Sei nicht traurig! von Hoellenhund (Ein Wintermärchen) ================================================================================ Kapitel 4: Bittere Kälte und angenehme Wärme -------------------------------------------- In dieser Nacht vermochte Fynn kein Auge zu schließen. Aufrecht saß er in seinem Bett und wartete ; erst wenn jedes Geräusch im Schloss verstummt war, könnte er es wagen, sein Zimmer zu verlassen. Lange dauerte es, bis er sicher war, dass alle Kerzen gelöscht und alle Augen zugetan waren. Beinahe wäre er eingenickt, doch seine Neugierde hatte ihn wach gehalten. Er musste es erfahren, er hatte keine Wahl. Leise erhob er sich und drückte ein Ohr an die Zimmerwand, die an den Raum seines Freundes grenzte. Nichts war zu hören, was Fynn erleichtert aufatmen ließ: Lysander schien bereits zu schlafen. Auf leisen Sohlen schlich er zu seiner Zimmertür und drückte sie auf; bedacht darauf, ein Knarren zu vermeiden. Auf dem dunklen Flur blickte sich Fynn um; im ersten Moment hatte er schon gedacht, es würde tatsächlich nirgendwo mehr eine Kerze brennen, doch dann fiel sein Blick auf einen matten Goldschein, der unter einem Türspalt hervorglimmte. Vorsichtig trat er näher, klopfte leise und flüsterte den Namen des kleinen Mädchen, welches er auch in der Nacht zuvor in jenem Zimmer entdeckt hatte. Da er keine Antwort erhielt, drückte er die Tür einfach auf. Der helle Lichtschein in dem Raum blendete ihn, doch als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, entdeckte er tatsächlich Aydin, die auf einem Stuhl nahe dem Fenster saß. Ein leises Lächeln huschte über seine Lippen, während er die Tür hinter sich schloss. „Guten Abend, Aydin“, grüßte er das Mädchen, welches sich erst jetzt zu ihm umwandte. Fynn ging auf sie zu, um sich neben ihr auf dem Bett niederzulassen, doch Aydin hielt ihn zurück: „Nicht! Komm nicht näher.“ Abrupt blieb Fynn stehen, war verwirrt. Was sollte es für einen Grund geben, nicht näher zu treten? Das kleine Mädchen deutete auf einen Stuhl direkt neben der Tür; es war der selbe, auf dem sich Fynn vorige Nacht niedergelassen hatte. „Bitte setze dich dort“, sprach Aydin mit ihrer freundlichen, jedoch fernen und unwirklich klingenden Stimme. Irritiert trat Fynn einige Schritte zurück und ließ sich nieder, genau wie Aydin ihn angewiesen hatte, wodurch er sich berechtigt fühlte, das Mädchen direkt danach zu fragen: „Was ist mit dir, wieso sollte ich nicht näher kommen?“ Sie musterte ihn nur ausdruckslos und antwortete nicht; es schien eine Ewigkeit still im Raum zu sein. Doch dann nickte Aydin langsam: „Du besitzt ein reines Herz. Dir will ich von mir berichten.“ Eine neue kleine Ewigkeit schien ihr Blick Fynn durchbohren zu wollen, schien das Tiefste in seinem Inneren sehen zu wollen. Doch dann nickte sie erneut und begannt zu erzählen, sehr leise und zu ihren im Schoße gefalteten Händen hin, jedoch flüssig und klar. „Ich bin kein Mensch, mein Freund, nein. Aber das hast du sicher geahnt. Man nennt uns Lumière, wir bringen den Menschen Gefühle wie Glück oder Zorn.“ Erneut trat Stille ein. Dieses Mal, da Fynn kaum glauben konnte, was er hörte. Er war auf einiges vorbereitet gewesen, am naheliegensten hatte er die Theorie des Geistes empfunden. Doch dem war nicht so – Aydin behauptete ein Wesen zu sein, von dem er noch nie gehört hatte – noch nicht einmal in den Geschichten, die seine Mutter ihm als Kind vorgelesen hatte. „Und..:“, begann Fynn immer noch leicht verunsichert, „Welches Gefühl bringst du den Menschen?