Joker von Anshie ================================================================================ Kapitel 1: Joker ---------------- Titel: Joker Serie: Death Note Genre: shonen-ai, drama Pairing: Raito x L Warnung: etwas brutal in manchen Szenen Disclaimer: Ich verdiene damit (leider) kein Geld und die Charaktere gehören auch nicht mir. Ich leih sie mir nur aus. ^_~ Beta: Ryusei Widmung: Ryusei Anmerkung: „Weißt du was ich an ‚Joker’ liebe? Dass man bis zum Ende nicht weiß, wer wessen Joker ist.“ Zitat von Ryusei. Ich habe mich über diese Aussage wahnsinnig gefreut. Denn bisher konnte ich nicht wirklich erklären warum die Story Joker heißt. Es klingt cool und fängt mit ‚J’ an wie alle meine ersten DN FFs. ^^’ Aber ihr Grund klingt doch wesentlich professioneller. ~*~ = J O K E R = ~*~ „Kawashima Masanori, 40, Vergewaltigung und Mord von vier Mädchen Katamura Tatsuya, 37, Drogenbesitz, Diebstahl, mehrmalig gefährliche Körperverletzung Tanaka Asato, 42, Entführung, versuchter Mord. Heute Nachmittag, alle drei an Herzversagen gestorben. Im Abstand von jeweils einer Stunde. Auf die Minute genau...“ Der Ermittler ließ den Daumen nachdenklich über die trockenen Lippen fahren, rutschte noch etwas tiefer in seinen Bürostuhl. Bald konnte Raito von seinem Platz aus nicht mehr viel von ihm erkennen. Nur ein schwarzer Haarschopf lugte noch hervor. Der Rest des Gesichtes war verdeckt von eng an den Körper geschlungenen Beinen und noch darum gelegten Armen. Raito schwieg und wandte den Blick wieder ab. Er saß auf seinem Stuhl, einen halben Meter weiter, starrte auf einige Unterlagen und sah dabei sehr geistesabwesend aus. Ob er wirklich über die jüngsten Opfer nachdachte? Darüber wie er Kira fassen konnte? Oder darüber ob er selbst als Kira bisher auch ja keine Fehler gemacht hatte? Der junge Student merkte nicht einmal, wie die Aufmerksamkeit des Schwarzhaarigen plötzlich ihm zugewandt wurde. Still beobachtete L seinen Partner und gleichzeitig auch Gegner – in welchem Sinne auch immer. „Yagami-kun“, wurde Raito plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Er zuckte kurz, kaum sichtbar zusammen, drehte sich dann wieder zu L um. „Hm?“ „Hörst du mir überhaupt zu?“ „Natürlich.“ Gelogen. Er hörte ihm schon seit mindestens einer Stunde nicht mehr zu. Das hieß... wenn L innerhalb der letzten Stunde überhaupt etwas gesagt hatte. Bis auf das x-te Wiederholen der Namen von Opfern der letzten Tage – nein Wochen – hatte der Detektiv nicht viel Spannendes zu erzählen. „Was hab ich gerade gesagt?“, fragte L provozierend. „Kawashima Masanori, 40, Vergewaltigung und Mord von vier Mädchen. Katamura Tatsuya, 37, Drogenbesitz, Diebstahl, mehrmalig gefährliche Körperverletzung. Tanaka Asato, 42, Entführung, versuchter Mord. Heute Nachmittag, alle drei an Herzversagen gestorben. Im Abstand von jeweils einer Stunde. Auf die Minute genau...“, wiederholte Raito wortwörtlich, recht schnell und ohne Pause. L verstummte. „Okay“, meinte er dann, wandte den Blick wieder von Raito ab und widmete sich seinem Tee. Jedoch nicht ohne vorher noch das fünfte Stück Zucker darin zu versenken. Auch Raito wandte den Blick wieder ab, blickte stattdessen über seine linke Schulter und stellte fest, dass nun auch sein Vater endgültig eingeschlafen war. Matsuda hatte sich schon vor einer halben Stunde verabschiedet und die anderen sogar noch früher. Etwas träge stand Raito auf, lief zum Sofa hinüber, bückte sich und schüttelte Soichiro Yagami an den Schultern. „Vater, wach auf.“ Erst nach einigen Augenblicken gab der Mann, dessen Gesicht, seit er am Kira-Fall arbeitete, erstaunlich tiefere Falten aufwies, ein leises, mürrisches Brummeln von sich. „Ich krieg dich schon, Kira!“, murrte er. „Wart’s nur ab!“ „Vater!“, wiederholte Raito diesmal etwas lauter, rüttelte ihn noch einmal wach. Endlich öffnete der Leiter der Kommission die Augen, blickte seinen Sohn an. „Es ist spät“, meinte dieser knapp. „Du brauchst nicht die ganze Nacht hier zu bleiben. Geh und ruh dich aus.“ Mit einem weiteren Grummeln setzte sein Vater sich auf, hustete kurz, fuhr sich mit der Hand fahrig über die Stirn und streckte sich. Die Überanstrengung war ihm deutlich anzusehen. „Geht es in Ordnung, Ryuzaki, wenn ich-“ Er hatte sich an L gewandt. Dieser unterbrach ihn jedoch sofort. „Selbstverständlich, Yagami-san. Gönnen Sie sich eine Pause“, sagte er lächelnd. Raito beobachtete kritisch, wie sein Vater sich erst jetzt erhob und mit einem faden Nicken langsam aus dem Raum taumelte. Dass L selbst seinen Vater so unter Kontrolle zu haben schien, passte ihm nicht. Sogar ganz und gar nicht. Im Moment jedoch konnte er dagegen rein gar nichts tun. Und selbst wenn er es gekonnt hätte, so wäre es doch dumm gewesen. Er sollte sich hier nicht als Ls Rivalen oder gar Feind zeigen, sondern als dessen Freund und Partner. Mit diesem Gedanken setzte er sich wieder an seinen Platz und griff erneut nach dem Stapel Papiere, die er bis eben durchgegangen war. Es dauerte jedoch keine Sekunde bis L ihn schon wieder unterbrach. „Bist du nicht auch müde, Yagami-kun?“, fragte er, diesmal ohne den Blick vom Computerbildschirm zu nehmen. „Es geht“, gab Raito ehrlich zu. Ja, er war schon müde. Aber nach Schlafen war ihm dennoch nicht zu Mute. Er legte einige Blätter zur Seite, warf einen Blick auf die nächsten, die er in der Hand hatte. Doch er sollte nicht dazu kommen, das Geschriebene zu lesen, da L schon wieder das Wort ergriff. „Was denkst du, wie viele Menschen wird Kira wohl noch töten bis ich ihn stelle?“ Allein dieser Satz machte Raito wütend. Wie er es sagte. Mit so viel Selbstsicherheit in der Stimme. Als stünde es schon irgendwo geschrieben, dass er ihn auf jeden Fall stellen würde. Als würde er in diesem Moment eine Wette mit Raito abschließen wollen wie viele Opfer es noch erforderte, bis es endlich so weit war. Und er sagte: „ICH werde ihn stellen“ – nicht etwa ’wir’ oder ’man’. Raito wusste nicht, ob er es unbewusst tat, oder mit blanker Absicht, aber er machte damit ohne Zweifel deutlich, dass er sich nicht nur sicher war, dass Kira gefasst würde, sondern auch, dass er sicher war, dass er, L, es sein würde, der ihn fasste. Wenn er nur wüsste... „Wer weiß das schon?“, antwortete Raito schlussendlich und klang dabei müde – obwohl dieser Tonfall wohl mehr seine Gereiztheit überdecken sollte. Er legte die Unterlagen für heute endgültig weg. „Kira vielleicht?“ Diese Antwort kam mal wieder wie aus der Pistole geschossen. So als hätte L schon im Vornherein gewusst, was Raito antworten würde und sich seine Antwort darauf wiederum zurechtgelegt. Wie ein Tonband, das er nur noch im passenden Moment abspielen musste. Während dieser Worte hatte L den Blick vom grellen Computermonitor ab- und dafür Raito zugewandt. Nun musterte er ihn schon wieder mit diesen großen, runden Eulenaugen. Raito hielt dem Blick stand. „Wieso fragst du dann mich?“ Er hatte geredet ohne nachzudenken. Das passierte ihm selten. Wenn überhaupt, dann schaffte es nur L ihn soweit zu bringen. Und das war ein verdammter Schwachpunkt. „Ich habe keinen Grund dich anzulügen, Yagami-kun“, meinte L, unterbrach den starren Blick in Raitos braune Augen und trank einen Schluck von seinem Tee. Dann nahm er eine der Pralinen aus der Verpackung und steckte sie in den Mund. „Ich halte es nach wie vor für möglich, dass du Kira bist.“ Ein ironisches Lachen drang über Raitos Lippen. „Wir hatten dieses Thema schon oft genug. Du hast gesagt, wenn ich es nicht bin, dann habe ich keinen Grund es dir beweisen zu müssen. Und da ich es nicht bin, sehe ich keinen Grund, weiter darauf einzugehen.“ Mit diesen gut überlegten und konsequent gesprochenen Worten griff Raito nach der Computermaus und widmete sich dem Gerät. Einen Moment lang glaubte Raito, dass L sich zufrieden geben würde, doch da hatte er sich enttäuscht. Über den Rand, den seine verschränkten Arme vor seinem Gesicht bildeten, starrte L ihn weiter still schweigend an. „10 %“, dachte er. Raito merkte sehr wohl, dass er beobachtet wurde und er hasste dieses Gefühl. Dennoch lies er sich nichts anmerken. Erst Ls nächste Worte brachten ihn dann doch dazu, sich erneut zu ihm umzudrehen. „Ich würde fast meinen Namen preisgeben um zu erfahren, was du gerade denkst.“ Raito warf ihm einen sichtlich überraschten Blick zu, fasste sich dann jedoch schnell wieder und wandte den Blick ab. „Ich will deinen Namen gar nicht wissen.“ „Sicher nicht?“ „Wenn, dann nur aus reiner Neugierde und nicht um dich damit umzubringen.“ Diesmal war es an L, leicht zu grinsen. Er begann eine Tafel Schokolade auszupacken und sprach dabei weiter. „Warum sonst solltest du darauf neugierig sein, Yagami-kun? Weißt du was ich glaube? Ich glaube, du willst ihn erst recht weil du weißt, dass du ihn nicht so einfach kriegen wirst. Die Namen nahezu aller anderen Menschen kannst du mit deiner Gerissenheit mit Leichtigkeit herausfinden. Nur meinen nicht.“ Raito spürte erneut Wut in sich aufkommen, unterdrückte sie jedoch. Den Blick starr auf den Computermonitor vor sich gerichtet biss er sich gereizt auf die Unterlippe, verkniff es sich aber sofort als er es selbst merkte. „Hör auf, Ryuzaki, das ist doch lächerlich“, sagte er und stellte sogleich fest, dass es ihm doch nicht zu hundert Prozent gelungen war die Stimme ruhig zu halten. „Ich finde es nicht lächerlich“, widersprach L seelenruhig und brach das erste Stück von der Schokoladentafel ab. „Damit bist du mir unterlegen und das ärgert dich, weil du nicht verlieren kannst.“ In diesem Moment war Raito ruckartig aufgestanden, und hatte die Hände wütend auf die Tischplatte vor sich gestemmt. „Hör auf mit mir zu reden, als wäre ich Kira!“, schrie er, holte aus und- Mit einem Klirren zersprang die Teetasse, die bis vor wenigen Sekunden neben L gestanden hatte, am Boden neben dessen Stuhl. Und dann herrschte für einen Moment Stille. L sah ihn etwas ratlos an. Seine schwarzen Augen wirkten noch größer in der Dunkelheit des Raumes wo nur das stechende Licht der Computerbildschirme auf sie fiel. Raito hatte L nicht getroffen – nur der verschüttete Tee. „Tut mir leid“, brach Raitos nun mehr als leise Stimme endlich das Schweigen. „Ich... kehr das auf. Bleib sitzen.“ Und damit kehrte er ihm den Rücken und verließ den Raum. „8 %“, dachte L, legte den Finger nachdenklich an die Lippen und starrte auf die Scherben und die Teepfütze vor ihm auf dem sonst so makellos weißen Boden. Wenig später kam Raito mit einer Schaufel und einem Besen zurück und machte sich daran, das Unglück zu beseitigen. L saß währenddessen nur regungslos auf seinem Stuhl, blickte nach vorn auf Raito herab und machte nicht einmal Anstalten, sich zu erheben und ihm zu helfen. Als Raito schließlich fertig war, erhob er sich und murmelte knapp: „Entschuldige mich. Ich bin müde.“ Er nahm die Schaufel und den Handbesen in eine Hand, ging zu seinem Platz zurück und fuhr den PC herunter. „Ich geh schlafen.“ Dann ließ er L alleine. ~ „Yagami-kun.“ Ein leiser, ruhiger Tonfall. ... „Yagami-kun.“ Diesmal etwas lauter und ungeduldiger. ... „Kira!“ Blitzartig saß Raito kerzengerade in seinem Bett und blickte überrascht in ein paar große, runde Eulenaugen, nur wenige Zentimeter vor sich. „11 %“, murmelte L mehr zu sich selbst gesagt, als zu Raito. Kaum war dieser wach, da hatte er schon wieder schlechte Laune. Selbstverständlich. Wer wurde schon gerne von einer übergroßen Eule, die es sich dazu noch auf seinen Beinen bequem gemacht hatte, geweckt? „Kira hat wieder zugeschlagen“, erklärte L trocken und machte dabei keinerlei Anstalten, vom Bett aufzustehen. „Mach dich fertig!“ Damit erhob er sich schlussendlich und verließ das Zimmer. Mit einem Seufzen ließ Raito sich wieder zurück fallen und schlug mit den Fäusten links und rechts von sich noch einmal auf das weiche, weiße Kissen ein. „Verdammt!“, murrte er. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Er war gestern schon wütend gewesen, aber eigentlich war er davon ausgegangen, dass seine schlechte Laune sich über Nacht wieder legen würde. Stattdessen war sie nun noch viel schlimmer. Nicht nur, dass er es sowieso hasste geweckt zu werden – nein, dann noch von IHM und dann noch dieses... „Mach dich fertig.“ War das ein Befehl? Raito würde sich von ihm keine Befehle erteilen lassen. Er war der Allerletzte, der ihm etwas zu sagen hatte. Und dennoch konnte er jetzt nicht anders als aufzustehen. Als er wenig später den stets düster wirkenden Raum mit den Computern erreichte, saß L schon längst wieder in seiner üblichen Aufmachung, mit seinen üblichen Süßigkeiten, in seiner üblichen Haltung auf seinem üblichen Stuhl. Neben ihm das Ermittlungsteam. Nur Matsuda war nicht da, da er mit Misa zu einem Termin musste. Soichiro Yagami sah nicht aus, als habe er letzte Nacht, nachdem er sich von seinem Sohn und L verabschiedet hatte, noch geschlafen. Bald konnten seine Augenringe und Blässe L Konkurrenz machen. „Guten Morgen“, begrüßte Raito alle und ließ sich dann auf dem Bürostuhl neben L nieder. „Gut würde ich ihn nicht nennen“, entgegnete L. Jetzt widersprach er sogar schon seinem morgendlichen Gruß. Raito ohrfeigte sich für seine Gedanken. Seit wann achtete er auf solche Nichtigkeiten? L drehte den Computerbildschirm etwas in Raitos Richtung und begann: „Urashima Takato, 43. Nachdem seine Frau herausbekommen hatte, dass er es war der die Nachbarstochter vergewaltigt und umgebracht hatte, tötet er sie mit sechs Messerstichen. Anschließend ertränkte er beide Kinder in der Badewanne. Er saß seit drei Monaten hinter Gittern. Vor drei Stunden starb er an einer Herzattacke.“ „Ich weiß“, dachte Raito. „Verstehe“, sagte er stattdessen und warf einen Blick auf den Bildschirm, wo Fotos vom Tatort und des Opfers zu sehen waren. Dann wandte er sich wieder L zu. „Du hast die Details sehr gut im Kopf“, stellte er fest. Natürlich wusste L immer welche Taten Kiras Opfer begangen hatten, aber dass er die Einzelheiten so genau ausführte kam doch selten vor. Außer Raito war diese Tatsache natürlich niemandem aufgefallen und so erntete er lediglich erstaunte und zugleich bewundernde Blicke. „Das liegt daran, dass ich es war, der den Mann hinter Gitter gebracht hat“, erklärte L knapp. Raito musterte ihn einen Moment lang stumm. Keinerlei Regung auf dem blassen Gesicht. Überhaupt sah man allgemein recht selten irgendwelche Emotionen bei dem schwarzhaarigen Detektiv. Es war äußerst schwer zu erahnen was er dachte. Selbst für Raito. „Aizawa-san, Mogi-san. Dürfte ich Sie bitten, zum Tatort zu fahren? Watari erwartet Sie dort. Ich würde Sie bitten sich dort noch einmal umzuschauen“, wandte L sich an die beiden Männer. Diese nickten und gaben nur ein knappes Einverständnis, eh sie sich auf den Weg machten. „Ich kümmere mich solange um-“, begann Raitos Vater und kehrte ihnen ebenfalls den Rücken, wurde jedoch von L aufgehalten. „Sie kümmern sich um gar nichts, Yagami-san.“ „Bitte?“ „Ich bin nicht blind, Yagami-san. Und man muss auch nicht besonders scharfsinnig sein um zu merken, dass Sie nicht gesund sind.“ „Selbstverständlich bin ich-“ Wieder wurde er unterbrochen. „Ich möchte, dass Sie sich ausruhen.“ Raito hätte es nie gewagt, so mit seinem Vater zu reden. L hatte wirklich keinerlei Respekt. Aber Recht hatte er trotzdem. Mal wieder. „Er hat Recht, Vater“, fasste Raito seine Gedanken in Worte und drehte den Bürostuhl, auf dem er saß um, so dass er seinen Vater ansehen konnte. „Du hast dich wirklich überanstrengt in den letzten Tagen.“ „Raito, selbst wenn ich mich jetzt ausruhen wollte, könnte ich es nicht!“, protestierte sein Vater, kehrte ihm dann den Rücken und hielt sich hustend die Hand vor den Mund. Er regte sich viel zu schnell auf. „Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als es zu versuchen“, meinte L tonlos und zog den Teller mit dem Kuchenstück, der neben ihm auf dem Tisch stand, näher zu sich. „Ich werde Sie nicht hier arbeiten lassen, während Sie körperlich so labil sind.“ „Aber Ryuzaki, Sie können doch nicht-“ „Vater!“ Diesmal war es Raito der ihn unterbrach. „Ich bitte dich. Hör auf ihn!“ Soichiro warf seinem Sohn einen unsicheren Blick zu, hatte den Mund schon zum Widersprechen geöffnet. Doch dann schloss er ihn ohne einen Laut und schluckte geschlagen. „Ich bin in spätestens zwei Stunden wieder hier“, erklärte er stur und verließ den Raum. Raito drehte seinen Stuhl seufzend wieder um. „Das ist so typisch für ihn“, dachte er laut und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Er ist ein Arbeitstier“, meinte L knapp und aß ein Stück von seinem Kuchen. Raito nickte abwesend, murmelte dann ein „Ich geh frühstücken“, stand auf und ließ L alleine zurück. Als er bereits nach einer halben Stunde zurückkam, fand er L vor wie immer. Nur, dass er anstelle des Schokoladenkuchens nun einen Donut aß. Raito nahm wieder Platz und schaltete den Computer vor sich ein. Eine Weile schwiegen Sie beide und brüteten über ihren Unterlagen. Das hieß... einer von beiden tat zumindest so. Ein mürrisches Schnauben seitens L unterbrach irgendwann die Stille. Als Raito sich zu ihm umdrehte, sah er, wie der Ermittler sich mit äußerst verdrießlicher Miene auf dem Daumen herumkaute. „Was ist los?“, fragte er darum. „Nichts, ich ärgere mich bloß“, kam es – dafür dass er sich ärgerte – doch noch immer recht ruhig von L. „Worüber?“ „Über Kira, was sonst? Es demotiviert mich, ihm so scheinbar hilflos zusehen zu müssen.“ Diesmal klang er schon weniger ruhig. Es war amüsant für Raito mit anzusehen, wie er seinen Feind so aus der Ruhe brachte. „Darf ich dich etwas fragen, Ryuzaki?“, fragte Raito. Seine gute Laune war mit Ls aufkommender schlechter Laune zurückgekehrt. „Nur zu.“ „Du hast mich mal gefragt, was ich denke, was Kira für ein Mensch ist. Mal davon abgesehen, dass du mich für Kira hältst... was denkst du, wie ist er?“ „Im Moment denke ich er ist ein egozentrischer, rechthaberischer Möchte-gern-Todesengel.