Photophobia von Chi_desu (a fear of light (die Angst vor dem Licht)) ================================================================================ Kapitel 6: Thanatopsis ---------------------- thanatopsis - The contemplation of death (Das Nachsinnen über den Tod) Als Light morgens aufwachte, lag Ryuuzaki immer noch so da, den Daumen zwischen den Lippen wie ein kleines Kind. Nachdem Light seine fünf Minuten, die er zum Aufwachen und Anwerfen seines Verstandes benötigte, aufgebraucht hatte, kniff er die Augen zusammen und starrte Ryuuzaki an. Er lag völlig reglos da, als würde er nicht schlafen sondern… Den Gedanken wollte Light gar nicht zu Ende denken. Aber er konnte nichts daran ändern, wie er Ryuuzaki so daliegen sah, musste er unwillkürlich daran denken, wie es wäre, wenn neben ihm nicht ein Schlafender sondern ein Toter läge. Wenn Kira seinen Namen heute Nacht herausgefunden und ihn im Schlaf ermordet hätte. Die Vorstellung jagte ihm eine Heidenangst ein, obwohl er selbst nicht wusste, wieso. Bisher hatte er jeden Gedanken an Kira beiseite geschoben. Natürlich beschäftigte er sich fast Tag und Nacht mit Kira. Aber bisher hatte er den Gedanken nie zugelassen, dass nicht nur Ryuuzaki und er hinter Kira her waren, sondern umgekehrt genauso. Da draußen lauerte irgendwo ein Massenmörder, der jede Schwäche, jeden Fehler nutzen würde, um L und den Rest des Teams auszuschalten. Bisher hatte Light noch nie so weit gedacht. Aber was, wenn Ryuuzaki nicht als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen würde? Wenn er sich eines Tages an die Brust fassen und einfach umfallen würde? Könnte ich damit leben? Wenn ich Kira wäre, wäre er mein Todfeind. Dann wäre ich es, der versucht, ihn umzubringen. Wenn ich Kira wäre… wenn ich Kira wäre… läge es in meiner Macht, ihn zu retten… Wenn… Es war ein eigentümlicher Schmerz, den ihm dieser Gedanke bereitete. Er beschloss, damit aufzuhören. Es machte keinen Sinn, über diese Dinge nachzudenken. Er war nicht Kira. Er stand auf Ryuuzakis Seite und würde mit ihm gemeinsam diesen Serienmörder fassen. Und dann… dann… Ryuuzaki runzelte die Stirn, ein Zeichen, dass er aufwachte. Sofort verflogen Lights düstere Gedanken und er beobachtete, wie der stoische, schrullige L erwachte. Zuerst kuschelte er sich noch tiefer in die Decke, als wollte er darunter verschwinden. Dann öffnete er ganz langsam die Augen. Die ersten Sekunden, in denen er sich schlaftrunken umsah, wirkte er wie ein völlig anderer Mensch. Unbefangen, neugierig und müde. Dann blinzelte er und seine großen Augen fixierten Light. Der konnte nun nicht mehr widerstehen, er packte Ryuuzakis Arm und zog ihm mit einem Ruck den Daumen aus dem Mund. "Das ist ungesund und macht schiefe Zähne", erklärte er. Darauf bekam er keine Antwort, nur das erbarmungslose Starren tiefschwarzer Augen. Es war hoffnungslos, Ryuuzaki zu einer menschlichen Reaktion bewegen zu wollen. Deshalb seufzte er und warf einen Blick auf die Uhr. "Schon kurz nach sechs. Wir sollten langsam aufstehen." Ryuuzaki folgte seinem Blick. "Die Uhr trägst du ständig. War sie ein Geschenk?" "Mein Vater hat sie mir geschenkt. Sie ist mir sehr wichtig." "Ah ja." Ryuuzaki setzte sich auf. Der Vorteil an so einer zerzausten Frisur war es, dass man beim Aufstehen noch genauso aussah wie beim Einschlafen. Grinsend schaute Light zu, wie der andere aufstand und sich entspannt am Oberschenkel kratzte. Egal wie schön es im Bett war, so langsam musste er auch aufstehen. Er schlug die Bettdecke zur Seite und Ryuuzaki umrundete das Bett, weil die Länge der Kette sonst nicht ausgereicht hätte. Schwungvoll