatte, aber er hatte sich vorgenommen, sich alles selbst zu erarbeiten. Noch so eine Sache, die Selima nie verstanden hatte, neben seiner Warterei auf die Richtige. Jaque ging ins Bad. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch immer das blutige Hemd trug. Er zog es aus und ließ es zu Boden fallen. Der Verband um seine Schulter hatte sich gelockert. Anstatt ihn wieder festzuziehen, legte er auch ihn ab, zusammen mit seinen restlichen Kleidungsstücken. Dann drehte er den Warmwasserhahn seiner Dusche voll auf und ließ sich das heiße Wasser auf die Haut prasseln. Der Schmerz in seiner Schulter war auf seine Weise wohltuend, er lenkte ab. Jaque duschte solange, bis kein warmes Wasser vorhanden war, danach legte er sich schlafen. Sein Wecker begann um sechs Uhr zu klingeln. Jaque brachte ihn zum Schweigen und rief dann im Präsidium an, um sich krank zu melden. Er wollte Kyle wenn möglich aus dem Weg gehen und außerdem wollte er zurück ins Krankenhaus, selbst wenn er dort nichts tun konnte. Zwei Wochen lang verbrachte Jaque den größten Teil seiner Zeit im Krankenhaus. Die Geräte zeigten an, dass Selima lebte, aber ansonsten gab sie keinerlei Lebenszeichen von sich. Erst vierzehn Tage nach ihrer Einlieferung schlug sie die Augen auf und war sichtlich erfreut, Jaque zu sehen. „Weißt du“, sagte sie schwach. „Ich denke, du hattest von doch recht mit deiner Einstellung. Ich kann mir richtig vorstellen, dass du mal Vater wirst.“ Sie lächelte müde. „Aber es scheint kein Happy End für mich geben.“ Jaque hätte ihr gerne gesagt, dass es nicht so war, aber er wollte sie nicht anlügen. Selima deutete sein Schweigen richtig. Sie schloss die Augen. „Ich habe es dir von Anfang an gesagt.“, murmelte sie. „Danke, dass du gekommen bist. Das bedeutet mir sehr viel.“ Jaque erwiderte nichts. Jetzt, wo es soweit war, wusste er nicht, was er sagen sollte und so wartete er darauf, dass Selima weiterredete, doch sie tat es nicht. Erst nach einer Weile bemerkte er den monotonen Pfeifton. Über das EKG zog sich eine gerade, grüne Linie. Jaque wandte den Blick wieder Selima zu. Er drückte kurz ihre Hand. „Viel Glück, wo auch immer du jetzt bist.“ Dann verließ er das Zimmer, um in seine kleine Wohnung zu fahren. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, überkam ihn ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Kurzfristig entschloss er sich, nach Deutschland zurückzukehren. Er konnte sofort packen, ein Haus besaß er ja. Und vielleicht schaffte er es, den Schmerz durch Selimas Verlust zu mindern, wenn er das Land verließ. Während des Packens stieß er auf einen Stapel Fotos. Er musste sie nicht durchsehen, um zu wissen, dass sie Selima zeigten, manchmal mit diversen Freunden. Sie hatte ihn immer gebeten Fotos zu schießen. Ohne zu überlegen, schob er sie in einen Briefumschlag und warf diesen in den Koffer. Viel hatte er ohnehin nicht zu packen, außer Kleidung und einigen Kleinigkeiten besaß er nichts. Er reservierte sich über Telefon einen Platz in einem Flugzeug nach Berlin und meldete sich dann bei seinem Vermieter ab. Jetzt kam der Teil, der ihm am wenigsten behagte. Nachdem er den Koffer auf der Rückbank und den Rucksack auf dem Beifahrersitz verstaut hatte, fuhr er ins Präsidium. Ohne diverse Kollegen zu beachten, die ihn ansprachen, ging er zu Kyles Büro und trat ohne anzuklopfen ein. Kyle saß hinter seinem Schreibtisch, das Gesicht hinter einer Zeitung verborgen. Er legte sie nieder, als Jaque die Tür schloss. „Ah, Claudé!“, schnauzte er. „Bequemen sie sich also auch mal wieder her!“ „Zum letzten Mal.