“ Raito konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. So hatte er das sonst so rationell denkende Genie noch nie erlebt. Aber das war es nicht gewesen, worauf Raito hinausgewollt hatte. „Mir ist deine Mimik aufgefallen, als du vorhin über das jüngste Opfer gesprochen hast“, merkte er an. „Es schien dir nicht besonders Leid zu tun, dass Kira ihn umgebracht hat. Mich würde interessieren, wie du dazu stehst.“ L steckte sich das letzte Stück Donut in den Mund und trank einen Schluck Tee. „Ich bin der Meinung, niemand hat das Recht über Leben und Tod eines anderen Menschen zu urteilen“, sagte er dann. „Auch nicht Kira. Er ist kein Gott...“ Raito stützte nachdenklich den Kopf auf dem Arm ab, hörte still zu. „Er wird Gott sein“, dachte er und grinste innerlich. „ICH werde Gott sein. Du wirst schon sehen, mein lieber L!“ „Ich denke, diese Verbrecher haben im Gefängnis lange genug Zeit um über ihre Fehler nachzudenken. Versteh mich nicht falsch, Yagami-kun. Sie tun mir nicht leid, das hast du richtig erkannt. Aber ich denke, es gäbe bessere Wege.“ Raito nickte stumm. „Ich verstehe“, sagte er und fixierte dabei einen Punkt irgendwo auf der Armlehne von Ls Stuhl. Mit einem süffisantem Lächeln und einem Blick in Ls schwarze Augen fügte er hinzu: „Und ich finde deine Ansichten wie immer höchst interessant, Ryuzaki.“ „Danke“, entgegnete L knapp. „Wie denkst du darüber?“ Raito atmete tief ein und seufzte. Er blickte nach oben und überlegte. „Ich denke...“, begann er nachdenklich. „Ich denke man sollte diesen Menschen das antun, was sie ihren Opfern angetan haben.“ Er wandte seinen Blick wieder L zu und lachte kurz. „Natürlich geht das nicht. Wie du schon gesagt hast, niemand hat das Recht über Leben und Tod eines anderen Menschen zu urteilen. Aber es wäre gerecht.“ Jeder andere hätte daraufhin Raitos Lächeln erwidert oder lachend zugestimmt. Aber natürlich nicht L. „Bist du dafür, die Foltermethode wieder einzuführen, Yagami-kun?“, fragte er trocken und blickte ihn vollkommen ernst und interessiert aus seinen großen Kulleraugen an. „Das habe ich nicht gesagt“, grinste Raito. Und nun stahl sich auch auf Ls Gesicht ein zaghaftes Lächeln. Wenn es auch nur aus dem minimalem Anheben eines Mundwinkels bestand und verdächtig zweideutig aussah. In diesem Moment unterbrach ein Klingeln ihre Unterhaltung, welches Raito als sein Handy erkannte. „Entschuldige mich.“ Er stand auf und lief hinüber zum Sofa und dem kleinen Tisch, auf dem sein Handy lag. „Ja?... Ah, Shiori!“ L widmete sich derweil wieder seinem Computer, nebenbei einem Muffin und beachtete Raitos Telefonat nicht weiter. Zumindest schien es so. „Tut mir leid, ich hab momentan leider wirklich viel um die Ohren...“, entschuldigte sich Raito bei seiner Freundin von der Uni. „Natürlich melde ich mich! ...Ja, dir auch. Bis dann.“ Seufzend drückte er den Auflegknopf des Handys, ließ es aufs Sofa fallen und streckte sich ausgiebig. „Yagami-kuns Freundinnen müssen ganz schön zurückstecken, seit er am Kira-Fall arbeitet“, stellte L fest, ohne sich nach ihm umzudrehen und zerpflückte dabei weiter seinen Muffin. Raito indes bemerkte kritisch, wie L plötzlich bei seiner Anredeform, ihm gegenüber zur dritten Person gewechselt hatte. Ärgerte es ihn, dass Shiroi ihr Gespräch unterbrochen hatte? Zugleich entnahm Raito Ls Äußerung überrascht, dass der Schwarzhaarige auf seine Beziehungen achtete. Aber warum? Hoffte er vielleicht früher oder später über eines der Mädchen etwas Verhängnisvolles über ihn herauszubekommen? Nein, für so dumm, dass Raito ihnen etwas erzählen würde, konnte L ihn nicht halten. „Ja, da hast du Recht“, antwortete er seufzend und ging wieder zu ihm herüber. „Dabei hätte ich schon Lust mal wieder etwas zu unternehmen.“ Er wollte Ls Reaktion testen. Er verstand nicht wirklich, warum L dieses Thema überhaupt angesprochen hatte. War das vielleicht gar nichts Tiefsinniges? Nur wieder ein Schauspiel, um ihre vorgegaukelte Freundschaft zu intensivieren? Mit L über Frauen zu reden konnte Raito sich jedenfalls nicht vorstellen. Als L nicht vorzuhaben schien, zu antworten, war Raito sich erst recht unsicher darüber, was L mit dieser Diskussion bezwecken wollte. Er entschied sich, es zu riskieren. „Hattest du noch nie eine Beziehung, Ryuzaki?“, fragte er, während er sich wieder an seinen üblichen Platz setzte. Die Antwort darauf kam etwas zu schnell für seinen Geschmack. „Nein.“ L steckte sich ein Stück Muffin in den Mund. In seiner Stimme lag keinerlei Unsicherheit oder gar Verlegenheit. Jedoch auch nichts wie Gleichgültigkeit oder gar Hohn. „Ich sehe keine Bedeutung darin.“ Vollkommen neutral. Raito lachte. „Was ist die Bedeutung von Liebe?“, fragte er rhetorisch. „Geht es denn bei Yagami-kuns Beziehungen um Liebe?“, fragte L zurück und das schon wieder, ohne auch nur eine Sekunde über seine Antwort nachgedacht haben zu müssen. Und mit dieser Äußerung hatte er Raito ertappt. Er schleuderte ihm diese Wahrheit, sein Wissen über die Art von Raitos zwischenmenschlichen Beziehungen, so direkt entgegen, dass Raito beinahe sprachlos war. Und es dauerte tatsächlich einige Sekunden bis Raito eine passende Konter darauf einfiel. Eine Antwort, die wiederum so direkt war, dass sie als Gegenangriff ausreichte, um L aus dem Konzept zu bringen. „Gegenfrage“, begann er schließlich. „Hast du nie Lust auf Sex?“ Das saß. L, der gerade ein weiteres Stück Muffin in den Mund stecken wollte, stoppte in seiner Bewegung, klappte den Mund wieder zu und blickte Raito verdutzt an. „Ich habe gar keine Zeit für so etwas“, erklärte er dann trocken wie immer. „So etwas?“, dachte Raito. Das passte zu L. Das passte wie die Faust aufs Auge, dass er Sex als ‚so etwas’ bezeichnete. Raito grinste triumphierend. „Dann hattest du noch nie Sex?“, stichelte er weiter. Er wusste nicht einmal wieso er es tat. Im Prinzip brachte es ihm in seiner Aufgabe kein Stück weiter. Und dennoch war es amüsant zu beobachten wie L auf solche Themen reagierte. Aber jetzt schien es selbst diesem zu bunt zu werden. „Warum willst du das wissen?“, fragte er. Es entging Raito nicht, dass er ihn nun wieder mit der ersten Person und somit um einiges persönlicher ansprach. Also hatte er es doch geschafft, ihn aus der Bahn zu werfen. Ein kleiner, unbedeutender Sieg, aber dennoch ein Sieg. „Ich wüsste nicht, wie dir diese Information helfen könnte, meinen Namen herauszufinden.“ „Darf ich nicht mit dir reden, ohne dass du denkst, es ginge mir darum?“ Raito legte bewusst einen etwas enttäuschten Tonfall in seine Stimme. „Doch – ich frage mich nur wozu-“ Diesmal lag es an Raito, ihn absichtlich zu unterbrechen. „Ich dachte, wir wären Freunde, Ryuzaki“, sagte er, doch es klang mehr nach einer Frage. Eine Frage und eine Anschuldigung zugleich. Als wäre er enttäuscht darüber, dass L ihm so misstraute. Er spielte seine Rolle gut. L antwortete nicht. Nicht einmal ein Lächeln. Nach einer ganzen Weile, kam ein zaghaftes „Natürlich“, über seine blassen Lippen, dann widmete er sich wieder seinem Computer. ~ „Vater wird heute noch nicht wieder kommen“, teilte Raito der Sonderkommission zwei Tage später mit und legte das Handy zur Seite. Matsuda, Mogi, Aizawa und Watari saßen auf den beiden Sofas um einen kleinen Tisch, der so voll von Unterlagen und außerdem so unordentlich war, dass es ein Ding der Unmöglichkeit geworden war, dort noch etwas hinzustellen. Nur Raito und L schafften es merkwürdigerweise nach wie vor hier den Überblick zu behalten. „Er hat jetzt auch noch richtig schön Fieber bekommen“, seufzte Raito und setzte sich auf die breite Lehne des freien Sessels. L, der sich als einziger nicht zu ihnen gesellt hatte, sondern wie so häufig vor einem der Monitore klebte, trank seinen Tee aus und meinte dann: „Kein Wunder. Ich hab ihm gesagt, er soll sich eine Pause gönnen.“ Daraufhin nickte Matsuda. „Der arme Chef“, meinte er besorgt. „Er hat sich die letzten Wochen einfach zu viel in den Fall hineingesteigert.“ „Und dass Ryuzaki nach wie vor ständig durchsickern lässt, dass er Raito-kun für Kira hält, tut den Nerven vom Chef bestimmt auch nicht gut“, fügte Aizawa anschuldigend hinzu. L jedoch ignorierte diese offensichtliche Kritik gekonnt mit einem Schweigen. Vielleicht wollte er auch gerade antworten, als sie von einem Klingeln unterbrochen wurden. L griff wieder nach der Maus und klickte herum bis eine der Videoüberwachungen auf seinem Bildschirm erschien. Der Eingang des Gebäudes war zu sehen und Misa Amane stand mit einem hübsch verpacktem Päckchen und einem breiten Lächeln davor. „Was will die...“, murmelte L in sich hinein und ließ den Finger dabei unbewusst über die Lippen fahren. Oder in diesem Fall eher davon abrutschen. „Yagami-kun“, rief er dann über die Schulter. „Du hast Besuch.“ Raito drehte sich um und sah über Ls schwarzen Haarschopf den Monitor. Seine Gedankengänge waren in diesem Moment ähnlich wie Ls Murmeln wenige Sekunden vorher. Allerdings merkte von diesen Gedanken keiner der Anwesenden etwas. Er stand von der Sofalehne auf, ging hinüber zu L und legte ihm bewusst beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Er wusste, dass es L nicht passte, wenn Misa einfach so hier auftauchte. Im Prinzip hatte sie ja auch nichts hier verloren. „Tut mir leid, Ryuzaki, ich hab ihr gesagt, dass-“ „Kein Problem“, unterbrach der Ermittler ihn. Er unterbrach ihn! Raito versuchte es zu ignorieren. „Sie ist Yagami-kuns Freundin. Es ist nur verständlich, dass sie ihn ab und zu sehen will.“ „Ist das für DICH verständlich?“, dachte Raito und musste in Gedanken grinsen. Und schon wieder ’Yagami-kun’ statt ’du’. „Danke“, antwortete er schlicht, beugte sich etwas über L nach vorn und zog das Mikro näher. „Mach das Mikro an, ich schick sie trotzdem weg.“ L machte sich nicht die Umstände Raito Platz zu machen. Bei jedem anderen hätte er sich geduckt oder zur Seite gebeugt – nur bei Raito störte es ihn nicht, wenn er ihn berührte. Raito war eine Ausnahme. Vielleicht, weil er das Gefühl hatte, mit ihm auf einer Stufe zu stehen. „Wieso?“, fragte er, griff nun selbst nach dem Mikro und mit der rechten Hand nach der Maus über die es sich einschalten ließ. „Misa-san“, sprach er leise ins Mikro. Die wartende Misa auf dem Bildschirm blickte auf, schaute sich um, entdeckte dann die kleine Kamera über der breiten Eingangstür – oder vermutete sie wohl zumindest dort irgendwo. Jedenfalls schaute sie halbwegs in die richtige Richtung, lächelte und sagte: „Ryuzaki-san, bist du’s? Ist Raito da? Ich hab...“ Sie hielt das kleine Päckchen in ihren Händen höher in Richtung Kamera. „...Kuchen für ihn. Und für dich und Matsuda-san und die Anderen natürlich auch, wenn ihr wollt.“ Ihr Lächeln wurde noch etwas breiter. „Klar, komm rein“, antwortete L ohne Zögern, drückte dann einen weiteren Knopf, der ein Piepen und Türöffnen auslöste. Raito warf einen skeptischen Blick auf L hinab, schüttelte dann wortlos den Kopf und richtete sich wieder auf. Er streckte die Arme und lief zurück zu den Anderen zur Sitzecke. „Kuchen?“, fragte Matsuda mit freudigem Unterton. Und auch der Rest der Gruppe sah nicht sehr abgeneigt aus. Kein Wunder, wenn man bedachte, wie lange sie heute schon wieder gearbeitet hatten, scheinbar sinnlos recherchiert. Und nun kam eine hübsche Dame mit Essen. Es gab eigentlich kaum etwas Besseres. Raito hingegen sah das anders. Jedes Aufeinandertreffen von L und Misa war ihm ein Dorn im Auge, machte ihn nervös. Misa mochte ihm gegenüber loyal sein, aber sie war dennoch ein Tollpatsch. Sie könnte sich so leicht verplappern. Jeder Kuchenkrümel könnte für L ein weiterer Grund sein, Raito zu verdächtigen. Nachdem Raito sich wieder auf die Sessellehne gesetzt hatte, verließ auch L seinen üblichen Platz vor dem Computer und gesellte sich zu ihnen. Er hatte sich gerade – die Beine an den Körper gezogen wie immer – neben Raito auf den Sessel gesetzt, als es gut zwanzig Mal aufeinander folgend an der Tür klopfte. L verdrehte die Augen, doch keine Sekunde später fiel sein Blick auf Matsuda, der ihm einen verwunderten Blick zuwarf. Schnell setzte L sein Pokerface wieder auf. Dieses Augenrollen war nicht für die Augen anderer bestimmt gewesen. „Ich geh schon“, meinte Matsuda prompt, stand auf und ging Misa aufmachen. L begann wieder auf seinem Daumen herumzukauen. „Guten Tag die Herren!“, begrüßte Misa die Versammelten mit ihrer wie immer zu lauten Stimme. Sie stellte ihr Mitbringsel auf dem Tisch – achtlos auf die Papiere – ab, ging eben so achtlos und mit nur einer kurzen Verbeugung in Richtung Aizawa und Mogi, an L vorbei zur anderen Seite des Sessels und begrüßte Raito mit einem Kuss auf die Wange. Damit fing sie sich überraschte Blicke von Mogi, Aizawa und Matsuda, der gerade wieder Platz nahm, ein – ja sogar Watari schaute etwas perplex drein. Und L... L schaute gar nicht hin, sondern beugte sich nach vorn und begann, ohne jegliche Begrüßung an Misa, den Kuchen auszupacken. Raito wunderte sich, dass Misa sich traute, ihn vor versammelter Mannschaft zu küssen. Wäre sein Vater hier gewesen, hätte sie das nicht gewagt. Ihn selbst störte es nicht. Es gefiel ihm aber auch nicht. Es war ihm schlichtweg egal. Wenig später saß die ganze Runde da und gönnte sich eine wohlverdiente Pause. Misa zur Rechten von Matsuda auf dem Sofa links von Raitos Sessel. Sie selbst aß keinen Kuchen, starrte nur unentwegt auf Raito und ab und an etwas missmutig auf L, von dem sie es wohl als absolut unhöflich betrachtete, dass er keinen Platz machte für sie – SIE! – Raitos Freundin! L hingegen schienen ihre tödlichen Blicke nicht zu stören. Er aß genüsslich seinen Kuchen, hob die Erdbeere wie immer bis zum Schluss auf und trank ab und an einen Schluck von dem Tee, den Watari zusammen mit Kuchentellern für sie gebracht hatte. „Der Kuchen schmeckt klasse, Misa-chan“, sagte Mogi lächelnd. Misa lächelte freundlich zurück. „Ja, wirklich, Misa-Misa. Wer hat den gebacken?“, wollte Matsuda wissen. Misas Lächeln wurde noch breiter. „Ich“, antwortete sie stolz. „Schmeckt es dir auch Raito?“ Sie warf dem eigentlichen Grund ihres Besuchs einen erwartungsvollen Blick zu. Raito nickte nur, murmelte ein „Ja“ und schenkte ihr ein Lächeln, das für alle außer L wahnsinnig aufrichtig aussehen musste. Und L sah es sowieso nicht. Er kratzte sich nur mit dem großen Zeh des rechten Fußes am Linken, ignorierte die Tatsache, dass der Kuchen von Misa war, und stopfte ein weiteres Stück in sich hinein. Raitos Teller stand schon leer auf dem Tisch. „Raito-kun hat wirklich großes Glück“, begann Matsuda nach einer Weile wieder. „Seine Freundin ist bildschön, liebenswert und kann auch noch toll backen.“ Misa kicherte verlegen los, senkte den Kopf und hob dafür die Hand vor den Mund. „Danke, Matsuda-san.“ Ihr Lächeln wurde wieder ein Stück breiter. Raitos Miene hingegen blieb unbewegt. „Aa~h ich möchte auch so eine Freundin“, schwärmte der junge Polizist weiter und seufzte. „Hör auf, Matsuda“, meldete Aizawa sich zu Wort. „Misa-chan ist zu jung für dich.“ „Ich werde sie Raito-kun ja auch nicht wegnehmen! Aber eine Ältere so wie Misa-Misa...“ „Matsuda~“, grummelte Mogi, was bei ihm so viel heißen sollte wie „Lass es gut sein.“ Der Angesprochene lachte verlegen und kratzte sich am Hinterkopf. Raito und alle Anderen schenkten ihm ein Lächeln. Nur L hob noch immer nicht den Kopf. Stattdessen nahm er sich ein zweites Stück Kuchen und schien nicht einmal einen Gedanken an ein Kompliment für Misa zu verschwenden. Er war mit den Gedanken irgendwo anders. Raito merkte erst nach ein paar Sekunden, wie er auf den schwarzen, zerzausten Haarschopf rechts von sich herunter gestarrt hatte. Dann verengte er die Augenbrauen, schüttelte kaum merklich den Kopf und wandte sich wieder ab. Irgendwas stimmte nicht mit dem Detektiv, oder bildete er sich das ein? War er in Gedanken einfach nur mal wieder bei Kira? Es war gut eine Stunde vergangen, in der sie geredet und unbeschwerlich gelacht hatten und wenn es nach der Mehrzahl der Sonderkommission gegangen wäre, hätten sie noch mehrere Flaschen Sake dazu geholt und den ganzen Abend so weiter gemacht. Lediglich Raito sah gelangweilt aus – aus reiner Höflichkeit und um die Fassade aufrecht zu erhalten, saß er noch auf dem Sessel, auf dem zuvor L gesessen hatte, Misa neben ihm auf der Lehne – oder eher halb auf seinem Schoß. L hatte sich nach seinem zweiten Stück Kuchen und als die Diskussion der Männer anfing sich immer mehr auf das Thema Frauen zu beziehen, ohne Entschuldigung verkrümelt und sich wenige Meter weiter, vor den Computern, wieder seinen Recherchen gewidmet. Irgendwann erhob Watari sich und begann die leeren Kuchenteller und Teetassen wegzuräumen. Selbstverständlich alle, außer Ls. Diesem schenkte er stattdessen noch den Rest aus der großen Kanne ein, stellte ihm die Tasse neben die Computertastatur und verschwand mit einem „Ich mache neuen Tee“, aus dem Raum. „Watari-san“, rief Mogi ihm nach, stand auf und schnappte sich das restliche Geschirr, welches Watari nicht mit einem Mal tragen konnte. „Ich helfe Ihnen.“ „Nun ja“, seufzte Misa zufrieden und warf einen Blick auf die Wanduhr. „Ich schätze, ich werde mich dann auch mal wieder auf den Weg machen. Will ja eure Arbeit nicht weiter stören.“ „Du störst nie, Misa-Misa!“, erwiderte Matsuda lächelnd. Misa erwiderte das Lächeln, wandte sich dann jedoch Raito zu. „Tut mir leid, dass ich schon los muss.“ „Schon?“, dachte Raito, lächelte jedoch ebenfalls nur zurück und erhob sich. „Ich begleitete dich noch“, meinte er knapp und legte ihr die Hand auf die Schulter um sie in Richtung Ausgang zu dirigieren. Er musste dringend ein Wort alleine mit ihr sprechen. „Dann geh ich gleich mal mit nach unten“, meldete sich Aizawa zu Wort und stand ebenfalls auf. Er wühlte mit beiden Händen in den Hosentaschen und schüttelte den Kopf. „Ich muss mein Feuerzeug im Auto liegen gelassen haben.