stand Light auf… Auf einmal raste gleißender Schmerz durch seinen Fuß. Er schrie auf, als sein Fuß nachgab und stürzte vornüber. Im Fallen sah er Ryuuzakis weit aufgerissene Augen. Dann prallte er gegen den anderen, der breitete die Arme aus, so als wollte er ihn auffangen, allerdings viel zu spät, und wurde durch die Wucht mit von den Füßen gerissen. Am Ende lag Ryuuzaki rücklings auf dem Boden und Light mit schmerzverzerrtem Gesicht über ihn. Er war zu beschäftigt mit seinem brennenden Knöchel, deshalb merkte er nicht, was für ein Gesicht der junge Mann unter ihm zog. "Scheiße!", fluchte er. "Yagami-kun, hast du Probleme mit der Motorik?" "Das war mein Fuß, okay?", fauchte er und machte in seiner Wut eine unbedachte Bemerkung, die gleich wieder brennenden Schmerz durch seinen Fuß jagte. Er ächzte und ließ die Stirn auf Ryuuzakis Brustkorb sinken. "Auaa….", jammerte er, und das war so ganz entgegen seiner Art. "Wenn du wohl von mir runtergehen würdest?" Mühsam stemmte Light sich hoch. Als er so über Ryuuzaki thronte, hielt er einen Moment lang inne. Ausdruckslose Augen blickten zu ihm hoch und Light vergaß seinen schmerzenden Fuß für einen Augenblick. Er konnte es sich nicht erklären, aber in diesem Moment verspürte er den unbändigen Drang, sich wieder runterzubeugen und… Was denke ich denn da? Er stemmte sich von Ryuuzaki runter und setzte sich auf, um sich das schmerzende Fußgelenk zu massieren. Vielleicht hatte er sich den Fuß ja doch verstaucht. Vorstellbar wäre es. Während des Tennisspiels war sein Wille zu siegen übermächtig gewesen. Zusammen mit dem Adrenalinstoß hätte das sicher gereicht, um den Schmerz für eine Weile zu unterdrücken. Danach war er ja fast nur noch gesessen. Und über Nacht war der Fuß dann angeschwollen und jetzt konnte er damit nicht mehr auftreten. Er warf einen Blick rüber zu Ryuuzaki, der einfach dasaß und ihn auf eigenartig hilflose Weise anstarrte. Er wirkte fast so, als überlegte er fieberhaft, was er nun tun sollte. "Was ist?", blaffte Light ungehalten. "Hör auf mich anzustarren und hilf mir hoch." Keine Reaktion. Ärgerlich versuchte Light, den Fuß zu strecken, was noch einigermaßen klappte, aber den Fuß anziehen konnte er nur unter Schmerzen. Er kannte das schon. Vor ein paar Jahren hatte er sich mal den Fuß verstaucht. Damals hatte seine Mutter ihn fast überfürsorglich umsorgt, sie hatte ihn vor den Fernseher gesetzt, Eis auf seinen Fuß gelegt und ihn bekocht. Diese Annehmlichkeiten würde er hier nicht bekommen. "Komm schon, hilf mir auf", sagte er, weil der andere sich immer noch nicht rührte. Ryuuzaki erwachte wie aus einer Starre und stand rasch auf. Er kostete sie beide einige Mühe, vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer zu kommen. Auch wenn es ihm nicht behagte, entschied Light, vorerst auf die allmorgendliche Dusche zu verzichten. Stattdessen legte er seinen Fuß hoch und ließ sich von L, der dafür sogar kurz die Handschellen löste, einen Eisbeutel bringen. Seit diesem einen Abend, an dem Ryuuzaki seinem Team gedankenlos freigegeben hatte, arbeiteten sie nicht mehr bis Mitternacht oder noch länger durch. Jetzt saßen sie spätestens um elf Uhr vor dem Fernseher und zankten sich um die Fernbedienung. Light hatte scherzhaft gemeint, Ryuuzaki hätte wohl Gefallen an dem, was andere gemeinhin "Freizeit" nannten, gefunden. Ganz so war es nicht, aber Light musste ja nicht alles wissen. Es war eine gute Gelegenheit, das, was Ryuuzaki vor einiger Zeit so leichthin Freundschaft genannt hatte, auszubauen. Er wollte Lights Vertrauen gewinnen, in der schwachen Hoffnung, dass Kira sich an dieses