“, erwiderte Jaque. Er fischte in seiner Jackentasche nach dem Ausweis und warf dabei einen Blick auf die Zeitung. ‚Amokläufer verurteilt’, teilte die Überschrift mit, darunter folgten Informationen über Marks Verhandlung und Selima, die zu dem Zeitpunkt noch gelebt hatte. Von beiden war ein Foto abgebildet, das aussah wie ein Passbild. Jaque wandte den Blick ab und legte seinen Ausweis auf den Tisch. „Sie werden in Zukunft ohne mich auskommen müssen.“ Kyle schlug einen neuen Ton an. „Hören sie, Claudé, was soll das?“, fragte er mit weicher Stimme. „Sie sind ein guter Polizist, noch ein Vierteljahr und ihre SWAT-Ausbildung ist beendet. Wollen sie das alles so hinwerfen? Was wollen sie denn tun?“ „Ich wüsste nicht, was sie das angeht.“ Kyles Tonfall blieb einfühlsam und passte überhaupt nicht zu dem, was er danach sagte: „Sie sollten sich keine Vorwürfe machen, immerhin können sie nichts dafür, dass Jones nicht intelligent genug war, um zu...“ In Jaque zerbrach der letzte Widerstand zur Realität, der ihn bis jetzt geschützt hatte. Zorn und Trauer brachen über ihm zusammen. Seine Hand knallte auf die Tischplatte und schnitt Kyle so das Wort ab. „Fangen sie gar nicht erst von Selima an“, sagte er, vor unterdrückter Wut zitternd. „Wenn einer überhaupt nichts für das, was passiert ist, kann, dann ist sie es!“ „Jetzt beruhigen sie sich mal wieder!“, rief Kyle erschrocken. Jaque dachte gar nicht daran. „Falls es sie interessiert, Selima ist vor nicht einmal drei Stunden gestorben.“ Er bekam seine Stimme wieder unter Kontrolle und trat einen Schritt zurück. „Das war dann alles.“, sagte er kühl und ließ den sprachlosen Kyle in dessen Büro. Spät am Abend landete in Berlin das Flugzeug, das Jaque zurück in sein Heimatland gebracht hatte. In der Halle des Flughafens ließ er sich auf eine Bank sinken und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er hatte seinen Wagen in Amerika verkaut und damit seine letzte Verbindung zu diesem Land gelöst. Jaque ließ die Hand auf das kühle Metall der Bank sinken und zog sie sofort wieder zurück, als er etwas Pelziges berührte. Erstaunt sah er auf das graue Kätzchen, das neben ihm auf der Bank saß und ihn unverwandt anstarrte. Es maunzte jämmerlich. „Hey, was ist denn mit dir los?“ Jaque kraulte die Katze zwischen den Ohren. ‚Verrückt’, dachte er bei sich. ‚Jetzt rede ich schon mit einer Katze.’ Er besah sich das verwahrloste Tier genauer. Eine der Pfoten war blutverkrustet, die Katze selbst abgemagert. Sie sah nicht aus, als ob sie jemandem gehören würde. „Wo bist du her?“, fragte er die Katze, ohne eine Antwort zu erhoffen. Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. Auf verrückte Weise erinnerte sie ihn an Selima. „Sieh mich bloß nicht so an!“ Das Tier begann, seine Finger abzulecken. Jaque seufzte und hob sie hoch. „Na gut.“, sagte er. „Schauen wir mal, was wir für dich tun können.“ Mit der Katze im Schlepptau ging er zum Haus seiner toten Eltern. Während er den Schlüssel hervorsuchte, den er schon vor Monaten per Post erhalten hatte, beobachtete er die Katze, die er im Stillen nach seiner toten Kollegin benannt hatte. Kaum war die Tür offen, war sie auch schon hineingeflitzt. Jaque folgte ihr nach drinnen und legte den Fotoumschlag auf eine Kommode, wo er sie auch ließ. Er warf noch einen Blick auf Selima, die sich auf dem Teppich zusammengerollt hatte und ließ sich dann aufs Sofa sinken, den protestierenden Schmerz seiner Schulter nicht beachtend. Er brauchte erstmal Ruhe, um seine nächsten Schritte zu planen. Die Schritte, mit denen er sein Leben neu aufbauen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)