“ Damit legte er die Zigarettenschachtel auf dem Tisch ab und folgte Raito und Misa zur Tür. Raito biss sich auf die Lippen. Es musste doch möglich sein, mal für eine Sekunde alleine mit ihr zu reden. Er musste ihr dringend klar machen, dass sie hier in der Zentrale nicht täglich hereinspazieren konnte, wie bei ihm zu Hause. „Matsuda, lasst mich gleich wieder rein, ja?“, wandte Aizawa sich noch mal an seinen Kollegen, schloss dann hinter sich die Tür. „Aye Chef“, sagte Matsuda mehr zu sich selbst, streckte sich und gähnte müde, ehe er aufstand, sich auf einen Stuhl neben L setzte und den Computer daneben einschaltete. L hingegen beobachtete gerade den Ausgang über die Überwachungskamera und legte den Finger nachdenklich ans Kinn. Misa hatte das Gebäude zuerst verlassen, gefolgt von Raito. Sie blieben wenige Meter vor der Tür stehen, während Aizawa etwas sagte, kurz winkte und dann Richtung Parkplatz verschwand. Misa und Raito standen dicht beieinander. Misa lächelte wie immer wie ein kleines Kind und Raito – schaute wie immer. Der blasse Finger des Detektivs fuhr nachdenklich über die trockenen Lippen. „Matsuda-san“, begann er dann. „Hm?“ Matsuda schaute nicht zu ihm hinüber, sondern hatte den Blick weiterhin auf seinen eigenen Bildschirm gerichtet. „Warum wollen Sie eine Beziehung mit einer Frau wie Misa-san?“, kam die plötzliche Frage von L, die aus keinem anderen Munde so neutral und trocken hätte klingen können. Matsuda wurde rot. „Warum?“, druckste er beschämt herum und lachte dann. „Na ja, Misa-Misa ist ein hübsches, sehr liebenswertes Mädchen.“ L schwieg einen Moment. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. Das heißt... wenn das seine Frage gewesen wäre, dann vielleicht schon, denn schließlich war das hier Matsuda. Nur hatte dieser seine Frage augenscheinlich falsch verstanden. Er hatte nicht wissen wollen, warum ein Mädchen wie Misa, sondern warum überhaupt eine Beziehung. Er hatte sich wohl falsch ausgedrückt. Der Schwarzhaarige überlegte einen Moment, ob er noch einmal nachfragen sollte, da er Matsuda offensichtlich in Verlegenheit gebracht hatte. Nicht, dass ihn das gestört hätte, aber ob Matsuda ihm auf eine weitere Frage überhaupt eine richtige Antwort geben würde? Er dachte nach, wie er seine Frage besser formulieren konnte, als die Handlung auf dem Monitor vor ihm seine Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte. Raito hatte Misa die Hände auf die Schultern gelegt, ihr etwas zugeflüstert und nun küssten sie sich auch noch. „Wie ist es, jemanden zu küssen?“ Die Frage war heraus gewesen, bevor L darüber nachgedacht hatte. Eigentlich hatte er nur laut gedacht. Das tat er zwar oft – jedoch für gewöhnlich nicht an solche Dinge. Matsuda stoppte die Bewegung der Maus schlagartig und zog die Augenbrauen skeptisch zusammen. „Ryuzaki, ich verstehe nicht ganz wo-“, er stockte, als er den Blick L zuwandte und Misa und Raito auf dem Monitor sah. „Ryuzaki!“ Diesmal klang seine Stimme lauter als gewöhnlich und fast anschuldigend. „Man schaut Anderen nicht beim Küssen zu!“ „Wieso nicht?“, fragte L matt zurück und starrte weiter auf den Bildschirm. Raitos Lippen hatten sich bereits von Misas gelöst. „Weil es sich nicht gehört“, antwortete Matsuda ohne zu Überlegen. Etwas zögernder fügte er hinzu: „Und es geht Außenstehende auch nichts an.“ Er wagte es nicht direkt zu sagen, dass es L nichts angehe. Und doch stimmte es. Es ging L genauso wenig an, wie ihn selbst oder sonst irgendjemanden. Trotzdem war sein Respekt gegenüber dem Ermittler zu groß, als dass er ihn so zu belehren gewagt hätte. „Solange ich Yagami-kun verdächtige, Kira zu sein, denke ich, geht es mich sehr wohl etwas an, was er tut“, konterte L, griff nach der Zuckerdose rechts von sich, ohne den Blick auch nur eine Sekunde vom Monitor zu nehmen, und ließ ein Stück Zucker in den mittlerweile wohl eh schon kalten Tee fallen. Daraufhin sah Matsuda ihn nur ratlos an. Er verstand nicht, was Raitos Beziehung damit zu tun haben sollte. Er hatte geglaubt, Ls Verdacht gegen Misa wäre aufgehoben. Er selbst – und auch alle anderen außer L glaubten sowieso nicht, dass Raito Kira sein konnte. Das war doch Unsinn. Wenn sich doch nur einer von ihnen trauen würde, L das so deutlich zu sagen. Aber auch jetzt brachte Matsuda hierfür nicht den Mut auf. „Ich verstehe bloß nicht, was er daran findet, Misa-san auf diese Weise nahe zu sein“, sprach L in dem Moment weiter, wo Raito sich gerade von Misa verabschiedet hatte. L drückte den Knopf mit dem sich die Tür für Raito wieder öffnete, und sah zu, wie dieser nun das Gebäude wieder betrat. „Also...“, begann Matsuda nachdenklich und beschloss nicht mehr weiter auf das Thema L-verdächtigt-Raito einzugehen. „Wenn man jemanden liebt, dann küsst man diese Person natürlich gerne.“ Es kam ihm lächerlich vor, einem Genie wie L solch scheinbar simple Dinge erklären zu müssen. „Also hängt es mit zwischenmenschlichen Gefühlen zusammen“, schlussfolgerte L wieder laut gedacht und setzte die Teetasse an die Lippen. Er nahm einen Schluck, sah nebenbei auch Aizawa auf dem Monitor zurück zum Eingang laufen, drückte wieder auf den Türöffner und meinte dann: „Aber Yagami-kun liebt Misa-san nicht.“ Kein Verdacht. Keine Frage. Nein, eine eindeutige Feststellung! Matsudas Augenbrauen verengten sich erneut und er starrte den Jüngeren und scheinbar dennoch soviel Erfahrenären verwirrt an. Wie kam er zu der Annahme, dass...? In diesem Moment ging die Tür auf und Raito betrat den Raum, kurz nach ihm Aizawa mit einem Lächeln auf den Lippen und seinem Feuerzeug in der Hand. „Hatte es tatsächlich im Auto“, lachte er. „Ich verleg die Zipper ständig.“ Damit lief er zum Tisch und holte sich eine Zigarette aus seiner Schachtel. Raito nahm wortlos auf dem freien Bürostuhl neben L Platz. Und damit war das Gespräch zwischen diesem und Matsuda beendet. ~ „Wir haben alles bis auf...“ Raito warf einen skeptischen Blick auf den kleinen Notizzettel in seiner Hand. „Die Unmengen an verschiedenen Süßigkeiten – die der Schrift nach zu urteilen Watari aufgeschrieben hat.“ Er warf einen Blick auf L, der in ungesunder Haltung und die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, stumm neben ihm her schlenderte. „Ich nehme an für dich“, fügte Raito hinzu, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen starrte der sonst so aufmerksame Ermittler weiter Tag träumend auf seine eigenen Füße, als müsse er darauf achten, dass diese – gefangen in einem paar ausgelatschter Turnschuhe – auch ja die richtigen Schritte machten. „Ryuzaki, hörst du zu?“, probierte er es noch einmal, diesmal etwas lauter. Und tatsächlich bekam er diesmal eine Antwort in Form eines langsamen Kopfhebens. „Hm?“ Nicht gerade viel. Aber immerhin etwas. Raito seufzte. Mit L einkaufen zu gehen war ein Erlebnis jenseits aller Vorstellungskraft. Wo hinzukam, dass Raito bis jetzt nicht verstanden hatte, warum L ihn überhaupt hatte begleiten wollen. Soichiro Yagami lag noch immer mit Fieber im Bett und Raitos Mutter hatte ihren Sohn dazu beauftragt einige Besorgungen zu erledigen. Aus diesem Grund hatte der junge Student die Zentrale der SoKo heute Morgen nur kurz aufgesucht, um sich zu entschuldigen. Dass L allen Ernstes darauf bestehen würde, ihn zu begleiten, damit hätte er nie gerechnet. Misstraute er ihm nach wie vor so sehr, dass er ihn nicht einmal alleine einkaufen ließ? Aber warum hatte er ihn dann überhaupt von den Handschellen befreit? Das machte keinen Sinn. Aber dass er ’ja gleich mitgehen und seine eigenen Sachen besorgen’ konnte, war sicher nur ein billiger Vorwand gewesen. Denn für gewöhnlich ging L seine Sachen – damit meinte er wohl seine Süßigkeiten – niemals selbst einkaufen. Wozu hatte er den Watari? Nicht nur das, nein auch die Tatsache wie abwesend L die ganze Zeit war, machte Raito misstrauisch. Wenn es darum ging, dass er ihn nach wie vor verdächtigte, dann sollte er ihn doch pausenlos im Auge behalten, oder etwa nicht? Tat er aber nicht. Seine alten Turnschuhe schienen interessanter zu sein. „Also“, versuchte Raito es erneut. „Wo kaufen wir deine Sachen ein?“ Endlich schenkte L ihm seine volle Aufmerksamkeit, blickte auf, schaute sich kurz nach rechts und nach links um, zog dann mechanisch eine Hand aus der Hosentasche und deutete mit dem knochigen Zeigefinger auf den nächst besten Süßwarenladen. „Da“, meinte er knapp. „Wenn du nichts dagegen hast, Yagami-kun.“ „Was sollte ich dagegen haben?“, entgegnete Raito lächelnd, griff seine eigenen, vollen Einkaufstaschen wieder fester – L hatte selbstverständlich nicht gefragt, ob er ihm etwas abnehmen könne – und steuerte den besagten Laden an. „Mir ist es recht, wenn wir nicht mehr so weit laufen müssen. Dann kommen wir schneller zurück. Die Taschen werden nicht leichter.“ Selbst auf diese deutliche Aussage hin, keinerlei Reaktion seitens L. Lediglich ein kurzes Nicken, dann folgte er Raito weiter. „Raitooo~“, hörte der Besagte plötzlich seinen Namen gerufen. Fragend blickte er sich um, und sah dann auf der anderen Straßenseite ein junges Mädchen hastig mit ausgestrecktem Arm winken. Shiori. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Seufzend blieb er stehen, wartete bis die Ampel auf grün schaltete und die Dunkelhaarige auf ihn zukam. Sie begrüßte Raito mit einer vagen Umarmung und schenkte L ein Lächeln und eine kurze Verbeugung – welches natürlich unerwidert blieb und lediglich kritisch gemustert wurde. „Was machst du hier, Raito? Einkaufen?“ Shiori warf einen Blick auf Raitos Einkaufstüten – hätte wohl am liebsten gleich die Nase hineingesteckt um herauszufinden was genau Raito einkaufte. „Ja, ein paar Sachen“, meinte Raito abwürgend. „Und was machst du hier?“ „Ich gehe shoppen“, verkündete sie beinahe stolz, fügte dann jedoch ein anschuldigendes „Ohne dich!“, hinzu. „Ich möchte nicht zu privat werden, Raito“, meinte sie weiter. „Aber wie kommt es, dass du Zeit hast mit einem Freund einkaufen zu gehen, aber mit mir nicht?“ Sie war dreist. Sie war sogar ziemlich direkt und vorlaut für eine junge Dame. Doch sie hatte im Vergleich zu Misa wenigstens etwas im Kopf und daher verzieh Raito ihr ihre große Klappe meist. MEIST! Diesmal jedoch nicht. Selbstverständlich hätte er Zeit für sie gehabt – wenn er gewollt hätte. Hatte er aber nicht. Er musste schließlich nicht ständig mit ihr ausgehen. Provozierend hielt er ihr eine der Tüten offen entgegen. „Mein Vater ist krank, um genau zu sein“, meinte er ehrlich. „Lauch, Karotten, Tofu und-“ Er warf selbst einen Blick in die Tüte. „Reis. Meine Mutter kümmert sich um ihn, deshalb übernehme ich die Einkäufe.“ Er schenkte ihr ein offensichtlich aufgesetztes, breites Lächeln. Shiori erwiderte seinen Blick kurz etwas perplex, dann erwiderte sie sein Lächeln, für einen Moment wurde sogar ein kurzes Lachen daraus. „Entschuldige bitte, dass ich so unverschämt gefragt habe“, sagte sie, ohne dabei wirklich Reue zu empfinden. Ganz im Gegenteil. Mit ihrem Lächeln vermittelte sie Raito wie immer, dass sie glaubte, es sei ihr gutes Recht, ihn auszufragen. Er kannte diese Art von ihr. „Ich hoffe, es geht deinem Vater bald besser, Raito.“ Sie warf L einen fragenden Blick zu. Dieser hatte sie und Raito die ganze Zeit still von unten herauf beobachtet. Wieder ein Lächeln ihrerseits. Wieder keine Reaktion seitens L. Shiori schien es nicht zu stören. Sie wandte sich wieder Raito zu und sagte: „Melde dich, ja?“ Raito nickte. „Ich versprech’s.“ „Das mag nichts heißen“, konterte das Mädchen grinsend, tippte Raito frech mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze und ging dann an ihm vorbei. Sie drehte sich noch einmal um, verbeugte sich kurz und verabschiedete sich. „Macht’s gut ihr zwei!“ Raito winkte ihr kurz nach, seufzte dann und wandte sich ab. „Immer wenn ein Mädchen weg ist, seufzt Yagami-kun als wäre er erleichtert“, bemerkte L überflüssigerweise. Diese Aussage brachte Raito, der gerade wieder loslaufen wollte, dazu, innezuhalten und sich noch einmal nach ihm umzudrehen. Mit einem Grinsen erwiderte er: „Es ist anstrengend, begehrt zu sein.“ „Das kann ich mir vorstellen“, antwortete L, ging nun seinerseits an Raito vorbei und durch die Eingangstür des Süßwarenladens. „Ich beneide Yagami-kun nicht“, hörte Raito ihn noch murmeln. So eine Aussage. Überhaupt so ein Thema. Etwas stimmte definitiv nicht mit dem Detektiv. Raito dachte den gesamten Rückweg darüber nach, doch ihm wollte nichts einfallen. Es war nichts Auffälliges geschehen, er hatte keine Fehler gemacht. Und dennoch verhielt L sich sogar noch merkwürdiger als sonst. Und das mochte nun wirklich etwas heißen. Vielleicht wäre jedem Anderen auch gar kein Unterschied aufgefallen, nein sogar ganz sicher nicht. Doch Raito durchschaute L schließlich grundsätzlich. Sie dachten zu oft in dieselbe Richtung, als das L sich vor ihm so verstellen hätte können, wie vor anderen. Leider galt das auch umgekehrt. Aber mal abgesehen davon, dass L eine Gefahr war, ja sogar die einzige wirkliche Gefahr für Kira, fühlte Raito sich in Gegenwart von Ryuzaki doch verhältnismäßig wirklich wohl. Er war der einzige, der ihm das Wasser reichen konnte. Shiori war ein kluges Köpfchen, aber sie hatte auch einen Haufen Macken. Wenn er an ihre schrille Stimme dachte, wenn sie ihn mal wieder anfuhr – wäre L nicht gerade dabei gewesen, wäre die Situation eben sicher auch in so ein Gebrüll ausgeartet. Sie konnte fast mit Misa mithalten. Warum mussten Frauen eigentlich immer so laut sein? Konnten sie nicht auch mal die Klappe halten und denken, so wie L? In diesem Punkt war die Gesellschaft dieses komischen Vogels um einiges angenehmer. Raito lachte in Gedanken über sich selbst, als er bemerkte, was er dabei war sich hier auszumalen. Er hatte tatsächlich soeben den Meisterdetektiv L mit einem Mädchen verglichen. „Was ist so komisch, Yagami-kun?“, unterbrach die wie immer weiche und so ganz und gar nicht schrille Stimme Ls seine Gedanken. „Nichts“, log Raito und lächelte. „Ich hab nur an etwas gedacht.“ Sie bogen gerade in die Straße ein, wo sich das Hauptquartier befand. „Yagami-kun, denkst du Kira hat überhaupt so etwas wie ein Herz?“ Raito stockte einen Moment. Er blieb unbewusst stehen. L ging noch ein paar Schritte weiter, hielt dann ebenfalls inne, drehte sich um und musterte Raito abwartend. Was sollte diese Frage so plötzlich? „Tut mir leid, ich glaube, ich verstehe nicht ganz worauf du hinaus willst“, gab er ehrlich zu und lächelte matt. „Auf gar nichts“, antwortete L. „Es ist nur so ein Gedanke. Denkst du es wäre möglich, dass Kira Menschen hat die ihm wichtig sind?“ „Selbstverständlich. Wieso auch nicht? Jeder Mensch hat solche Personen.“ L hob die Hand zum Mund und schob den Daumen grübelnd über die Lippen. „Denkst du, Kira könnte sich auch in jemanden verlieben? Und aufhören zu morden, wenn dieser andere Mensch es wollte?“ Raito erwiderte den trüben Blick der schwarzen Augen skeptisch. Was zum Teufel war nur los mit ihm? Das war doch nicht der L, den er kannte. „Ich...“, setzte er an. Er ging langsam einige Schritte, bis er neben L stand. „Ich weiß es nicht.“ Er legte die Hand auf Ls Schulterblatt und schob ihn in Richtung des Eingangs, der nur noch wenige Meter von ihnen entfernt lag. „Lass uns rein gehen, es wird kalt.“ Ohne Widerwehr ließ L sich von ihm mitschleifen. „Yagami-kun“, begann er erneut, kurz bevor sie durch die Tür gingen. „Darf ich Raito sagen?“ Das war’s. Das war eindeutig zu viel des Guten. Ab diesem Moment war Raito sich endgültig sicher, dass L krank sein musste. So eine Frage. Von ihm. Erstens gehörte er nicht zu den Leuten, die überhaupt Wert auf passende Anredeformen legten und zweitens, wenn er es gewollt hätte, hätte er Raito längst einfach so ohne zu fragen beim Vornamen genannt. Was sollte diese Masche? Zuerst war er abwesend und nun auch noch... höflich? Raito lief ein kalter Schauer über den Rücken bei dem bloßen Gedanken daran. „Sicher“, antwortete er freundlich wie immer und schenkte seinem Gegenüber ein Lächeln. Dann hörte er das Türsignal, das ihnen anzeigte, dass jemand für sie auf den Türöffner gedrückt hatte. Raito drückte die Tür auf und betrat mit L das Gebäude. ~ Als Raito am nächsten Morgen in den Hauptraum kam, war L nicht da. Es war eine Abnormalität, die ihm keine Sekunde verborgen blieb. Der Anblick eines völlig leeren Arbeitsplatzes und eines ausgeschalteten Computers war so ungewohnt, dass es nahezu ins Auge stach. Nicht einmal ein leerer Kuchenteller oder eine angefangene Tasse Tee. Somit war L wohl heute den ganzen Tag noch nicht hier gewesen. Irgendwie beunruhigte Raito der Gedanke. „Guten Morgen, Raito-kun“, begrüßte Matsuda, der gerade aus dem Nebenraum kam, ihn mit einem Lächeln. „Ausgeschlafen?“ „Wo ist Ryuzaki?“, fragte Raito zurück, ohne Matsuda zu begrüßen oder gar auf seine Frage zu antworten. „Hm, der ist heute Morgen schon ganz früh verschwunden“, antwortete Matsuda nachdenklich. „Er hat aber nicht gesagt, wohin genau er geht. Nur irgendwas von nachforschen.“ Raito entgegnete darauf nichts, sondern ging stattdessen hinüber zu den Computern und schaltete einen davon an. „Es ist noch früh. Von den anderen ist auch noch keiner da. Ich bin sicher, Ryuzaki kommt bald zurü-“ Matsuda verstummte, als Raitos Blick ihn traf. Stechend. Fast gefährlich. Wieso sah er ihn denn so an? „Ich... räume hier mal ein bisschen auf“, wechselte der junge Polizist das Thema und wandte sich dem Tisch zu, auf dem nach wie vor das Chaos wütete. Raito blickte starr auf den Computermonitor. Was redete Matsuda denn, als würde er L vermissen? Ganz im Gegenteil. Diese Gelegenheit kam genau richtig. Er überlegte kurz, stand dann auf und verließ den Raum mit den Worten „Ich geh ins Bad.