Vertrauen später erinnern würde. Die Akten kannte er ohnehin auswendig, auch wenn täglich neue Fälle hinzukamen. Wichtiger war das hier. Wichtiger war es, die Psyche von Yagami Light zu analysieren, solange der verwundbar genug war, so viel von sich preiszugeben. Selbstverständlich war Ryuuzaki gezwungen, mit jedem Stück Information auch etwas von sich selbst zu offenbaren, aber er war sich sicher, dass es das wert war. Schließlich ahnte Light nicht einmal, dass es eine Schlacht um Informationen war. Heute hatte Ryuuzaki den erbitterten Kampf um die Fernbedienung gewonnen und sich für die Nachrichten entschieden. Er schaute wirklich gerne Nachrichten, weil es eines seiner Hobbys war, mit den spärlichen Informationen, die die Presse hatte, zu jonglieren und mit seiner Erfahrung auch zwischen den Zeilen zu lesen und die ungesagten Informationen zu ergänzen. Heute war das Programm eher ein Mittel zum Zweck, nämlich um Light weitere Informationen zu entlocken. Die Nachrichtensprecherin trug gerade einen Mordfall vor, da sah er seine Chance und ergriff sie. "Wenn Kira ihn nicht erwischt, werden sie ihn wohl hinrichten", sagte er scheinbar beiläufig. "Vermutlich", erwiderte Light. "Er hat drei Kinder getötet. Die Öffentlichkeit würde es nicht sehr gut aufnehmen, wenn sie ihn nicht mit der vollen Härte des Gesetzes bestrafen. Aber ich denke, Kira wird ihn sich vorher holen." Ryuuzaki rückte ein Stück zur Seite, damit er Light ansehen konnte. Er stützte das Kinn auf sein linkes Knie und beobachtete, wie Light aufmerksam die Nachrichten verfolgte. "Wie denkst du über die Todesstrafe, Raito?" "Es ist barbarisch", sagte Light abfällig. Die Antwort kam so spontan, dass man eindeutig merkte, dass er die Wahrheit sagte. Ryuuzaki war immer wieder fasziniert, wie sehr Light sich während der Haft verändert hatte. Jetzt war er ein normaler, hochintelligenter Student mit vielseitigen Interessen und einer aufrichtigen, interessanten Persönlichkeit. Wie hatte sich dieser Teenager in das Monster Kira verwandeln können? Light war faszinierend und liebenswert. Kira war eine gewissenlose Bestie. Light schüttelte den Kopf. "Wir verdammen Mörder und dann werden wir selbst welche. Es ist nicht Recht, andere zu töten. Auch nicht im Namen der Gerechtigkeit." Jetzt schaute er Ryuuzaki an und versuchte augenscheinlich, sich die Irritation darüber, dass der ihn schon wieder anstarrte, nicht anmerken zu lassen. Ganz unerwartet musste Ryuuzaki lächeln. Light war wirklich eine faszinierende Persönlichkeit. Er war ein glühender Verfechter der Gerechtigkeit. Wenn man ihn so ansah, mochte man glauben, dass nichts und niemand ihn von diesem Weg abbringen konnte. Weil er so in Gedanken versunken war, überraschte Lights plötzliche Frage ihn. "Und du, Ryuuzaki?" "Oh. Ich… ich denke, ich finde es gut, so wie es ist." "Wirklich?" "Ja. Eingesperrt zu sein ist nicht abschreckend genug. Die Vorstellung, wir würden Kira fassen und dann würde man ihn einfach wegsperren, macht mich richtig krank. Er ist ein Massenmörder und dafür gibt es nur eine Strafe." "Ich kann dich echt nicht verstehen. Was genau ist dann der Unterschied zwischen Kira und unserer Justiz?" "Kira ist ein verwöhntes Kind", sagte Ryuuzaki. "Er hat nicht das Recht, über andere Urteile zu fällen." "Und wer hat das Recht? Ein paar korrupte Richter?" Light seufzte. "Ich will nicht darüber diskutieren, das Thema macht mich krank. Ich bin erstaunt, dass du so denkst. Das hätte ich nie erwartet." "Du siehst ja richtig erschüttert aus." Tatsächlich hatte sich eine steile Falte zwischen Lights Augenbrauen gebildet. "Ich hatte dich