“ Ein paar Minuten ohne Ryuzakis wachsame Eulenaugen waren nur von Vorteil für ihn. So konnte er Misa anrufen und ihr weitere Anweisungen geben. Diese waren in den letzten Tagen sehr spärlich ausgefallen und er konnte nicht riskieren, dass das Mädchen ohne ihn eine Dummheit anstellte. Auf der Toilette angekommen, schloss Raito hinter sich die Kabinentür und wählte mit dem Handy Misas Nummer. Es klingelte lange. Vielleicht war sie bei einem Termin. Sah sie denn nicht mal auf ihr Handy? Normalerweise nahm sie sofort ab, wenn sie Raitos Namen las. Er wollte gerade wieder auflegen, als sich die bekannte Mädchenstimme meldete. „Ja, Raito?“ Sie klang merkwürdig leise. Vielleicht war sie tatsächlich gerade beschäftigt. „Misa, wo bist du?“, fragte er. „Uhm...“ Ein Moment Stille am anderen Ende der Leitung. „Misa?“ „Ah – tut mir leid, Raito. Ich kann gerade nicht telefonieren.“ Irgendetwas klang seltsam an ihrem Tonfall. Sie war so... ernst! „Misa, ist alles in Ordnung? Du klingst-“ „Ja, mir geht es gut!“, kam es etwas zu laut und etwas zu prompt zurück. Raito legte die Stirn in Falten. Was zum...? „Ich muss auflegen, Raito.“ „Okay, verstehe. Ich melde mich später.“ -Klack- Schon hörte er das Piepen. Sie hatte seine letzten Worte nicht einmal angehört. Es kam selten, bis gar nicht vor, dass Raito sich abserviert fühlte. Schon gar nicht von einem Mädchen wie Misa. Es war verhältnismäßig spät, als L mit Watari zurückkam. Aizawa und Mogi waren bereits vor einer Stunde eingetroffen. Raito saß vor dem Computer und öffnete L die Tür. Wenig später betrat der schwarzhaarige Ermittler gemeinsam mit seinem Butler den Raum. Und irgendetwas an ihm beunruhigte Raito sofort. Er sah merkwürdig aus. Gut, das sah er immer, aber heute... Seine Haut wirkte fast noch blasser als sonst, wenn das denn irgendwie möglich war und seine Augen blickten starr zu Boden. Er mied den Blickkontakt zu Raito, als dieser ihn begrüßte. Wenn Raito sein Verhalten von gestern merkwürdig gefunden hatte, was war dann erst das hier? Der Tag verging mit einer gedrückten Stimmung im gesamten Haus. Es wurden sechs neue Opfer gemeldet und keinerlei Hinweise. Nichts was sie irgendwie weitergebracht hätte. Die Mitglieder der Sonderkommission begründeten Ls schweigsames Verhalten also damit, dass er wohl etwas demotiviert war. Solche Phasen hatte schließlich jeder. Und wer konnte es ihm verübeln? Schließlich ging es Matsuda, Aizawa und Mogi da nicht viel anders. Sogar Watari sah man eine deutliche Müdigkeit an. Als Raito L das nächste Mal ansprach, war es bereits spät. Sie waren die letzten Anwesenden. L machte keine Anstalten, sich in absehbarer Zeit von seinem Computer wegzubewegen. „Ryuzaki“, begann Raito und sah ihn an, soweit Ls Pose es zuließ. Er hatte den Kopf auf die angezogenen Knie gebettet und die Arme eng um den Körper geschlossen. Lediglich der rechte Arm löste sich ab und an für wenige Augenblicke um eine der Schokoladenpralinen, die vor ihm neben der Computermaus lagen, in den Mund zu stecken. „Raito-kun?“, entgegnete die weiche Stimme fragend. Er nannte diesen Namen erstaunlich oft, dafür dass er ihn erst seit gestern überhaupt gebrauchte. „Wo warst du heute?“, fragte Raito direkt. Es dauerte einen Moment bis er eine Antwort erhielt. Und diese kam wie so häufig, ohne dass L sich ihm zuwandte. „Ich habe recherchiert.“ Aha. Offensichtlich wollte er nicht damit herausrücken, wo und was genau er recherchiert hatte. Gut, ihm sollte es recht sein. Nicht, dass es ihn ärgerte. Immerhin musste ER ja nur ständig sagen wohin er ging und war es nur zur Toilette. Er trank seinen ohnehin schon kalten Kaffee aus, stellte die Tasse mit etwas zuviel Elan zurück und verursachte damit ein lautes Geräusch, welches L für einen Moment zusammenfahren ließ. Mit einem Klappern schob Raito seinen Stuhl vom Tisch weg und stand auf. „Ich gehe dann schlafen“, verkündete er und streckte sich ausgiebig. „Raito-kun!“ Er hatte sich schon weggedreht, als er hinter sich ein weiteres Klappern hörte und Ls Stuhl beinahe umgekippt wäre, als dieser wie vom Blitz getroffen hochgefahren war. Der Ermittler schwankte kurz, als er nun zwischen zwei Stühlen, dem Tisch im Rücken und Raito vor sich, eingeengt war. Raito sah in etwas verwundert an. „Was ist denn no-“ Das Ende seines Satzes brach abrupt ab, als L ihn etwas grob am Hemdkragen packte und zu sich zerrte. Raito hätte selbst um ein Haar das Gleichgewicht verloren, stolperte fast über Ls nackte Füße vor sich und eh er sich versah, spürte er auch schon Ls trockene Lippen auf den seinen. Völlig regungslos standen sie da. Raito hielt unbewusst den Atem an. Seine Augen hatten sich geweitet. Ls hingegen waren geschlossen. Keinerlei Bewegung lag in dieser Berührung und doch spürte Raito deutlich wie rau Ls Lippen sich anfühlten. Rau und trocken, aber nicht unangenehm. Dieser Gedanke war es, der ihn schließlich so sehr irritierte, dass er es schaffte sich wieder in Bewegung zu setzen. Etwas grob drückte er L von sich und sorgte damit dafür, dass dieser fast auf dem Computertisch hinter ihm gelandet wäre. Der Schwarzhaarige starrte ihn mit großen Augen an. Sein Blick sah aus, als habe er absolut keine Ahnung was er da gerade getan hatte – oder zumindest nicht, was das bedeutete. So unglaublich naiv. Raito hatte gerade Luft geholt und den Mund aufgemacht, doch er wusste nicht einmal was er sagen sollte. Das hier war einfach – das war so... surreal. Zu Raitos Erleichterung, schien L immerhin seine Unbeholfenheit zu bemerken und entschloss sich, selbst das Wort zu ergreifen. „Entschuldige bitte, ich-“ Ich...? L stammeln zu hören, hätte Raito in vielen anderen Situationen eine wahre Genugtuung beschafft, doch in diesem Moment fühlte er so überhaupt keinen Triumph über den Anderen. Stattdessen fragte er sich, woher wohl plötzlich dieser trübe Blick in den schwarzen Augen gekommen war. Eigentlich war er gestern schon da gewesen. Aber heute den ganzen Tag über noch viel schlimmer und jetzt... jetzt war es kaum mehr mit anzusehen ohne dabei Mitleid zu entwickeln. Aber warum? „Ich...“, setzte L erneut an und wich Raitos Blick noch immer aus. „Ich wollte es nur ausprobieren.“ Bitte? Ausprobieren? Wie jetzt? Das Küssen? An Raito? Tausend Gedanken schossen wie wild durch Raitos Kopf und es gelang ihm einfach nicht sie zu ordnen. „Entschuldige“, wiederholte L erneut, als Raito nach einigen Sekunden noch immer nicht geantwortet hatte. Noch nie hatte seine Stimme sich so verdammt leise, so unsicher, so... gebrochen angehört. Es klang fast, als würde dem Ermittler ein gewaltiger Kloß im Halse stecken. Er tat Raito leid. Moment mal... er... tat ihm leid? Raito ohrfeigte sich in Gedanken selbst. Was zum Teufel war heute nur los? Dieser Tag musste verhext sein. „Du musst dich nicht entschuldigen“, schaffte er es schließlich zu antworten. Er lächelte leicht und sah L an. Es dauerte etwas, bis dieser den Kopf hob und sein Blick wirkte noch immer mehr als verunsichert. „Es ist okay“, sagte Raito beruhigend. Doch anscheinend reichte L das als Beruhigung nicht aus, denn er stand noch immer – mit gekrümmten Rücken wie immer –zwischen Raito, den Stühlen und dem Tisch da und starrte auf den Boden. Raito trug gerade einen inneren Kampf mit sich aus. Warum zur Hölle scherte es ihn überhaupt was die psychopathische Rieseneule sich dabei gedacht hatte, ihn einfach zu küssen? Warum verdammt noch mal, war es auch nur im Geringsten von Bedeutung, wie L sich fühlte? Und warum – und das war das aller wichtigste – warum zum Teufel hatte sich dieser Kuss nicht widerlich angefühlt? Es war L!!! L hatte ihn geküsst! Das war... das war beinahe zu abartig um es in Worte fassen zu können. Das heißt – das hätte es eigentlich sein sollen, oder etwa nicht? Raito zögerte einen Moment, hob dann die Hand und fuhr damit leicht durch Ls eh und je schon verwuschelten Haare. Er sah, wie L jeden Muskel unter dem dünnen Pulli anspannte und schließlich den Kopf hob. Sein Blick direkt in Raitos Augen ließ dessen Herz beinahe einen Moment lang aussetzen. Was war das nur? „Hey“, meinte Raito in einem Ton, der normalerweise dazu da war, kleine Kinder zu beruhigen wenn sie hingefallen waren, oder so. „Gehen wir schlafen, ja?“ Schließlich nickte L trocken, drängte sich an Raito vorbei und verließ mit einem kaum hörbaren „Gute Nacht, Raito-kun“, den Raum, ohne auf ihn zu warten. Was Raito nicht sah, war wie der Ermittler sich beinahe in Zeitlupe sorgsam mit dem Daumen über die Lippen strich. ~ Der Tag war nicht verhext gewesen. Oder falls er es war, dann war es der nächste auch gewesen. Und der übernächste und der überübernächste und der... L hatte sich vor ihm verschlossen. Definitiv. Nicht dass er sich jemals überhaupt irgendjemandem geöffnet hatte. Aber dennoch hatte sich etwas geändert. Wann immer Raito sich dem dunkelhaarigen Detektiv widmete, wandte L den Blick ab. Er mied ihn. Und das passte Raito absolut nicht in den Kram. Es hatte nicht einmal direkt etwas mit ihrem Verhältnis – dem Verhältnis zwischen L und Kira zu tun. Nein, eigentlich überhaupt nicht. Denn das Verhältnis zwischen diesen beiden Protagonisten war klar. Was man von dem Verhältnis zwischen Ryuzaki und Raito momentan absolut nicht behaupten konnte. Und Raito konnte nicht abstreiten, dass es ihm missfiel, wie L sich verhielt. Mit Vorsicht, wagte er sogar daran zu denken, dass... es ihn unglücklich machte. Aber natürlich nur ein bisschen. Schließlich ging es hier um L. Und warum auch immer er sich so benahm, zumindest der Auslöser war klar: Der Kuss. Aber wenn er es nur hatte ausprobieren wollen, wenn es ihm wirklich nur darum gegangen war, dann gab es doch keinen Grund, sich jetzt so zu verhalten. L führte sich vielmehr auf wie ein verliebtes Schulmädchen. Moment mal... verliebt? „Raito-kun, hörst du nicht?“ „Eh?“ Verwirrt schaute Raito auf, als plötzlich eine Hand wie wild vor seinem Kopf herumfuchtelte. Als er den Kopf zur Seite drehte, sah er Matsuda neben sich stehen. „Du solltest dringend Schlaf nachholen, mein Lieber“, riet der junge Mann ihm. „Wenn du schon so übermüdet bist, dass du mich erst beim dritten Versuch hörst.“ „Ouh, tut mir leid.“ Raito massierte sich müde die Schläfen, schloss dabei für einen Moment die Augen. Wie spät war es eigentlich? „Halb drei“, kam es leise gemurmelt von rechts. Als Raito sich umdrehte, sah er L – wie immer mit einer Teetasse in der Hand auf seinem Stuhl kauern – auf die Computeruhr zeigen. „Das wolltest du doch wissen, oder?“ Raito nickte lediglich. Es war nicht das erste mal, dass L seine Gedanken erriet. Wieso überraschte es ihn eigentlich noch? Er hörte Matsuda neben sich lachen. „Ihr zwei“, meinte er und legte die Hand dabei auf Raitos Schulter. „Ein Herz und eine Seele.“ Innerlich lachte Raito laut auf. Äußerlich zeigte er überhaupt keine Reaktion. Genauso wenig, wie L. Dieser nahm nur einen Schluck von seinem Tee, wandte seinen Blick nicht eine Sekunde lang Raito und Matsuda zu. „Ich gehe dann“, sagte Matsuda mit einem lauten Gähnen und streckte sich. „Und ihr zwei solltet auch nicht mehr zu lange machen.“ Er klopfte Raito noch einmal auf die Schulter. „Nicht, dass ihr mir so endet wie der Chef.“ „Apropos“, wandte Raito ein und fuhr derweil seinen Computer herunter. „Vater kommt übermorgen wieder.“ Matsuda lächelte. „Das ist schön. Ich hoffe er hat sich ordentlich kuriert.“ Raito nickte müde. „Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.“ „Gute Nacht, Matsuda-san.“ „Nacht“, kam es äußerst unverständlich seitens L gemurmelt – lange nachdem Matsuda die Tür hinter sich geschlossen hatte. Doch das Echo der zufallenden Tür hallte noch nach. Und plötzlich war es still. Totenstill. Lediglich das Brummen von Ls Computer umgab sie. Und selbst dieses wirkte unheimlich laut. Raito hatte sich in seinem Bürostuhl zurückgelehnt und starrte träumend auf den mittlerweile ausgeschalteten Monitor vor sich. Rechts von ihm hörte er ab und an ein leises „Klick“, wann immer L eine Maustaste drückte. Es war furchtbar. L schlürfte hörbar seinen Tee. Grausam. Er kaute pausenlos auf seinen Schokokeksen herum. Raito seufzte. Ja sogar das schmatzende Geräusch wenn er sich die Schokolade von den Fingern leckte, wirkte so laut, als täte er es unmittelbar neben Raitos Ohr. Raito seufzte übertrieben laut. Keine Reaktion. Er räusperte sich. Wieder keine Reaktion. „Ryuzaki!“, sagte er schließlich etwas gereizt. „Hm?“ Ls Kopf hatte sich tatsächlich ein paar Zentimeter gehoben, als Raito ihn endlich direkt angesprochen hatte. Doch ansehen tat er ihn nicht. „Hör auf mich zu ignorieren.“ „Bitte?“ „Du hast schon richtig gehört“, meinte Raito und starrte ihn an, auch wenn sein Blick nicht erwidert wurde. Es war genug. Das ging jetzt schon Tage so. Und lange würde er das nicht mehr aushalten. „Ich verstehe nicht, wieso du das tust, aber denk nicht, dass es mir deshalb nicht auffällt.“ „Ich weiß nicht wovon du redest, Yagami-kun“, kam es trocken, jedoch klar und deutlich zurück. Wieder hob sich die Teetasse an Ls blasse Lippen. Wieder kein einziger Blick. Und... Yagami-kun? Seit wann war er denn wieder Yagami-kun? War er nicht vor wenigen Tagen noch darum gebeten worden Raito genannt werden zu dürfen? Es verletzte ihn. Ja, es verletzte ihn wirklich und allein dieser Gedanke war so schockierend, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab: Ihn umgehend zu verdrängen. „Du weißt sehr wohl, wovon ich rede“, entgegnete Raito diesmal etwas lauter. Er drehte seinen eigenen Stuhl in Ls Richtung, griff nach der Lehne des Bürostuhls neben sich und drehte L samt Stuhl ebenfalls in seine Richtung. Und endlich sah er wieder sein Spiegelbild in den schwarzen Pupillen. Endlich – und wenn es auch nur für einen Moment war, bis L den Blick senkte und einen Punkt, irgendwo auf Raitos Stuhllehne fixierte. Dieser kurze Blick hatte Raito gereicht. Gereicht um ihn vollends zu verwirren. So trübe hatte er Ls Augen noch nie gesehen. „Ryuzaki“, versuchte er es erneut. „Warum hast du mich neulich geküsst?“ „Das sagte ich bereits“, antwortete L matt. „Ich-“ Weiter kam er nicht. Denn in diesem Moment, griff Raito mit beiden Händen die Lehnen von Ls Stuhl, rollte ihn zu sich und beugte sich bis auf wenige Zentimeter zu ihm herüber. „Wenn du es schon ausprobierst“, hauchte er gegen die blasse Haut. Er merkte deutlich, wie L sich unter ihm klein machte, sich in den Drehstuhl zurücksinken ließ. „Dann mach es wenigstens richtig.“ Plötzlich fand L sich in der Situation wieder, wo er zu Raito aufblicken musste, um ihn ansehen zu können. Allein diese, für jeden anderen nebensächliche, Tatsache machte ihn nervös. Sein Blick haftete einen Moment lang an Raitos braunen Augen. Sie sahen entschlossen aus. Wie immer. Aber jetzt gerade noch ein bisschen mehr als sonst. Die großen, schwarzen Augen wanderten weiter unruhig über Raitos Gesicht, dass ihm plötzlich so nahe war. Zu nahe. Gefährlich nahe. An seinen Lippen blieb Ls Blick schließlich hängen. Es kam ihm vor wie eine halbe Ewigkeit, dabei waren es letztendlich nur wenige Sekunden gewesen, bis Raito den letzten Abstand zwischen ihnen überbrückte und seine Lippen auf die des Anderen senkte. Es fühlte sich gut an. Verdammt gut sogar. Besser als beim letzten mal, wobei das wahrscheinlich eher daran lag, dass Raito da viel zu perplex gewesen war, um überhaupt irgendetwas zu fühlen. Und immerhin hatte er dennoch schon beim ersten Mal gemerkt, dass es sich auf jeden Fall schon mal nicht schlecht anfühlte, L zu küssen. Warum auch immer das so war. Auch als er diesmal die Gelegenheit hatte, die Lippen zu bewegen und dadurch erstrecht fühlte wie rau Ls Lippen nicht nur aussahen, sondern tatsächlich waren... es war immer noch nicht unangenehm. Er spürte Ls Atem an seinen Lippen, als er diese kurz löste, nur um sie kurz darauf wieder mit Ls zu verschließen und die Berührungen zu intensivieren. Raitos Hände rutschten von den Stuhllehnen, die eine kam auf Ls Knie zum liegen, die andere bahnte sich ihren Weg zum Nacken, wo sie begann, die wirren, schwarzen Haare zu streicheln. Ls Hände hingegen lagen nach wie vor still auf seinen eigenen Knien. Etwas angespannter als sonst, aber davon abgesehen nicht wirklich viel anders. Der Ermittler bemerkte nicht einmal, wie er selbst begonnen hatte, Raitos Kuss zu erwidern. Seine Augen waren längst geschlossen und er seufzte genießend, als Raitos Zunge sich zwischen seine Lippen drängte. Die große Wanduhr zeigte fast vier an. Ls Computer war ausgeschaltet. In dem Raum wo eine ganze Reihe von Computern, ein unordentlicher, kleiner Kaffeetisch, zwei alte Sofa und ein großer Sessel standen, war es dunkel. Raito lag wach, kerzengerade und die Arme hinter dem Kopf verschränkt, in seinem Bett und starrte an die Decke. Es war noch nicht sehr lange her, dass er sich von L verabschiedetet hatte. Er wusste nicht, was an diesem Abend passiert war, aber es war nicht bei EINEM Kuss geblieben. Nachdenklich fuhr er sich mit dem Finger über die Lippen. Er konnte es sich nicht erklären, nein er wollte viel mehr nicht. Es war so lächerlich. So furchtbar ironisch. Wenn er doch nur gewusst hätte, dass ein gewisser Ermittler gerade ebenfalls mit dem Daumen an den Lippen wach im Bett lag und sich die gleichen Gedanken machte. ~ Der nächste Tag begann, als wäre nichts gewesen. Nur einen deutlichen Unterschied merkte Raito, als er in die bereits vollbesetzte Zentrale kam. „Guten Morgen, Raito-kun“, begrüßte L ihn sofort. Er nannte ihn wieder beim Vornamen. Und vor allem: Er ignorierte ihn nicht mehr. Das beruhigte ihn schon mal ungemein. „Morgen“, entgegnete Raito und versuchte seine Stimme dabei verschlafen klingen zu lassen. Sein Blick fiel auf das restliche Team, welches wie immer auf dem Sofa saß und sich durch Akten wälzte. Als Raito jedoch den Raum betreten hatte, war es einen Moment lang ungewöhnlich still gewesen und er fragte sich, was wohl der Anlass dafür sein könnte. Auf seine Begrüßung kam keine Antwort. Irgendetwas war doch merkwürdig hier. L verhielt sich wieder normal, dafür sahen alle anderen ihn an, als käme er von einem anderen Stern. „Guten Morgen“, wiederholte er unsicher etwas lauter und sah Matsuda seltsam zusammenfahren, bevor er aufblickte. „Hallo, Raito-kun“, sagte der junge Mann schließlich lächelnd und endlich schlossen sich auch Aizawa und Mogi der Begrüßung an. Raito legte die Stirn in Falten, schob die Abwesenheit der Polizisten jedoch darauf, dass sie wohl mit der Arbeit beschäftigt waren. Er ging zu L und setzte sich neben ihn vor den Computer. „Irgendwas Neues?“, fragte er. Zwischen zwei Donutstücken schüttelte L den Kopf und brachte immerhin ohne sich zu verschlucken ein „Nein“, heraus. Was Matsuda allerdings nicht zu schaffen schien, denn in diesem Moment hörte Raito den Besagten hinter sich laut aufhusten. Als er sich umdrehte, klopfte Mogi ihm gerade auf den Rücken. Matsuda winkte hastig ab. „Geht schon“, japste er. „Nur verschluckt.“ Es vergingen ein bis zwei Stunden. Schweigsame, alles in allem recht langweilige Stunden. Recherchen wie immer. Recherchen die zu nichts führen würden. „Mogi-san, Aizawa-san“, wandte L sich irgendwann an die beiden Männer – natürlich ohne sich umzudrehen. Sein Daumen fuhr unablässig über seine Lippen, die Augen waren starr auf den Monitor vor sich gerichtet. „Ich würde Sie bitten sich an den abgesprochenen Ort zu begeben. Matsuda-san...“ Er hob die Hand und hielt einen kleinen Zettel über die Schulter. „Ha-hai“, stammelte Matsuda und sprang beinahe auf. Raito beobachtete fragend, wie Aizawa und Mogi ohne Widerworte aufstanden und den Raum verließen. „Rufen Sie bitte diese Nummer an – man möge mich in einer Viertelstunde zurückrufen. Sie wissen Bescheid.“ Matsuda war zu ihnen gekommen und hatte L den Zettel aus der Hand genommen. Raito glaubte, einen kurzen Moment einen betrübten Blick auf Matsudas Gesicht zu erkennen. Was genau ging hier eigentlich vor? „Jawohl“, meinte Matsuda nachdem er einen kurzen Blick auf das Papier geworfen hatte. „Sie können anschließend zu Aizawa und Mogi gehen. Ich brauche Sie hier dann nicht mehr.“ „Verstehe.“ Nein, er bildete sich das nicht ein. Hier war definitiv etwas faul. „Wiedersehen, Raito-kun.“ Wieso verdammt noch mal wandte er sich nun direkt an ihn? Und nicht an sie beide, ihn und L? Er hatte zu lange überlegt und war nicht mehr zu einer Antwort gekommen, bevor Matsuda zur Türe hinaus war. „Was geht hier vor?“, wandte er sich endlich an L. „Ich dachte es gibt nichts Neues. Wo hast du sie hingeschickt?“ Seine Stimme klang gereizt, kaum zu überhören, dass es ihn ärgerte offensichtlich außen vor gelassen worden zu sein. Doch auch ein Hauch von Unsicherheit schwang in der sonst so sicheren Stimme mit. Im gleichen Moment verließ Matsuda unten das Gebäude durch den Haupteingang. Er hatte seinen Anruf wie befohlen getätigt und lief nun zum Parkplatz. Misa, die direkt um die Ecke stand, hatte er nicht bemerkt. Schlagartig holte das Mädchen sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Matsuda hatte den Parkplatz noch nicht ganz erreicht, als sein Handy klingelte. Selbst das sonst so vertraute Geräusch des Klingeltons machte ihn heute – angesichts der Umstände – nervös. Mit zittrigen Händen griff er in seine Tasche. Er zitterte. Endlich musste er wenigstens das nicht mehr verbergen. Es war ihm mehr als schwer gefallen, sich vorhin in der Zentrale nichts anmerken zu lassen. „Ja?“ „Matsuda-san!“ „Ah, Misa-Misa“, ein Hauch von Sorge lag in der Stimme des jungen Polizisten. Nicht so in der des Models. „Haben Sie die Kameras so installiert, wie ich gesagt habe?“ „Ah? Ach ja.“ Er kramte in seiner Anzugtasche nach dem Autoschlüssel. „Ja, das hab ich heute Morgen schon gemacht. Stimmt ja, ich wollte Ryuzaki noch etwas dazu fragen...“ Schlagartig wurde er unterbrochen. „Haben Sie mit Ryuzaki darüber geredet?“, kam die Frage etwas zu laut für Matsudas Geschmack. „Nein, ich habe es vergessen. In all dem... Durcheinander.“ Wieder klang seine Stimme wehmütig. „Gut. Ich meine...“ Misa blickte nach oben zu dem Gebäude, in dem L und Raito immer noch saßen. „Ich war gerade bei ihm“, log sie. „Es ist alles in Ordnung. Sie müssen sich also nicht weiter darum kümmern.“ „Danke“, seufzte Matsuda in den Hörer und stieg in sein Auto. „Hör zu Misa... ich weiß, dass ist hart, aber...“ „Schon gut, Matsuda-san.“ Misa klang leise und tröstend. Doch auf ihren Lippen lag ein siegessicheres Lächeln. Sie war nicht nur ein Model, sondern auch eine herausragende Schauspielerin. „Ich bin stark.“ „Ich weiß“, lächelte der junge Polizist. „Bis bald.“ Er konnte nichts mehr sagen, bevor Misa aufgelegt hatte. Seufzend ließ er den Kopf auf das Lenkrad fallen. Das durfte einfach nicht wahr sein. „Unwichtig“, antwortete L auf Raitos Frage. „Ich wollte nur noch einen Moment alleine mit dir sein.“ Raito glaubte, sich verhört zu haben. Ungläubig blickte er zu L hinüber. Er saß schon lange nicht mehr ruhig auf seinem Stuhl. Einen Moment alleine mit ihm sein? Solche kitschig romantischen Worte passten absolut nicht zu L. Allein dieser Satz von dem sonst so rationellen, menschenfremden Mann machte ihn und diese Situation verdächtig. Raitos Herz schlug schneller. Er stand auf, ging zu Ls Stuhl und beugte sich über ihn, stützte dabei die Arme auf den Lehnen ab. Er bemerkte den trüben Film, der über Ls Augen lag und sie glasig erscheinen ließ. Doch der Ermittler wich Raitos Blick, mit dem er versuchte ihn zu durchschauen, nicht aus. Raito nahm die eine Hand von der Stuhllehne und fuhr damit nachdenklich über Ls blasse Wange. Keine Reaktion. Nicht die Geringste. Er saß da wie versteinert. Was ging nur vor in diesem genialen, verrückten Köpfchen? Auch als Raito sich schließlich ganz nach vorn beugte, die Augen schloss und ihn küsste, kam nicht einmal eine einzige Bewegung. Und plötzlich war da diese eine, ganz bestimmte Frage in Raitos Kopf. Er hatte keine Ahnung woher sie auf einmal gekommen war und wusste, dass es im Moment auch keine Rolle spielte, aber dennoch... Was empfand L für ihn? Er löste seine Lippen von denen des blassen Mannes und sah ihn einen Moment lang fragend an. Nichts. In diesen Augen war absolut nichts zu finden. „Ryuzaki-“, begann er. Doch weiter kam er nicht, denn just in diesem Augenblick wurde die schwere Eisentür hinter ihnen mit einer Wucht aufgerissen, dass an der Wand, gegen die sie schlug, der Putz zu Boden rieselte. Raito richtete sich auf. Eine ganze Horde, mit Gewehren schwer bewaffneter Männer stürmte den Raum. Sie trugen soldatenähnliche Anzüge und Helme, die ihre Gesichter verbargen. „Yagami Raito“, ertönte die tiefe, monotone Stimme von einem von ihnen. Raitos Augen weiteten sich. „Sie sind verhaftet.“ „Was?“ Raito fuhr herum und starrte L an. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er suchte nach einer Antwort in den schwarzen, leeren Augen seines Freundes,... Feindes – was auch immer. Zwei Arme packten die seinen und drehten sie ihm unsanft auf den Rücken. Er stieß einen schmerzhaften Laut aus. „Was zum Teufel...?!“, fluchte er und blickte sich nach den Männern um. Zwei Weitere griffen jeweils nach seiner linken und rechten Schulter und versuchten sein Zappeln zu verhindern. „Lassen Sie mich los, verdammt noch mal!“ L war aufgestanden. Wortlos stand er da, Raito wenige Meter vor ihm, und sah zu, wie die Männer ihm Handschellen anlegten. „Ryuzaki!“, schrie Raito verzweifelt und blickte zu dem Dunkelhaarigen auf. Er wurde in die Knie gezwungen. Wortwörtlich. „Ryuzaki, was soll das?“ Ls Blick war ausdruckslos. Und doch sah es in Raitos Augen so aus wie Überlegenheit, die sich in der Schwärze seiner Augen widerspiegelte. „Sag ihnen, sie sollen mich los lassen!!!“ Doch das tat L nicht. Er sagte nichts, tat rein gar nichts, stand einfach nur da, die Arme schlaff an seinen Seiten herabhängend, den Kopf etwas höher gehoben als sonst, und starrte ihn an. Mit einem Blick, der einfach alles wusste, dem man nichts vormachen konnte. Einer der Männer zog Raitos Arm unsanft zu sich, was Angesichts der Tatsache, dass seine Arme sowieso schon auf den Rücken gedreht waren, erstrecht furchtbar wehtat. Wieder schrie Raito auf. Doch dann spürte er einen spitzen Stich in seiner Armbeuge. „Eine Spritze“, war das einzige, was er noch denken konnte, dann begann Ls Bild vor ihm zu verschwimmen. „Führt ihn ab“, echote es und es klang, als wäre Ls ruhige Stimme meilenweit entfernt. Und schließlich verfiel er der Dunkelheit. ~ Das nächste, was Raito wahrnahm, waren Schmerzen. Wobei er nicht wirklich sagen konnte, woher genau sie kamen. Sein Kopf fühlte sich an, als habe jemand mit einem Hammer nicht nur einmal dagegen geschlagen. Seine Gelenke waren verspannt, als habe er in jedem einzelnen Muskel einen Kater und sein Hals fühlte sich trocken und kratzig an. Es hätte wohl erstrecht wehgetan, die schmerzenden Glieder zu bewegen, diese Option stellte sich jedoch wenig später als unmöglich heraus. Denn als Raito versuchte die Arme zu bewegen, scheiterte er kläglich. Festgebunden. Immer noch. Nun allerdings vor dem Körper, nicht dahinter. Ein Klappern war zu hören, als er versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Handschellen, Ketten oder irgendetwas in der Art. Er biss sich auf die Unterlippe. Was um alles in der Welt war passiert? Womit auch immer sie ihm die Augen verbunden hatten, es war hart, kalt und feucht – letzteres wahrscheinlich von seinen eigenen Tränen, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, geweint zu haben. Jedenfalls drückten sich die Ränder des vermeintlichen Metalls, wie Raito schlussfolgerte, gewaltig in seine Haut. Er nahm einen äußerst sterilen Geruch war, fast wie in einem Krankenhaus. Es roch nach Kälte. Und Leere. Der Geschmack von Blut sammelte sich in seinem Mund, als er die Zähne zu fest in die Lippen grub. Ein zischender Laut entwich ihm. Wie konnte so etwas nur passiert sein? Hatte er verloren? Wusste man, dass er Kira war? Und was noch viel wichtiger war, hatte man Beweise? War L das gewesen? Der Gedanke an Ls merkwürdiges Verhalten in den letzten Tagen schmerzte Raito fast schon. Wie hatte er nur so dumm sein können? Beinahe hätte er wirklich geglaubt, dass L ihn in irgendeiner Form mochte. Wenn man vom Teufel sprach... „Raito-kun“, ertönte es in einem etwas höheren Tonfall, als Ls Stimme eigentlich war. Offensichtlich durch ein Mikrophon. Raito schreckte zusammen, als das laute Geräusch so plötzlich ertönte. Es echote. Er musste also in einem etwas größeren, recht kahlen Raum sein. „Ryuzaki“, zischte er. Dann wurde seine Stimme lauter. „Wo bin ich? Was zum Teufel soll das hier?!“ Es dauerte einen Moment lang, bis eine Antwort kam und Raito hatte schon den Mund aufgemacht um seine Frage noch um einiges aggressiver zu wiederholen. „Du wurdest festgenommen“, war Ls überflüssige Aussage. Ach nein, wirklich? Darauf wäre er jetzt echt nicht von alleine gekommen. „Es gibt Beweise, dafür, dass du Kira bist.“ Raito riss die Augen auf. Und in diesem Moment war er froh, dass L es nicht sehen konnte. Das durfte nicht wahr sein. Eine Lüge. Ein Trick. Ja, ganz sicher. „Das Death Note ist in Gewahrsam. Amane hat dich verraten.“ Eine Gänsehaut breitete sich auf Raitos ganzem Körper aus. Er spürte wie ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Misa...? Ihn verraten? L wusste über das Death Note Bescheid? Er erinnerte sich an Misas merkwürdiges Verhalten, bei seinem Anruf. Konnte das wirklich möglich sein? Hatte er sich so in diesem scheinbar so naiven, dummen Mädchen getäuscht? „Dein Vater weiß nichts davon. Er wird es erst erfahren, sobald dein Urteil feststeht.“ Wie ruhig L mit ihm sprach. Als würde er mit einem Fremden reden. Als hätten sie sich nie gekannt. Allein sein Tonfall machte Raito wütend und zugleich stieg Panik in ihm auf. Sein Urteil? Er würde verurteilt? Bei der Anzahl von Morden, die er begannen hatte, stand das Urteil doch quasi schon fest. Was wollten sie da noch diskutieren? Verdammt, er würde sterben!!! „Ryuzaki!“, schrie er und versuchte Arme und Beine loszureißen. Er wusste nicht einmal wieso er es versuchte. Er wusste, es war aussichtslos. Es war mehr eine Art Instinkt. „Verdammt, lass mich hier raus! Das ist doch Unsinn! Ich weiß nicht, was Misa dir erzählt hat, aber ich schwöre, ich bin nicht Kira.“ Keine Antwort. „Hörst du mich, Ryuzaki?!“ ... „Ich bin nicht Kira!!!“ ... „Du solltest gestehen.“ Ls Stimme klang leiser als zuvor und rauer. „Vielleicht... bringt dir das ein bisschen Gnade.“ „Was- Ryuzaki, so hör doch, ich-“ „Ich mache das Mikrophon jetzt aus. Wir reden später.“ „Nein, warte, Ryuzaki, ich-“ Raito hörte ein kleines, klackendes Geräusch. Er hatte es tatsächlich ausgemacht. Einfach so. „Ryuzaki!!!“ L zog den Daumen reflexartig von seinem Mund weg, als er zu fest darauf gebissen und sich selber wehgetan hatte. Sein Blick ruhte auf dem raumhohen Fenster, auf dessen anderer Seite sich Raito befand. In einer ähnlichen Aufmachung, wie Misa Amane, als sie verdächtigt worden war, der zweite Kira zu sein. Mit dem feinen Unterschied, dass es nun Beweise gab. Sein Blick sah starrer aus als sonst und kaum einer der Anwesenden in dem kleinen Kontrollraum, traute sich, ihn anzusprechen. Schließlich war es Watari, der das Wort ergriff. „Ryuzaki, Sie müssen gehen“, sagte er und seine Stimme klang noch leiser als sonst. „Ja“, antwortete L mehr als eine Bestätigung dafür, dass er den Älteren überhaupt gehört hatte. Einen Moment noch musterte er Raito – oder das was er von ihm sah – dann stand er schließlich auf und verließ mit den Anderen den Raum. Auf dem Tisch neben den Kamerabildschirmen, Computern und dem ausgeschalteten Mikrophon, stand ein Teller mit einem Stück Erdbeertorte darauf. Unangerührt. ~ Der Konferenzsaal war proppenvoll und selten ging es bei Interpol so durcheinander zu, wie heute. Angesichts der Umstände war dies wohl nicht verwunderlich. Kira war gefasst. L saß in einem anderen Zimmer des Gebäudes, beobachtete das Geschehen über einige Monitore und kaute auf seinem Daumen herum. Kira war gefasst... Ein merkwürdiges Gefühl. Eine gute Stunde war vergangen, in der einige belanglose Reden gehalten wurden. Formelles – oder anders ausgedrückt Langweiliges. L beobachtete stumm. Sein Auftritt sollte noch kommen. Er dachte daran, wie es dazu gekommen war. Dazu, dass er jetzt hier saß, auf der Gewinnerseite und Kira, ausgerechnet Raito, gefesselt und geknebelt, fest saß, in einem abgelegenen Gebäude, einer leer stehenden Feuerwehrübungsstätte, die extra für diesen Fall umgebaut worden war. Und das alles wegen der grenzenlosen Liebe von Misa Amane – und der damit verbundenen Blindheit. ~ „Misa-san. Ich möchte dir ein paar Fragen über Kira stellen.“ Misa blickte von ihrem Erdbeermilchshake auf und machte große Augen. Sie hatte schon geahnt, dass es nichts Gutes verheißen konnte, wenn L sie in ein Café einlud. Es war überhaupt schon von dem Moment an merkwürdig gewesen, wo er sie überhaupt angesprochen hatte. Selbst wenn er tatsächlich rein zufällig in der Stadt gewesen sein sollte – und schon das wirkte bei L, der sonst nie seine vier Wände verließ, merkwürdig – er hätte sie doch niemals einfach angesprochen. Sie – Misa Amane, die verdächtig wurde der zweite Kira zu sein. Was wollte er von ihr, nachdem er sie hatte laufen lassen müssen? Es passte absolut nicht zu jemandem wie L, sie ohne Hintergedanken auf einen Kaffee oder in Ls Fall zu Zucker mit Tee einzuladen. „Ich hätte es wissen müssen“, maulte Misa mürrisch und lehnte sich zurück. Sofort verschloss das Mädchen abwehrend die Arme vor der Brust. „Dass es wieder um so etwas geht. Ich habe es dir oft genug gesagt und ich sage es wieder: Ich weiß nichts über Kira!“ L ließ sich von der Abneigung des jungen Models nicht beirren. Es war zu erwarten gewesen, dass sie nicht einfach so redete. Sie hatte tagelang lieber nichts gegessen, nichts getrunken und sich anketten lassen, anstatt zu reden. Aber egal, wie groß ihre Liebe zu Yagami Raito war, auch sie hatte Schwachpunkte. Und L wusste genau, wie er sie dazu bringen konnte, ihm das zu sagen, was er wissen wollte. Er griff mit Daumen und Zeigefinger den schmalen Henkel der Tasse und nahm einen Schluck von seinem Tee. Dann begann er. „Vielleicht fällt dir etwas ein, wenn ich dir sage, dass Kira der Mörder deiner Eltern ist?“ Ein spöttisches Lachen war Misas Antwort. „Was redest du da?“, erwiderte sie. „Kira hat den Mörder meiner Eltern umgebracht.“ „Ja, das auch“, stimmte L ihr zu. Er legte die Hände auf seine angezogenen Knie und musterte Misa aufmerksam. „Um zu testen, wie weit er seine Opfer beeinflussen kann.“ Misas Augen weiteten sich. Doch sie errang ihre Fassung schnell wieder. „Unsinn!“ „Da er die Resultate seiner Experimente sofort brauchte, war es leichter sich prominentere Persönlichkeiten als Testpersonen auszuwählen. Deine Eltern waren beide in der Medienbranche tätig, das stimmt doch, oder?“ Misa nickte und schaute ihn skeptisch von unten herauf an. „Kira wusste also ganz sicher ihre Namen. Er brachte den Mörder deiner Eltern erst dazu, sie umzubringen.“ „Du redest Unfug, Ryuzaki-san“, warf sie ihm ins Gesicht. Sie war unverschämt. Wie immer. Was fiel ihr überhaupt ein, ihm so etwas zu unterstellen? Wusste sie, dass sein Gerede nur heiße Luft war? Wusste sie, dass er damit nur versuchte, etwas mehr aus ihr herauszulocken? Misa Amane wusste definitiv mehr, als sie zugab. Dass Misas Gedanken in diesem Moment verrückt spielten, konnte er nicht wissen. „Man kann nicht einen Menschen dazu bringen, andere zu töten. Das funktioniert mit dem Death Note nicht“, überlegte sie. Was aber, wenn es möglich war diese Regel zu umgehen? Theoretisch hätte Kira nur über ihre Eltern schreiben müssen „Sterben am Tag x als jemand in ihr Haus einbricht“ und über den Mörder „Bricht am Tag x in das Haus der Amanes ein.