einfach anders eingeschätzt." Die Worte trafen Ryuuzaki auf eine unerwartete Weise. Er hatte nicht gewusst, dass es ihm wichtig war, wie Light über ihn dachte. Wortlos starrte er den Teenager an, der sich jetzt wieder dem Fernseher widmete. Sein Profil war auch interessanter. Er hatte ein sehr schönes Gesicht. Kein Wunder, dass er Mädchen für sich einspannen konnte und dass keiner auch nur auf die Idee gekommen war, dass aus diesem Mund nichts als Lügen gekommen waren. Kira ist ein verwöhntes Kind. Das hatte Light mal gesagt und es hatte genau dem entsprochen, was Ryuuzaki gedacht hatte. Heute schaute er den Teenager an und ergänzte: Kira ist ein wunderschönes Kind. "Ryuuzaki?", fragte Light nach einer ganzen Weile. "Darf ich dich mal was fragen?" "Natürlich." "Wieso gehst du so weit für diesen Fall?" Er wandte den Blick vom Fernseher ab um Ryuuzaki anzusehen. "Keiner wusste, wie L aussieht. Wieso bist du das Risiko eingegangen, dich meinem Vater und den anderen zu zeigen?" "Anders wäre ich nicht weitergekommen." L merkte, dass er wieder an seinem Daumen herumkaute. "Kira hatte die Polizei erfolgreich gegen mich aufgebracht. Ich hätte unter diesen Bedingungen nicht effizient arbeiten können. Ich musste mich entscheiden, ob ich den Fall lösen und dabei mein Leben einsetzen will oder eben nicht." "Warum ist dir dieser Fall mehr wert als dein eigenes Leben?" "Das ist schließlich mein Job. Und ich wusste, worauf ich mich einlasse. Oder ich glaubte, ich wüsste es." "Wie meinst du das?" "In dem Moment, als ich mich deinem Vater und den anderen Polizisten als L offenbart habe, habe ich mein Leben eingesetzt in diesem Spiel." Er blickte Light sehr lange an. "Aber wirklich lebensgefährlich ist die Lage erst, seit ich… seit ich mich dir offenbart habe." Das war wohl der Abend der offenen Worte. Denn Ryuuzaki meinte jedes Wort so, wie er es sagte. Wie schon so oft hatte Light mit seiner ehrlichen, freundlichen Art es geschafft, Ryuuzakis Mauern niederzureißen. "Ich fürchte mich vor dem Moment, wo ein Mensch, den ich gern habe, sich an die Brust fasst und tot zusammenbricht", sagte Light und blickte starr zum Fernseher. Er wollte sich seine Gefühle nicht allzu deutlich ansehen lassen, dabei war es für einen guten Beobachter so offensichtlich, was er fühlte. "Kira ist brillant, alles, was er getan hat, war perfekt durchdacht. Selbst unsere Spur mit den Geschäftsmagnaten, die in den letzten Wochen gestorben sind, könnte bloß ein weiterer Trick sein, um L in die Irre zu führen. Was, wenn wir verlieren?" "Es tut mir leid, dass ich deinen Vater in solch eine Gefahr gebracht habe, Raito." "Es war seine eigene Entscheidung, keiner hätte ihn davon abbringen können. Außerdem ist es nicht nur er, um den ich Angst habe." "Deine Familie dürfte sicher sein, deine Mutter und deine Schwester kennt niemand, Kira würde nicht…" "Ich habe Angst, dass Kira dich tötet." Süßer Schmerz breitete sich in Ryuuzakis Brust aus und mit diesem Schmerz kam auch die Angst. Angst davor, zu tief in diese Sache verwickelt zu werden, aber auch seine ganz banale Angst, jemandem nahe zu sein. Er wollte weglaufen, aber dann hätte L wie ein Feigling ausgesehen. Er wollte wirklich glauben, dass Light noch immer Kira war und all diese bedeutungsvollen Sachen sagte, weil er einfach berechnend war. Aber so war es nicht. "Das ist sehr schön, dass du das sagst, Raito", sagte er. Es war eine hohle Phrase, leere Worte, die dem Chaos in seinem Inneren nicht einmal annähernd gerecht wurden. "Dann werde ich versuchen, nicht zu sterben." ...tbc... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)