“ Misa schüttelte den Kopf. Raito würde so etwas nicht tun. Er testete nicht an Unschuldigen. „Du lügst!“, sagte Misa und ihre Stimme war nach wie vor standfest. „Woher willst du das wissen?“ „Es ist mein Job so etwas herauszufinden“, entgegnete L trocken und spießte die Erdbeere auf seinem Teller, das einzige was von dem Stück Torte noch übrig war, auf die Gabel auf. „Da ich nach wie vor sicher bin, dass du der zweite Kira bist, gehe ich davon aus, dass du weißt, dass Kira nicht nur durch eine Herzattacke töten kann. Deine Reaktion eben bestätigt meine Annahme. Sonst hättest du mich sicher gefragt, wie ich darauf komme. Schließlich wurden deine Eltern erschossen.“ Misa bis sich auf die Zähne. Verdammt, sie musste vorsichtiger sein. „Du kannst es nicht beweisen“, sagte sie endgültig. Stimmt. Das konnte er nicht. Und damit fühlte sie sich auf der sicheren Seite. Sie beugte sich vor und schlürfte ihren Shake zu Ende. Das war der Punkt. Noch konnte L es nicht beweisen, aber bald. Und Misa selbst würde sich ihm innerhalb absehbarer Zeit ans Messer liefern. Er schluckte die gerade in den Mund gesteckte Erdbeere herunter und fuhr dann fort. „Hör zu, Misa-chan.“ Oho, wir waren also schon beim '-chan'. Man durfte nicht vergessen, dass L nicht weniger gut schauspielern konnte, als Raito und er wusste sehr wohl, wie man Leute manipulieren konnte. Auch das war Teil seines Berufs. „Mag sein, dass ich es nicht beweisen kann, aber ich kenne jemanden, der kann es.“ Misas Augen weiteten sich. „Sein Name ist Erald Coil, ein Mann, der mir in nichts nachsteht. Du wirst vielleicht von ihm gehört haben.“ Oh ja, das hatte sie. Von Raito. Aber das konnte und würde sie natürlich nicht sagen. „Ich weiß von ihm, dass er Beweise dafür hat, dass Raito-kun Kira ist.“ Prompt verschluckte sich Misa an ihrem Erdbeershake und begann zu husten. „Bitte?“, rief sie aus. „So ein Schwachsinn! Raito ist nicht Kira!“ „Du weißt, dass das eine Lüge ist, Misa-san. Wir wissen das. Und Erald Coil weiß es auch.“ In Ls Blick hatte sich etwas verändert. Er beugte sich über den Tisch und starrte Misa eindringlich an. „Hör mir gut zu. Raito-kun ist mit mittlerweile ein sehr guter Freund geworden. Ich fände es wirklich bedauerlich, ihn zu verlieren.“ Misa glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu könne. Solche Worte? Von L? Natürlich, Raito und L hingen seit Monaten pausenlos zusammen. Aber das lag doch an den Ermittlungen. Das war doch... geschäftlich, falls man es so nennen konnte. Und Raito wollte L sowieso aus dem Weg räumen. L musste lügen. „Wenn du mir nicht hilfst, dann wird Coil es sein, der in den nächsten Tagen die Beweise gegen Raito an Interpol weiterleiten wird. Und dann erwartet Kira in absehbarer Zeit die Todesstrafe.“ Allein diese Worte ließen Misa einen Schauer über den Rücken jagen. Sie blickte nervös auf das leere Glas vor sich. Raito sollte sterben? Was, wenn L die Wahrheit sagte? Sie musste mit ihm reden. Und zwar dringend. „Es gibt keine Möglichkeit für Raito-kun, Coil aufzuhalten“, sagte L, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Weder du noch er, kennen sein Gesicht oder seinen wirklichen Namen. Und es bleibt euch nicht mehr genug Zeit, das herauszufinden.“ Verdammt, er hatte Recht! „Misa-chan“, meinte L eindringlich und hielt den Blick weiterhin auf ihre Augen gerichtet, auch wenn Misa pausenlos starr, und mit zusammengezogenen Brauen ihren leeren Milchshake fixierte. „Wenn ich Raito-kun stellen könnte, dann könnte ich dafür sorgen, dass er nicht hingerichtet wird. Ich will das doch genauso wenig wie du!“ Misa schwieg. „Liebst du ihn, obwohl er deine Eltern umgebracht hat?“ „Ja, das tue ich!“, kam die prompte und etwas zu laute Antwort von Misa und zeitgleich blickte sie auf, sah L fast schon verzweifelt, aber dennoch sich ihrer Worte bewusst, an. Ls Lippen formten sich zu einem schmalen Lächeln. Er hatte sie. So einfach. Es war fast schon lächerlich. „Du hast soeben gestanden, Misa Amane“, sagte er mit einem triumphierenden Ton in der Stimme. „Eh?“ Misa fuhr hoch und sah einen Moment lang ratlos aus. Dann schien es ihr zu dämmern. Sie hatte sich verplappert. „Wo wir das geklärt hätten...“ Plötzlich wurde L von einer leisen Melodie unterbrochen und blickte sich fragend um. „Oh!“, fiepte Misa und griff ihn ihre Tasche. „Mein Handy.“ Sie warf einen Blickt auf das Display und schaute L dann mit großen, fragenden Augen an. „Es ist Raito.“ „Geh dran“, befahl L ihr monoton. Zögernd nahm Misa das Handy hoch und drückte dann den Annahmeknopf. „Ja, Raito?“ Sie klang leise. Ihr Blick war auf L gerichtet, der ihr stumm signalisierte, sich normal zu verhalten. „Misa, wo bist du?“, fragte Raito am anderen Ende der Leitung. „Uhm...“ Sie zögerte. L schüttelte leicht den Kopf und macht mit den Händen eine verneinende Gestik. „Misa?“, wiederholte Raito. „Ah – tut mir leid, Raito. Ich kann gerade nicht telefonieren.“ Sie versuchte ihre Stimme ruhig zu halten und doch klang ihr Tonfall seltsam ernst. „Misa, ist alles in Ordnung? Du klingst-“ „Ja, mir geht es gut!“, gab sie etwas zu laut und etwas zu prompt zurück. „Ich muss auflegen, Raito.“ „Okay, verstehe. Ich melde mich später“, meinte Raito, doch sie wartete nicht weiter ab, sondern legte schon auf. Seufzend steckte sie das Handy zurück in ihre Handtasche, schloss für einen Moment nachdenklich die Augen, und wandte sich dann mit ernster Miene an L. Scheinbar lag diesem Irren tatsächlich etwas an Raito. Raitos Handlungen waren in letzter Zeit immer gewagter geworden. Was, wenn Erald Coil tatsächlich einen Beweis gegen ihn gefunden hatte? Was, wenn ihm ein Fehler unterlaufen war? Misa mochte gar nicht daran denken, was das zur Folge haben würde. L hatte es ihr so oder so schon allzu deutlich gesagt. Raito würde sterben... „Wenn du mir hilfst, wird das nicht nur Raito retten, sondern auch dich“, sprach L weiter, ohne auf Raitos Anruf einzugehen. „Ich gehe davon aus, dass die Beweise gegen Raito auch dich als zweiten Kira verraten würden. Ich kann dafür sorgen, dass das nicht bekannt wird.“ Misa dachte scharf nach. Sie selbst war nicht so wichtig, aber auf Raito kam es an. Sie war sich sicher, dass er schreien und toben würde, wenn sie ihm erzählte, was heute geschehen war. Er würde sich nicht freiwillig stellen, eher würde er versuchen innerhalb von vierundzwanzig Stunden Erald Coil zu finden. Aber selbst wenn ihm das gelingen würde, so konnte er ihn nicht töten. Selbst mit ihren Augen nicht. Denn dann würde L auch ohne ihre Hilfe den Beweis dafür haben, dass Raito Kira war. Sie war sich sicher, dass L niemandem sonst erzählt hatte, was Erald Coil wusste. Es war eine Sackgasse. Egal, was sie tat. Es war zu spät. Sie hatten verloren. Ihr Herz schlug schneller. „Also gut“, sagte sie schließlich. „Ich helfe dir.“ ~ L starrte mit glasigem Blick auf das schwarze Notizbuch, was in einer Folie verpackt, vor ihm lag. „Raito-kun...“ „Selbstverständlich die Todesstrafe!“, riss eine ziemlich laute, aufgebrachte Stimme ihn aus den Gedanken. Er richtete den Blick wieder auf einen der Monitore. Eine heiße Diskussion über Kiras Strafe hatte begonnen. Das war sein Einsatz. Er drückte den Knopf eines Mikrofons und sprach hinein: „Watari.“ Mehr musste er nicht sagen. Der alte Mann, der bis jetzt in einem Nebenraum zum Konferenzsaal gewartet hatte, betrat den Besagten nun mit dem Laptop in den Händen. „So viele Menschen, wie Yagami Raito getötet hat spielt das Alter absolut keine Rolle!“, schimpfte John Greenman, ein dicker Mann mit Halbglatze, der Vertreter der Vereinigten Staaten. „Seine Art zu denken und zu handeln und der Zeitraum über den sich dieses Verbrechen erstreckt, macht mehr als deutlich, dass er sich sehr wohl über seine Taten bewusst war“, fügte ein anderer Mann hinzu. „Dagegen! Kira sollte lieber lebenslänglich eingesperrt wer-“ Die Zwischenrufe verstummten schlagartig, als Watari mit dem Laptop in der Hand hinter das Podest betrat. Er öffnete es und drehte es der Menge zu. „Werte Damen und Herren von Interpol“, ertönte Ls verzerrte Stimme. Mit einem mal war es mucksmäuschenstill. „Ich möchte Sie bitten, sich meinen Vorschlag anzuhören.“ Er wartete einen Moment ehe er weiter sprach. „Kira mag ein Mörder sein, aber hinter Yagami Raito verbirgt sich neben Kira ein Genie, um dessen Intellekt es durchaus schade wäre.“ Ein Raunen ging durch die Bänke. „Ich kenne eine Institution in England, in der Yagami Raito bestens aufgehoben wäre. Selbstverständlich stünde er dort rund um die Uhr unter Beaufsichtigung. Da man mit Sicherheit sagen kann, dass die Chancen für ihn, wieder ein Death Note in die Hände zu bekommen mehr als gering, wenn nicht gleich null sind, sehe ich keine Gefahr ihn ihm. Er würde niemals auf andere Art und Weise töten.“ „Moment! Einen Moment mal!“, unterbrach jemand Ls Rede. Ein großer, stämmiger Mann mit Bart hatte sich erhoben und sprach in schlechtem Japanisch. „Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen Kira am Leben lassen?“ Sofort wurde das Gemurmel wieder lauter und L hörte deutlich negative Zwischenrufe. „Bitte lassen Sie mich ausreden“, sprach er ruhig weiter. „Sie müssen verstehen. Kiras, nein, Yagami Raitos Fähigkeiten sind durchaus mit meinen zu vergleichen. Sein Verlust wäre unter Umständen auch ein Verlust für Interpol. Ich bin mir sicher, dass er es noch weit bringen-“ „Weit bringen!“, rief wieder jemand dazwischen. „Das ist L!“ Einer der Anwesenden war aufgestanden und deutete nun auf den Laptop, der vor Watari stand. „Das ist L, der Kira gestellt hat. L, dessen Gesicht und Namen wir nach wie vor nicht kennen. Und er sagt, Kira soll am Leben bleiben?!“ „Ich verstehe ihre Aufregung, aber-“ Wieder wurde er unterbrochen. „Tun Sie das, ja? Davon merkt man aber wenig! Es geht hier nicht um private Beziehungen, L! Persönliche Einflüsse zählen nicht.“ L biss sich auf den Daumen und stieß einen zischenden Laut aus, zu leise, als dass das Mirkofon ihn übertragen hätte können. Natürlich. Raito war kein Unbekannter. Er war Soichiro Yagamis Sohn. Und man wusste mittlerweile auch, dass L und Raito sich kannten. L hatte gewusst, dass es nicht leicht werden würde, Interpol – und später das Gericht – von seinen Plänen zu überzeugen, aber dass sie sich so sträuben würden... gegen ihn! ~ Raito hatte kein Zeitgefühl mehr. Nachdem sie ihm wunderbar eingeschlafen waren, sodass allein der Versuch einen Finger oder einen Zeh zu bewegen, schmerzhaft war, fühlten sich seine Arme und Beine mittlerweile nur noch taub an. Er probierte es zwar nicht, aber er war sich sicher, dass er nicht einmal mehr einen Ton heraus gebracht hätte. Seine Kehle war ausgetrocknet und zugeschnürt zugleich und seine geschlossenen Augen brannten unter dem Metall. Es war spät, als L, Mogi, Aizawa und Matsuda im Beobachtungsraum neben Raitos Zelle saßen. Sehr spät um genau zu sein. Bei Ls letztem Blick auf die Uhr, und der war schon eine Weile her gewesen, hatten die Zeiger halb fünf angezeigt. L war der Einzige, der emotionslos und wach wie immer auf seinem Bürostuhl vor dem Fenster saß, Tee schlürfte und Raito beobachtete. Dieser hatte jedoch, seit sie von der Interpolkonferenz zurückgekommen waren, keine einzige Regung gezeigt. „Ist er tot?“, war Matsudas erste Frage gewesen. Matsuda ging es von allen am schlechtesten. Zumindest war er der Einzige, der es so offen zeigte. Er war sichtlich blass, seine Augen waren gerötet und bei jedem noch so kleinen Geräusch fuhr er zusammen. Wenn er sich schon so fühlte, wie würde es erst dann Soichiro Yagami ergehen, wenn er erfuhr, dass sein Sohn tatsächlich Kira war? „Matsuda-san“, sprach L ihn an. Und wieder schreckte der junge Mann hoch. „J-ja?“ „Gehen Sie nach Hause.“ „Aber-“ „Nichts aber“, fiel L ihm ins Wort. „Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Das Gleiche gilt für Aizawa-san und Mogi-san. Die Sonderkommission...“ Er zögerte. „...ist aufgelöst.“ Dieser Satz war so endgültig. Und hallte so bitter nach, wie es niemals jemand für möglich gehalten hätte. Dass es so sein würde, wenn Kira gefasst war... ~ Mehrere Tage waren vergangen, seitdem Kira gestellt worden war. Die Nachricht war für Soichiro Yagami ein Schock gewesen. Raitos Mutter und Schwester hatte man bisher noch immer nichts gesagt. Es reichte, dass sein Vater nun seinetwegen endgültig im Krankenhaus lag. Misa Amane hatte die letzten Tage damit verbracht pausenlos auf Matsudas Handy anzurufen, zu hoffen, dass man ihr sagte, wo Raito war. Doch das durfte Matsuda nicht. Wieder war es bereits fast morgen, als L und die drei ehemaligen Soko-Mitglieder schweigend, beobachtend in dem kleinen Raum saßen. Watari war gerade unterwegs. L fragte sich, wieso die drei Polizisten überhaupt noch jeden Tag herkamen. Viel würden sie hier nicht verpassen. Raito sprach kaum ein Wort, rührte sich noch weniger und weigerte sich zu essen und zu trinken. Ähnlich wie Misa damals. Sie konnten nichts anderes tun, als da sitzen und auf Nachricht von Interpol bezüglich des Gerichtsverfahrens zu warten. Und damit auf Raitos Hinrichtung. Sein Kuchenstück blieb L unangenehm im Hals stecken, als er daran dachte. Er hatte sie nicht überzeugen können. Er hatte versagt. Lustlos legte er die Gabel auf den Teller und schob diesen von sich. „Aizawa-san, würden Sie bitte die Videobänder wechseln?“, durchbrach er schließlich die schneidende Stille. Aizawa, der neben dem eingenickten Matsuda gesessen hatte, stand auf. „Sofort.“ „Danke. Kamera eins und vier“, erklärte L, wandte den Blick derweil keine Sekunde von Raito ab. Erst als Aizawa den Raum verlassen hatte, drehte er sich kurz um, um festzustellen, dass auch Mogi mittlerweile eingeschlafen war. Zwei der Bildschirme neben L wurden kurz schwarz. Auf den übrigen sah er Aizawa zuerst an der einen Kamera herumbasteln, dann an der anderen. Keinerlei Reaktion von Raito. „Danke, Sie können gehen“, meinte L, kaum dass Aizawa wieder zurück war. Er deutete mit einer vagen Kopfbewegung auf die beiden schlafenden Männer hinter ihm auf dem alten Sofa. „Und nehmen Sie die beiden hier gleich mit.“ ~ Viertel nach sechs. L zuckte leicht, als er aus seinem Halbschlaf aufwachte. Er war nicht sicher, ob er geschlafen hatte, aber die Uhr verriet ihm, dass nicht allzu viel Zeit vergangen war, seitdem er das letzte mal darauf geschaut hatte. Seine geröteten Augen fixierten starr das Bild Raitos vor sich. Er seufzte und griff nach der Teetasse zu seiner Rechten. Der Tee war kalt. Das leise Ticken der Wanduhr reizte ihn. Die Stille reizte ihn. Die ganze Situation. Er dachte nach. Raito war Kira. Seit vier Tagen und sechzehn Stunden. Es fühlte sich furchtbar an... „Ah!“ L schreckte auf, als sich auf der anderen Seite des Fensters etwas rührte. Raito war zusammengezuckt und hatte einen Aufschrei von sich gegeben. L sah, wie sich seine Brust schneller als gewöhnlich hob und wieder senkte. Er hatte den Mund geöffnet und schnappte nach Luft. Der Ermittler schaltete das Mirkophon ein. „Raito-kun, alles in Ordnung?“ Raitos Kopf wandte sich hektisch nach links und rechts, als würde er sich umblicken, obwohl die Augenbinde ihn nach wie vor daran hinderte. Es dauerte einen Moment, in dem L nur ein ersticktes Keuchen von ihm hörte, bis er schließlich antwortete. „Alles in Ordnung“, wiederholte er mit schwacher, kratziger Stimme. Nahezu jede zweite Silbe musste L erraten, da Raitos Stimme ihm regelmäßig den Dienst quittierte. „Alles in Ordnung, natürlich, alles in Ordnung“, redete er wie in Trance weiter und legte den Kopf nach hinten, so weit, bis er gegen die Rückenlehne des stuhlartigen Gebildes stieß. Wieder zuckte L merklich auf seinem Stuhl zusammen, als Raito plötzlich laut schrie: „Ich bin Kira!“ L biss sich auf den Daumen. „Ich bin Kira“, wiederholte Raito lachend. „Natürlich ist alles in Ordnung, Ryuzaki!“... L schwieg. Alles was er wahrnahm war Raitos heißeres Schnaufen und schließlich eine Spur Tränen, die unter dem Metall hervor, über Raitos Wangen liefen, während dieses ironische Lächeln auf seinen Lippen lag. „Hast du gegessen?“, fragte L schließlich, denn er war heute Mittag nicht da gewesen, als Watari Raito wie jeden Tag etwas zu Essen und zu Trinken gebracht hatte. L wusste lediglich von Watari, dass Raito sich bisher immer geweigerte hatte zu essen. Ein, zwei Schlücke Wasser waren eigentlich auch viel zu wenig. Kein Wunder, dass die wenige, freie Haut an Gesicht, Händen und Füßen, die L sehen konnte, innerhalb der letzten Tage schrecklich blass geworden war. Fast so blass wie seine Eigene. Raito schüttelte schwach den Kopf. „Wozu?“, keuchte er. „In ein paar Wochen bin ich sowieso tot.“ L wusste nicht wieso, aber allein diese Worte lösten ein mehr als unangenehmes Stechen in seiner Magengrube aus. Raito ließ den Kopf kraftlos auf die Brust sinken. „Raito-kun...“, setzte L an. Keine Antwort. Und wieder keine Reaktion. Die Räder des Stuhls klapperten auf dem Steinboden, als L den Stuhl zurückschob und aufstand. Er drückte einige Tasten auf der Tastatur, einige Knöpfe an einem Apparat und verließ dann den Raum. Eine Weile herrschte Stille und Raito dachte, dass L womöglich gegangen war, doch irgendwann hörte er, wie eine Tür sich öffnete und kurz darauf wieder schloss. Schritte näherten sich, ein Klappern war zu hören und wenig später spürte er ein paar dürre Finger an seinen Schläfen, oder um genauer zu sein, an dem Metallgestell, welches ihm die Sicht verwehrte. Schließlich wurde ihm die Maske abgenommen. Die gereizte Haut an den Stellen wo das Metall sich in das Fleisch geschnitten hatte, brennten einmal mehr und Raito blinzelte. Seine Augen waren feucht und er hätte sie zu gern abgewischt um klarer sehen zu können. L stand neben ihm. Durch das Gestell, was Raito fesselte, konnten seine Füße den Boden nicht berühren, was hieß, dass er im Moment etwas höher war als L. Als hätte dieser seine Gedanken erraten, hob er die Hand und wischte mit den Fingern über Raitos Wange. Seine Augen sahen ausdruckslos aus. Beinahe mochte man es traurig nennen. „Es fühlt sich merkwürdig an, dich so zu sehen“, sagte er leise. Raito antwortete nicht. Er wagte es nicht einmal, L weiter anzusehen und so richtete er den Blick starr nach vorn. Viel schien es in dem Raum, in dem er sich befand nicht zu geben. Vor ihm ein riesiger, breiter Spiegel der bis zum Boden reichte – wohl ein Fenster. Links von ihm an der Wand stand ein Feldbett mit einer alten Decke darauf. Und rechts im Eck ein Holzschemel mit einer Suppenschale darauf, die L vorhin dort hin gestellt haben musste. L bückte sich und schloss mit einem kleinen, silbernen Schlüssel die Handschellen um Raitos Fußgelenke auf. Gleiches tat er anschließend mit denen an den Händen. Er ging um Raito herum, löste ein paar weitere Halterungen und plötzlich landete Raito unsanft auf dem Boden. Er rappelte sich schnell wieder auf, zumindest halb. Erschöpft lehnte er sich gegen das Metallgestell, welches ihn bis eben noch gehalten hatte und atmete tief aus. L ging zurück zu dem kleinen Holzschemel und deutete auf die Suppenschale. „Iss das“, sagte er monoton. Kein Befehl. Eher eine Bitte und das obwohl sie sehr trocken klang. Raito reagierte nicht darauf. Die Schrauben und Handschellen taten an seinem Rücken weh, doch er fühlte sich zu schwach, um sich aufzurichten. „Raito-kun“, hörte er L wieder sagen. „Bitte.“ Bitte... pah! Er sagte ‚Bitte’. Wäre Raito nicht in dieser Situation gewesen, so hätte er jetzt laut gelacht und den Tag im Kalender rot angestrichen. Wäre er nicht in dieser Situation gewesen, so hätte L aber erst gar nicht ‚Bitte’ gesagt und so kam es aufs Gleiche hinaus. Seufzend zog Raito sich an dem Gestell hinter ihm hoch. Er schwankte etwas und seine Knie zitterten. Er sah, wie L automatisch einen Schritt auf ihn zu machte. Entgegen Ls Erwartungen steuerte Raito jedoch nicht die Suppe an, sondern das Bett, oder eher die Pritsche. Er zog sich auf die nicht weniger harte Oberfläche und lehnte den Kopf an die Wand, richtete den glasigen Blick nach oben. Sein Blick fiel auf die Kameras an der Decke. „Sie sind aus“, erklärte L daraufhin. „Im Moment zumindest. Das heißt, wenn du etwas Bestimmtes zu sagen hast, solltest du das jetzt tun.“ Noch eine Weile verging in Schweigen. Raito hatte den Kopf gegen die harte Wand hinter sich gelehnt und die Arme hingen schlaff link und rechts an ihm herab. Seine Augen waren geschlossen. Zumindest größtenteils. Ab und an blinzelte er um zu sehen, ob L noch da war. Denn dieser gab schließlich genauso viel Laute von sich wie er selbst – nämlich gar keine. Er rührte sich auch nicht vom Fleck. Schweigend saß er da, auf dem Boden, die Beine angezogen und den Daumen an den Lippen. Er sah Raito nicht einmal pausenlos an. Sein Blick ruhte starr auf irgendeinem Punkt auf der Decke neben Raito. Worauf wartete er? Dieses Verhalten – auch wenn er rein gar nichts tat – reizte Raito ungemein. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. „Was hat Misa dir erzählt?“, fragte er, weiterhin an die Decke starrend. Er stritt es nicht einmal mehr ab. Aber er gestand auch nicht mit dieser Frage. „Von dem Notizbuch“, antwortete L, sichtbar erleichtert darüber, dass Raito nun doch endlich ein Gespräch anfangen zu wollen schien. „Wie es funktioniert, welche Möglichkeiten man damit hat. Die Todesgötter...“ Er stockte. Raito wartete ab. Doch erst als er nach einer Weile den Blick von der grauen Zimmerdecke abwandte und auf L hinunterblickte, sprach dieser weiter. „Ich hab das Death Note berührt. Dass es... so etwas wirklich gibt.“ Er schien sich keinerlei Mühe zu machen, die Verwirrung, die ihm allein bei diesem Thema ins Gesicht geschrieben stand, zu vertuschen. Und das bei diesem Pokerface. Raito lachte. Das war so typisch. So furchtbar typisch für L. L dachte zu logisch, war zu realistisch um an etwas wie Shinigami zu glauben. „So“, seufzte Raito und wandte den Blick wieder von L ab. „Hast du mich also.“ ...Keine Antwort. Kein triumphierendes „Ich wusste es die ganze Zeit.“ Nichts. „Glückwunsch, Ryuzaki.“ Wozu noch abstreiten? L hatte Beweise gegen ihn. Er hatte das Death Note. Raito hatte verloren. Kira war besiegt. „Heute fand eine Konferenz statt“, fuhr L nach einer Weile fort. „Du wirst wahrscheinlich die Todesstrafe erhalten.“ Mit was für einer Seelenruhe er das sagte. Raito hatte es natürlich geahnt. Was auch sonst hätte seine Strafe sein sollen? Es war ihm doch von Anfang an klar gewesen, welches Schicksal ihn ereilen würde, sollte er je gefasst werden. Nur, es jetzt so deutlich von L zu hören. So vor Augen geführt zu bekommen, dass es in absehbarer Zeit geschehen würde. Er hatte Angst. Er wollte nicht sterben. Raito spürte, wie sein Herz mit einem mal schneller schlug. Wie würde es sich anfühlen, zu sterben? Was war, wenn er tot war? Wohin würde er dann kommen? In den Himmel oder die Hölle schon mal nicht, das hatte Ryuk ja gesagt. Aber wohin dann? Würde er einfach verschwinden? Ewig schlafen und nicht mehr denken können? Sich auflösen? In Vergessenheit geraten? In Vergessenheit... Der Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest und stach wie ein Messer ins Herz. Man würde ihn vergessen. Ihn, Kira, den Messias. In ein paar Jahren würde kein Mensch mehr über ihn sprechen. Das würde aus ihm werden. Das würde aus diesem Gott werden... Wieso zum Teufel hasste er L nicht dafür? L hatte ihm das hier angetan. L hatte ihm Freundschaft vorgegaukelt und nun tat er ihm das hier an. Er brachte ihn indirekt um. „Ich bin dagegen“, hörte er Ls Stimme sagen, doch sie drang nicht bis zu seinen Gedanken vor. Seine Augen fixierten starr einen Punkt an der Decke und an den Augenlidern hingen kaum sichtbare Tränen. Er fühlte sie. Und wenn er jetzt blinzeln würde, dann würden sie ihm über die Wangen laufen. Seine innere Stimme schrie laut auf. Er würde weinen. Er würde vor L weinen. Aus Angst um sein Leben. „Aber auf mich wollen sie ja nicht hören.“ Er regte sich nicht, als L aufstand und zu der Pritsche hinüber ging, sich neben ihn setzte. Erst als er ihn ansprach, wandte Raito sich ihm zu. „Raito-kun.“ Raito gab einen überraschten Laut von sich, geradezu, als habe L ihn im Moment aufgeweckt oder ihn erschreckt. Und dann geschah alles furchtbar schnell. Raito wusste nicht einmal, wieso er es tat, als seine Arme nach vorn schossen, Ls Hals packten und zudrückten. Er sah, wie der Ermittler entsetzt die Augen aufriss, die Hände um Raitos von den Handschellen rote Gelenke legte und versuchte ihn von sich zu drücken. Doch Raito ließ nicht los. Er konnte nicht. Mit aller Kraft die er aufbringen konnte, drückte er L neben sich an die Wand. „Ich könnte dich umbringen, Ryuzaki“, flüsterte er und lächelte mit diesem irren Glanz in den Augen. „Ich könnte dich hier und jetzt auf der Stelle umbringen.“ Seine Stimme wurde lauter und er lachte, als er L keuchen hörte. Ja, er würde ihn umbringen. Wenn er selbst schon wegen L sterben sollte, dann würde L mit ihm sterben. Er würde ihn nicht allein zurück lassen. Er würde ihn nicht gewinnen lassen. Ganz bestimmt nicht. „Aber...“, drang es schwach über die rauen Lippen Ls. „Das... wirst du nicht.“ Die letzten Silben waren nur noch ein Hauchen gewesen. Raitos Augen weiteten sich und er sah L an. Ja. Er hatte Recht. Das würde er nicht. Das würde er nicht... Allmählich lockerte Raitos Griff sich und erst jetzt spürte er die heiße Spur Tränen, die über seine Wangen lief und schmeckte den salzigen Geschmack an seinen Mundwinkeln. Ls blasse Haut war gerötet. Seufzend ließ Raito den Kopf hängen. Wieso konnte er nicht? Wieso konnte er ihn nicht wenigstens umbringen. Er hatte mit dem Death Note so viele Menschen getötet. Warum ging es nicht ohne? Oder ging es nicht, weil es L war? Warum nicht? Warum? „Warum?“ Es war weniger gesprochen, als viel mehr ein kehliges Wimmern, denn zu mehr war er nicht mehr fähig. Seine Hände hatten sich in Ls Oberarme verkrallt, doch sein Blick war noch immer gesenkt. L rührte sich nicht. Er wich nicht einmal vor ihm zurück und das obwohl er ihm gerade an die Kehle gesprungen war. Raito fühlte sich mehr als gedemütigt, als er da saß, sich an L krallte, wie an ein rettendes Floß und das obwohl er doch mehr ein sinkendes Schiff war, als er spürte, wie seine Arme mehr und mehr zu zittern begannen, seine Nägel sich schon schmerzhaft in Ls Arme gruben und er laut zu schluchzen begann. Er wollte nicht sterben. Er wehrte sich nicht, als L die Hand nach ihm ausstreckte und an sein Kinn legte, ihn so dazu brachte, aufzublicken. Ls Augen zeigten keinerlei Gefühl. Das taten sie schließlich fast nie. Sie waren schwarz. Und ein bodenloses Loch. Raito war in dieses Loch gefallen und das schon lange, bevor er es selbst bemerkt hatte. Er fiel und fiel und nun schien es doch einen Boden zu geben. Denn er war gerade aufgeschlagen. Ohne ein weiteres Wort beugte er sich weiter zu L herüber, schloss die Augen und küsste ihn. Wieder wehrte L sich nicht. Er rührte sich nicht einmal im Geringsten. Erst als Raito es wagte, mit der Zunge leicht über die rauen Lippen zu fahren, öffnete er den Mund ein Stück, ließ auch dies ohne Gegenwehr mit sich machen und schließlich, ein bisschen später, legte er die Arme auf Raitos Schulterblätter. Zuerst nur ganz schwach. Eher als habe er sie darauf abgelegt, wie auf einem Schreibtisch. Doch dann hielt er ihn fester, drückte ihn näher an sich und seufzte leise. Raito konnte nicht sagen, ob es ein genießendes oder ein trauriges Seufzen war. Es hatte ein bisschen von beidem. In jedem Fall rührte es ihn. Es war ein Ausdruck von Gefühl. Welches Gefühl auch immer es war. Von L... war es eine Seltenheit. Etwas Besonderes. Etwas, was viel zu schnell vorbei war. Als er das Rascheln von Papier hörte, unterbrach Raito den Kuss. Sein Blick auf den braunen Umschlag, den L ihm gegen die Brust drückte, war mehr als skeptisch. „Steck das ein“, sagte L jedoch nur knapp und stand auf. „Und das hier.“ Er kramte in seiner Hosentasche und reichte Raito dann ein Feuerzeug. „Was zum-“ „Versteck es!“, wiederholte L etwas strenger, fast zischend und ging zur Tür. „Ich mache die Kameras jetzt wieder an“, erklärte er, ohne den Blick von der Tür noch einmal abzuwenden. Er deutete mit einer fahrigen Handbewegung auf die Suppe. „Iss – du wirst Kraft brauchen.“ ~ Er wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren. Regungslos saß Raito noch immer auf dem harten Feldbett und wagte es nicht, sich zu rühren. Das Papier des Umschlags unter dem schwarzen Shirt kratzte über seine Haut, wann immer er auch nur versuchte einen Arm zu heben. Was, wenn es heraus fiel? Was war eigentlich in dem Umschlag? Was dachte L sich? Was hatte er vor? So viele Fragen gingen ihm durch den Kopf, doch er wusste nicht, was er tun sollte. Was erwartete L von ihm? Seine Hand legte sich vorsichtig auf die Hosentasche. Sollte er das kleine Feuerzeug benutzen? War das Ls Plan? Aber wieso? Es war unlogisch. Erst war er es, der ihn hier einsperren ließ und nun sollte er ihm zur Flucht verhelfen? L war schon immer merkwürdig gewesen. In den letzten Wochen erstrecht. Aber das hier... Zögernd griff er in die Hosentasche und holte das Feuerzeug heraus. Zu spät. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Kameras hatten es gesehen. Wenn er jetzt nicht handelte, dann würde man ihm das Feuerzeug spätestens heute Mittag abnehmen. Im Moment musste L alleine sein. Denn sonst wäre längst jemand hier. Es war also seine einzige Chance. Er hob die alte Decke, die auf der Pritsche lag hoch und hielt das Feuerzeug an den Stoff. L beobachtete Raitos Handeln stumm. Seine Augen blickten trübe durch das Fenster, sahen ausdruckslos zu, wie über dem alten Wollstoff neben Raito allmählich schwarzer Rauch aufstieg und er wartete. Der Rauch wurde dichter, es roch verbrannt und endlich fing die Decke Feuer. Raito stand auf, blieb vor dem Feldbett stehen und beobachtete, wie die Flammen wuchsen. Was, wenn das Feuer sich nicht ausbreitete? Würde sein Plan dann aufgehen? Er biss sich nervös auf die Unterlippe. Es dauerte so lange. Viel zu lange. Seine Nägel gruben sich in die Handinnenflächen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis plötzlich auch das Holzgestell des Bettes Feuer fing. Es funktionierte! Langsam ging Raito noch einen Schritt zurück. Und noch einen. Der Rauch wurde dichter. Mit einer kurzen Handbewegung stellte L von seiner Seite des Raumes den Feuermelder aus. Die Suppenschale zersprang mit einem Klirren und der mittlerweile kalt gewordene Inhalt verteilte sich am Boden, als Raito beim rückwärts gehen den Schemel umstieß. Sein Herz schlug schneller. Die Luft wurde dicker, und es stank nach verbrannter Textur. Was, wenn niemand kam? Was, wenn er selbst gerade sein Todesurteil unterschrieben hatte? Was, wenn L ihn hereingelegt hatte? Wieso verdammt noch mal vertraute er ihm überhaupt? L war es, der ihn hinter Gitter gebracht hatte! „Ryuzaki...“ Er presste den Rücken gegen die erwärmte Stahltür hinter sich. Das Feuer vor ihm hatte den Stuhl erreicht, an den er zuvor gefesselt gewesen war und schließlich stand auch der hölzerne Schemel in Flammen. Rauch füllte den gesamten Raum. Raito begann zu husten. Seine Augen tränten und er hielt sich die Hand vor den Mund. „Ryuzaki!“ Mit zitternden Händen verfolgte L das Geschehen durch das Fenster. Er biss sich auf die Unterlippe. Noch nicht. Seine Finger lagen unruhig auf seinen Knien. Noch ein bisschen. Hustend sank Raito mit dem Rücken zur Tür in die Knie. Sein Atem überschlug sich. Würde er jetzt hier sterben? Vielleicht war das allein Ls Plan gewesen. Ihm das Feuerzeug zu geben, damit er selbst, wenn er wollte, seinen Todeszeitpunkt wählen konnte. Hätte er ihn stattdessen nicht mit eigenen Händen umbringen können? Jeder Tod war besser als verbrennen. „Ryuzaki...“, keuchte er und blickte nervös von einer Kamera zur nächsten. Auch sie hatte das Feuer jedoch nicht verschont. Sie konnten unmöglich noch funktionieren. Der Stuhl mit den Handschellen zerfiel mit einem Poltern und die Eisenteile fielen scheppernd zu Boden. Er spürte, wie die Hitze drohte seinen Körper zu übermannen. Ihm wurde schwindelig. Plötzlich hörte er hinter sich ein Klappern. Er drehte sich um, zwang sich wieder auf die Beine und genau in diesem Moment wurde die Tür geöffnet. „Ryuzaki“, schnaufte Raito erleichtert. Er hatte ihn nicht hereingelegt. Doch Raito hatte nicht viel Zeit darüber nachzudenken, denn kaum stand er im Türrahmen zog L ihn auch schon zu sich und schubste ihn geradezu an sich vorbei aus der Tür. „Hau ab!“, hatte Raito ihn während dieser Blitzaktion murmeln hören. Und das tat er. Er rannte los, rannte ohne zurückzublicken, wusste nicht einmal wohin, doch das Haus war klein und er hatte den Ausgang schnell gefunden. Draußen ging gerade die Sonne auf, wurde zum einzigen Zeugen seiner Flucht. L lag bewusstlos vor der Tür der brennenden Zelle. ~ Der Eisbeutel half nicht viel. Die Kopfschmerzen wollten nicht vergehen. Er hätte vielleicht nicht zu sehr – wortwörtlich – mit dem Kopf gegen die Wand rennen sollen. Erschöpft lehnte L den Kopf zurück gegen die weiche Sofalehne. Sein Blick fiel auf die Uhr. Wenige Stunden waren seit Raitos Flucht vergangen. Hoffentlich war er bereits in Sicherheit. Die Polizei suchte längst nach ihm. Die Feuerwehr war nicht viel später, nachdem Raito verschwunden war, eingetroffen. L betete, dass er das Richtige getan hatte. Er musste das Richtige getan haben. Raito und Todesstrafe. Das ging nicht. Das war unmöglich. Er konnte ihn nicht tot sehen. Er seufzte. „Bitte geben Sie sich nicht die Schuld dafür, Ryuzaki“, unterbrach Matsudas heisere Stimme seine Gedanken und er schreckte auf. Tatsächlich war der sonst so wachsame L einen Moment lang in seinen Gedanken versunken gewesen. Erst dann verstand er, dass die anderen Anwesenden – das SoKo Team und Watari – sein Seufzen anders interpretiert hatten. „Wenn jemanden die Schuld trifft, dann mich“, kam es daraufhin schnaufend von Aizawa. Dieser sah mehr als verstört aus, hatte den Oberkörper nach vorn gebeugt und das Gesicht in den Händen vergraben. „Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte.“ Natürlich verstand jeder andere im Raum das sehr gut. Dass Aizawa seine Feuerzeuge ständig verlegte war ein offenes Geheimnis, aber in einer Situation wie dieser würde ihm das natürlich niemand an den Kopf werfen. L schon gar nicht. Schließlich wusste L, dass es diesmal nicht Aizawas Schusseligkeit gewesen war, die Raito zur Flucht verholfen hatte. Er selbst war es gewesen, der dem Polizisten das Feuerzeug heimlich entwendet und Raito zugesteckt hatte. Mit einem lauten Knall wurde in diesem Moment ruckartig die Tür aufgerissen und Soichiro Yagami stürzte herein. Er war direkt aus dem Krankenhaus hier her gekommen, nachdem er die Neuigkeiten erfahren hatte. Keuchend und schnaufend und sichtlich angeschlagen stand er im Türrahmen. Unter seinem Arm schlüpfte eine ganz und gar nicht angeschlagene Misa hervor. „Ich wusste es!“, schrie sie ohne Rücksicht. „Raito lässt sich nicht einfach einsperren.“ Sie strahlte übers ganze Gesicht – und erntete dafür natürlich gemischte Blicke. Verlegen räusperte sie sich und ließ sich dann aufs Sofa plumpsen. Doch das glückliche Lächeln auf ihren Lippen blieb. „Er ist also weg?“, meldete Soichiro sich schließlich zu Wort. L nickte matt. Der Chef der Sonderkommission seufzte und ließ den Kopf sinken. Doch dann stahl sich auch auf seine Lippen ein Lächeln. „Ich... hoffe Sie verstehen, dass...“, entschuldigte er sich sofort, doch L fiel ihm ins Wort. „Natürlich“, erwiderte er. „Wir alle tun das. Im Endeffekt sind wir doch selbst froh, dass Raito-kun entkommen ist. Wir wollten Kira fassen – nicht einen Freund.“ „Und dennoch. Ich möchte wissen, wie er das angestellt hat“, warf Mogi ein. „Nur mit einem Feuerzeug? Wieso hat niemand durch das Fenster gesehen, dass Aizawa-san es verloren hat? Oder auf den Kameras?“ L schüttelte den Kopf. „Ich muss eingenickt sein. Als ich aufgewacht bin, hatte das Feuer sich längst ausgebreitet. Es tut mir leid.“ Eine Entschuldigung von L. Eine Seltenheit. Und mit einem Blick, der ehrlicher gespielt nicht hätte sein können. Gleich zwei Gründe, ihm zu glauben. Niemand stellte die Aussage des berühmten Detektivs L in Frage. „Bitte entschuldigen Sie sich nicht, Ryuzaki.“ Diesmal war es Mogi, der versuchte, ihn aufzumuntern. „Sie haben von uns allen in den letzten Tagen am meisten geleistet. Sie haben ja keine Sekunde mehr geschlafen.“ „Könnte ich die Kameraaufzeichnungen sehen?“, fragte Soichiro mit besorgtem Ton in der Stimme. Er war froh, dass Raito weg war. Hier erwartete ihn nichts als der Tot. Er wünschte sich momentan nur, Raito irgendwo sicher zu wissen. Die Polizei war ihm auf den Fersen. In den Medien war vorerst nichts bekannt gegeben worden. Immerhin war sogar die Tatsache, dass Kira gefasst worden war, geheim gehalten worden, um kein Aufsehen zu erregen. Kira sollte still, leise und heimlich exekutiert werden. Und allmählich in Vergessenheit geraten. Würde man jetzt steckbrieflich nach ihm suchen, müsste man zuerst öffentlich machen, dass Kira überhaupt schon gefasst worden war und dass er entkommen war, würde die Allgemeinheit nicht unbedingt ruhig bleiben lassen. „Das wird nicht gehen“, erklärte Watari. „Die Bänder sind nicht mehr abspielbar. Das Feuer hat sie komplett ruiniert.“ „Ich sagte doch, bauen wir modernere Geräte ein!“, zischte Aizawa. „Wir hätten die Aufnahmen hier im Nebenraum absichern können.“ „Huh?!“, schrie Misa plötzlich schrill auf und sprang zeitgleich von ihrem Platz zwischen Matsuda und Mogi auf. Doch dann schlug sie sich die Hand vor den Mund und setzte sich rasch wieder hin. „Was ist denn, Misa-chan?“, fragte Mogi und sprach damit die Frage aller Anwesenden aus. „Die Bänder!“, schrie Matsuda daraufhin und klang, als wäre ihm gerade etwas furchtbar Wichtiges wieder eingefallen. „Ryuzaki, wir haben doch noch die Bänder von den neueren Kam-“ Misa hatte ihn regelrecht angesprungen und hielt ihm mit der Hand den Mund zu. Ihr breites Lächeln von vorhin hatte sich zu einem schmalen, verlegenen Grinsen verzogen. „Diese Bänder... um ehrlich zu sein... war das nicht Ryuzaki-sans Auftrag.“ „Bitte was?“, rief Matsuda aus, nachdem er es geschafft hatte, ihre Hand wegzudrücken. „Dürfte ich bitte erfahren, wovon die Rede ist?“, mische L sich nun ein. Was für Bänder? Gab es etwa Aufzeichnungen von denen er nichts wusste? Er wurde nervös. Das könnte ihn auffliegen lassen. „Tut mir leid“, seufzte Misa und ließ den Kopf sinken. „Ich war skeptisch, Ryuzaki-san.“ Ihre Hände lagen unruhig auf ihren Knien. „Also habe ich Matsuda-san gebeten zusätzlich noch Kameras anzubringen. Ich habe gesagt, Ryuzaki-san hätte es angeordnet. Im oberen Stockwerk des Hauses steht ein Computer. Die Aufzeichnungen müssten darauf gespeichert sein.“ L fuhr innerlich zusammen. Er spürte Wataris Blick in seinem Nacken und eine Gänsehaut breitete sich auf der blassen Haut aus. Diese verdammte Amane... „Das ist...“, begann er. „Das ist doch wunderbar! Dann würde ich sagen-“ Er brach abrupt ab, beugte sich vorn über und hielt sich den Magen. „Ryuzaki, ist alles in Ordnung?“, fragte Soichiro besorgt. L nickte. „Es... geht schon. Raito-kun hat mich bei seiner Flucht in den Magen geschlagen.“ Gelogen. Ohne rot zu werden. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“ Und mit diesen Worten stand er auf, ließ sich von Watari stützen. „Matsuda-san, holen Sie diese Bänder!“ „Ja- jawohl.“ Die Tür zum Toilettenraum hatte sich gerade hinter Watari geschlossen, als L sein Handy aus der Tasche holte. „Ich gebe Ihnen das. Vernichten Sie es bitte umgehend. Zu viele Beweise“, erklärte er ziemlich schnell und ziemlich trocken und reichte dem älteren Mann das Handy. Watari nickte wissend. L blickte sich um. Sein Blick fiel auf das gekippte Fenster über der Toilette. Kurzerhand stieg er auf diese, öffnete mit einem Ruck das Fenster ganz und drehte sich noch einmal um. „Watari“, sagte er und lächelte. „Ich danke Ihnen.“ Watari erwiderte das Lächeln und nickte. „Passen Sie auf sich auf, Ryuzaki!“ Und damit verschwand die dürre Gestalt Ls durch das Fenster. Es dauerte keine zwei Sekunden, da klingelte Ls Handy los. Watari zögerte, blickte auf den Namen, der auf dem kleinen Display aufleuchtete. „Yagami-kun...“ Schließlich entschloss er sich, den Anruf doch anzunehmen. „Ryuzaki!“, rief eine Stimme sofort etwas zu laut in den Apparat. Im Hintergrund war ein Heidenlärm zu hören, sodass Watari ihn kaum verstand. „Watari hier“, antwortete er. „Watari-san? Wo ist Ryuzaki? Ist alles okay?“ Er wusste nicht, wieso er angerufen hatte. Es war riskant. Aber L war ein Genie. Ihn würde man nie erwischen. Und bisher hatte er keine Zeit gehabt, sich zu bedanken. „Er ist...“, begann Watari zögernd. Er hörte Stimmen vom Flur. „Er ist gerade gegangen.“ „Gegangen? Watari, was meinen sie mit-“ Ein klackendes Geräusch war zu hören. „Watari!“, schrie Raito am anderen Ende der Leitung. „Watari, sagen Sie etwas! Was ist los bei Ihnen? Wo ist Ryuzaki?“ Nichts. Nichts bis auf das leise Tuten, als Zeichen dafür, dass aufgelegt worden war. In der alten Feuerwehrübungszentrale hatten die Mitglieder der SoKo, allen voran Soichiro Yagami soeben die Toilettenräume betreten. Misa stand mit den Videotapes in beiden Händen und einem mehr als entsetzten Blick davor. „Ryuzaki-san...“, wimmerte sie. Er hatte ihm geholfen. Und sie hatte ihn verraten. „Verdammt!“, zischte Raito und legte auf. Eine Durchsage rief gerade zum wiederholten Male zu seiner Flugnummer auf. Raito hatte die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen und den Blick gesenkt. Er lief von der Telefonzelle zurück zu den Sitzbänken in der Flughalle und nahm Platz. Er wusste nicht, wie er es bis hier her geschafft hatte. Das Einzige, was er im Moment wusste, war, dass L etwas zugestoßen sein musste. Und nun wahrscheinlich auch Watari. Und dass er schnellstens das Land verlassen musste. Er warf erneut einen Blick auf die Unterlagen in seiner Hand, die er zuvor aus dem brauen Umschlag gezogen hatte. Gefälschte Papier, eine perfekt gefälschter Ausweis, ausreichend Bargeld und alles was er sonst noch brauchte. Sogar einen neuen Namen hatte L sich für ihn einfallen lassen. Er musste schmunzeln. Als er den Ausweis noch einmal aus dem Umschlag nahm um ihn sich anzusehen und auf minimale Fehler zu untersuchen, die er natürlich nicht fand, fiel ihm ein kleines Zettelchen entgegen, welches er zuvor nicht bemerkt hatte. Das Blatt war leer – dachte er zumindest zuerst. Doch dann drehte er es um und fand darauf eine Nummer. Nichts weiter, nur eine ziemlich lange Nummer. „Eine Handynummer!“, schoss es ihm durch den Kopf. Hastig steckte er die restlichen Papiere zurück in den Umschlag, ließ diesen in seinen Pullitaschen verschwinden und rannte erneut zur Telefonzelle. Zur gleichen Zeit saß L am Steuer der riesigen Limousine, die sonst nur von Watari gelenkt wurde, und konzentrierte sich sehr darauf, das Lenkrad gerade zu halten. Was sich als nicht gerade einfach herausstelle, wenn man bedache, dass er nicht nur nach wie vor zitterte vor Aufregung, sondern auch gar keinen Führerschein hatte. Alles was er über das Autofahren wusste, war, was er sich von Watari abgeschaut hatte. Er fuhr auf einer abgelegenen Straße, in deren Nähe sich weit und breit kein Haus befand. Dieser Weg mochte umständlicher sein, war aber doch in seiner Situation am sichersten um zum Flughafen zu gelangen. Ein silbernes Handy lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Es war neu. Niemand kannte die Nummer, das hieß, niemand außer Raito. Und als hätte er nur darauf gewartet, klingelte das besagte Handy wenige Augenblickte später auch schon. L lächelte erleichtert. Das hieß, dass es Raito gut ging. Das heißt – wenn sie ihn nicht geschnappt und ihm die Nummer entwendet hatten. L hielt das Lenkrad mit der einen Hand und griff mit der anderen nach dem Handy. „Raito-kun?“, fragte er zögernd. „Ryuzaki!“ Noch nie in seinem ganzen Leben war Raito so erleichtert gewesen, eine bestimmte Stimme zu hören. Sein Herz schlug schneller. „Wo steckst du, verdammt, ich mach mir Sorgen.“ L lächelte. Er machte sich Sorgen. Um ihn. Das war ein schönes Gefühl. Das hörte er selten, bis gar nicht. Denn der einzige Mensch, der sich für gewöhnlich um ihn sorgte, war Watari und der posaunte es normalerweise nicht so heraus. „Bist du am Flughafen?“, fragte L zurück, ohne auf Raitos Frage zu antworten. „Ja, der Flug geht in einer halben Stunde“, erwiderte Raito und warf dabei einen prüfenden Blick auf die riesige Uhr. „Gut, ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Wenn ich mich beeile, dürfte ich es schaffen.“ „Wie kommst du her? Ist Watari bei dir?“ „Nein, ich fahre selbst.“ „Wie, du fährst selbst?“, schrie Raito etwas zu laut in den Hörer. „Du kannst doch gar nicht Auto fahren!“ „Natürlich kann ich das“, widersprach Ryuzaki ihm und trat währenddessen noch einmal mehr aufs Gas. Er hatte nicht mehr viel Zeit. „Es ist gar nicht so schwer, weißt du-“ Und in diesem Moment verstummte er. Der Wagen fuhr ein Stück zu weit auf die gegenüberliegende Fahrbahn. L zog das Steuer in die andere Richtung. Zu weit. Zurück. Es ging nicht mehr zurück. Wieso ging es nicht zurück? Er spürte, wie der ebene Untergrund unter dem Fahrzeug durch holprigen Boden ersetzt wurde. Er riss das Lenkrad herum, doch es führte nur dazu, dass das Auto noch mehr ins Schleudern geriet. Und plötzlich tat es einen Schlag. Stille. „Ryuzaki?“ ... „Ryuzaki!!!“ Raitos Herz schmerzte. Es schlug tatsächlich so schnell, dass es einen drückenden Schmerz verursachte. Er hatte den Knall gehört, bevor die Leitung unterbrochen worden war. Es war definitiv etwas passiert. Ruhe bewahren. Er musste Ruhe bewahren. Sein Flug, seine wohl einzige Möglichkeit, der Todesstrafe noch zu entkommen, ging in weniger als einer halben Stunde. Aber der Mensch, der ihm das Leben gerettet hatte, schwebte nun womöglich selbst in Lebensgefahr. Es war eine Entscheidung von weniger als einer Sekunde. Nur wie sollte er ihn finden? L hatte gesagt, er war auf dem Weg zum Flughafen. Es gab nur zwei direkte Straßen hier her und eine davon war zu belebt, als das L sich ohne Führerschein dort hingetraut hätte. Er hatte nur diese eine Chance. Es blieb ihm also gar nichts anderes übrig. ~ Das nächste, was L wahrnahm, waren Schmerzen. Schmerzen im Bein, im Kopf und der bleierne Geschmack von Blut. Er wusste zuerst nicht, ob seine Augen geöffnet waren, denn es dauerte einen Augenblick, bis er ein Bild vor sich erkannte. In seinem Blickfeld befand sich der Beifahrersitz – dem Winkel zu Folge lag er selbst mit dem Kopf auf dem Lenkrad. Mühsam versuchte er den Kopf zu heben, stieß dabei ein leises Wimmern und zischend die Luft aus. Er blickte starr auf das Kreismuster der zersprungenen Autoscheibe vor sich. Den dicken Baumstamm dahinter, der die Motorhaube komplett eingerammt hatte, sah er nur verschwommen. Als er sich endlich seiner Situation bewusst wurde, entkam ihm erneut ein schluchzender Laut. Über seine Wangen liefen Tränen. Offensichtlich schon länger, als er es bemerkt hatte, denn seine Haut fühlte sich trocken an und spannte. Die zitternde Lippe war aufgesprungen und auch irgendwo anders schien er zu bluten. Er konnte nicht sagen woher das ganze Blut kam. Nicht nur seine Lippen bebten, nein sein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub. Eine ungeheuere Panik stieg in ihm auf. Er hatte versagt. Das große Genie L hatte versagt, weil er einer so simplen Sache wie Autofahren nicht mächtig war. Das leise Schluchzen wurde lauter. „Hilfe“, keuchte er und es war mehr ein Flüstern, denn zu mehr war er nicht mehr in der Lage. „Irgendwer...“ ~ „Ryuzaki!“ L schreckte auf. Als er aus dem Fenster neben sich blickte, oder besser gesagt aus dem Fensterrahmen, denn von der Scheibe war nicht mehr viel übrig, sah er Raito davor stehen. Mit einem Blick, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Augen glänzten feucht und seine Lippen zitterten wie Ls eigene. „Raito-kun“, murmelte L verwirrt. „Du bist hier?“ Wieso zum Teufel war er hier? Er sollte im Flugzeug sitzen! L wusste nicht, wie lange er in dem Auto gesessen hatte, aber es kam ihm länger vor als eine halbe Stunde. War er tot und bildete sich das hier nur ein? Oder war Raito wirklich seinetwegen zurückgekommen? Raito streckte die Hand durch das zersplitterte Fenster und tastete an der Innenseite der Tür entlang, bis er es schließlich schaffte, sie zu öffnen. Sie ging auf. Seine größte Befürchtung war gewesen, dass sie zu eingedrückt war, um sich noch öffnen zu lassen. „Tut dir was weh?“, hörte L ihn fragen. Er schüttelte den Kopf. Er wusste nicht wieso, denn wenn man es so betrachtete, tat sein ganzer Körper weh. Er blickte an sich herunter. „Nur mein Bein“, gab er dann wenigstens etwas zu. Raito war neben dem Wagen in die Hocke gegangen, hielt die verbeulte Wagentür offen und dachte hektisch nach. Schließlich beugte er sich mit dem Oberkörper in den Wagen, griff nach Ls Arm und legte ihn um seine Schulter. „Halt dich fest“, sagte er und dann zog er ihn heraus. L schrie auf, als der Schmerz in seinem Bein größer wurde. Seine Arme krallten sich um Raitos Oberkörper und seine Augen waren zusammengekniffen. Das nächste was er mitbekam, war, wie Raito ihn einige Meter weiter im Gras ablegte und plötzlich hörte er Sirenen. Raito sah ihn besorgt an, blickte sich panisch um, wollte etwas tun, doch er wusste nicht was. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt. „Dein Bein“, meinte er dann und wollte es sich gerade näher anschauen, als L ihn unterbracht. „Es ist gut, Raito-kun“, murmelte er und seine Stimme klang nach wie vor gebrochen und stockend. „Mir fehlt nichts weiter. Von einem gebrochenem Bein sterbe ich nicht.“ „Aber trotz-“ „Raito-kun! Gleich ist ein Krankenwagen hier und dann die Polizei. Du musst sofort verschwinden.“ Raito schluckte. L hatte Recht. Wenn die Polizei hier auftauchte, dann hatten sie ihn. Dann war seine ganze Flucht umsonst gewesen. Dann hätte L den ganzen Ärger umsonst auf sich genommen. Er musste verschwinden. „Du kommst nach, ja?“, fragte er unsicher. Er wusste nicht, wieso er es fragte, aber plötzlich schien ihm der Gedanke, dass L hier zurück blieb einfach unerträglich. Wollte L überhaupt nachkommen? Er nickte schwach und lächelte. „Wir sehen uns wieder, Kira“, antwortete er schließlich und betonte die letzten Silben dabei triumphierend. Raito lächelte, beugte sich über ihn und wollte ihn küssen, doch Ls Hand schob sich dazwischen. „Nichts da“, murmelte er. „Kein Abschiedskuss.“ Zuerst sah Raito ihn etwas perplex an, doch dann nickte er und stand auf. „Bis bald“, sagte er und warf einen Blick auf die sich nähernden Blaulichter in der Ferne. Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und rannte los. „Bis bald“, flüsterte L und starrte ausdruckslos in den Himmel. Es war Nachmittag. Doch der Himmel war von grauen Gewitterwolken verhangen. Bis bald. Das war kein ‚Lebe wohl’. Kein ‚Sayonara’. ~ Raito blickte nachdenklich aus dem Fenster des Flugzeugs. „Wir begrüßen Sie recht herzlich auf unserem heutigen Flug nach London“, ertönte die Durchsage. London... dorthin schickte L ihn. Weit genug weg von Japan. Weit genug weg von allem, was ihn an Kira erinnerte. Und an L. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Scheiben, und irgendwann hob das Flugzeug ab. Er hatte es geschafft. Er war frei. Und das alles nur wegen L. Wegen L, der ihn von Anfang an durchschaut hatte. Wegen L, der ihn gefasst hatte und wegen L, der ihn hatte gehen lassen. Er lächelte matt, doch die Sorge in seinen Augen blieb. Ein Seufzen entwich seinen Lippen, eh er den Kopf nach hinten lehnte und die Augen schloss. England. Wenn er aufwachte, würde er schon dort sein. ~ „Ich wurde festgenommen und landete im Gefängnis, weil ich Kira zur Flucht verholfen hatte. Zwar wurde meine Strafe auf Grund meiner Position und meiner Freundschaft zu Yagami Raito gemildert, doch die Zeit hinter Gittern war mir dennoch zuwider. Ich war dort nur eineinhalb Jahre. Dann gelang es mir dank Watari, zu entkommen. Heute bin ich wieder da, wo alles angefangen hat. In England. Ich habe Raito-kun seitdem nie wieder gesehen, aber ich bin mir sicher, dass er irgendwo da draußen ist. Mit nicht zu geringer Wahrscheinlichkeit sogar hier im gleichen Land wie ich. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die Kira-Morde nach diesem Ereignis aufgehört hatten. Meines Wissens nach wurden sowohl das Death Note von Misa Amane, als auch Raito-kuns verbrannt. Ich bete dafür, dass nie wieder eines dieser verfluchten Bücher den Boden unserer Welt berühren wird. So endete die Geschichte. Die Geschichte von Yagami Raito, Kira,... dem Messias.“ ~*~ = T h e E n d = ~*~ Nachwort: Endlich fertig. Hat lange genug gedauert. Ich möchte nochmals Ryusei danken, die mit mir zahlreiche schlaflose Nächte verbracht hat um über Joker und dessen Handlungsaufbau zu grübeln und zu diskutieren. PS: Wenn euch Joker gefallen hat, lest doch bitte auch meine anderen DN-FFs! ^^ Ach ja und weil ich gefragt wurde: Nein, zu Joker wird es keine Fortsetzung geben. (Fortsetzungen werden fast nie gut.) Als Autor freut man sich über Lob und konstruktive Kritik gleichermaßen. Feedbacks sorgen für den nötigen Ansporn weiterhin zu schreiben. Wenn ihr also eine FF mögt, dann teilt das bitte auch mit! Danke! EDIT: Woah YUAL! °O° *abgeh* Damit hätt ich ehrlich gesagt gar nicht gerechnet, wo der DN-Boom doch eigentlich vorbei ist. Aber ich freu mich total drüber, also vielen vielen Dank! ^O^ *sparkle* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)