“ Aydin antwortete nicht, sie erhob sich und trat an das geschlossene Fenster heran, ihrem Gesprächspartner den Rücken zugewandt. In dieser Pose erinnerte sie Fynn unwillkürlich an Silencius, als er von der Legende der Jahreszeiten berichtet hatte. Einige Sekunden lang geschah nichts, dann begann Aydin erneut zu sprechen, doch antwortete sie nicht auf die ihr gestellte Frage: „Auf Menschen mit magischen Fähigkeiten wirken unsere Gefühle stärker, als auf andere. Das – das ist der Grund, aus dem du mir so nahe kommen kannst, ohne etwas zu spüren. Bei deinem Begleiter ist das schwieriger... Ich gestehe, ich habe euch belauscht, diesen Nachmittag und ich fürchte, er hat mich bemerkt, trotz meiner Bemühungen...“ Zwei Dinge fuhren Fynn daraufhin blitzschnell durch den Kopf: Der Kerzenhalter, der von der Wand gefallen war und die Macht, von der Lysander am Morgen berichtet hatte. Eigentlich konnte Fynn nicht glauben, was er hörte, so sehr er Aydin auch mochte. Doch all dies passte in das unvollständige Bild des Schlosses, es fügte sich allmählich zusammen und Fynn war sich sicher, er stand kurz davor es zu lösen. „Der Schlossherr, Silencius... Er ist sehr mächtig...“, fuhr Aydin fort, ohne eine Reaktion von Fynn abzuwarten. Ihre Stimme klang erstickt, als stünde das Mädchen kurz vor den Tränen: „Er spürt mich schon, wenn ich nur im selben Teil des Schlosses verweile...“ Doch nun konnte sie nicht mehr an sich halten; sank vor das Bett und legte den Kopf ihm ab. Leises Schluchzen durchzog die nächtliche Stille. Ohne es bemerkt zu haben, hatte sich Fynn erhoben. Ob Mensch oder nicht, er konnte Aydin nicht weinen sehen; wie alt sie auch sein mochte, in seinen Augen war sie immer noch das, was sie auf den ersten Blick zu sein schien: ein kleines Mädchen von vielleicht acht Jahren, das die Welt noch nicht allein bewältigen konnte. Rasch ging er auf sie zu und legte einen Arm um sie. Doch kaum, da er sie berührte, schien sein Herz in einem Käfig gefangen; drückend eng und kalt – kein Entkommen. Sinnlos, alles, was es auch zu tun geben mochte, kein Ausweg, dumpfe Dunkelheit, allein. Niemand weit und breit, der ihn schützen würde, niemand, seine Schmerzen zu lindern. Aydins Kopf ruckte entsetzt nach oben, ihre feuchten Augen hafteten auf dem Jungen, der versucht hatte, ihr das Leid zu nehmen. Ihr Blick flackerte. Sobald Fynns Lippen ein verzweifelter und tief deprimierter Aufschrei entglitt, befreite sich Aydin aus seinem Griff, verschmolz mit dem Raum um sie her und war verschwunden. Mit ihr war auch der brennende Schmerz aus Fynns Herzen verschwunden, der ihn halb blind gemacht hatte; noch nie hatte er solch tiefe Trauer und Verzweiflung verspürt. Mit halb betäubtem Kopf fand er sich auf den Knien wieder, griff mit der Hand zum Herz. Als er sich gerade aufrappelte, vernahm er schnelle Schritte auf dem Flur. Jemand stieß die Tür auf und als Fynn sich umwandte, entdeckte er Lysander im Nachtgewand. „Was ist geschehen? Ich hörte einen Schrei“, teilte er seinem Freund mit und wandte den Kopf, um die Quelle des Aufschreis auszumachen. Als er sie nicht entdeckte, fuhr er fort: „Und was machst du eigentlich hier, mitten in der Nacht?“ „Verzeih“, murmelte Fynn, „Ich konnte nicht einschlafen und beim Umherstreifen, begann mein Herz zu schmerzen...“ Soweit war Fynns Aussage völlig korrekt, doch wurde sie von Lysander missverstanden: „Im Herzen? Das werde ich mir sofort ansehen, jetzt bringe ich dich erst einmal zurück zu Bett.“ Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hob er Fynn hoch, sodass diesem nicht einmal mehr die Zeit blieb, zu protestieren. Überrascht stellte er fest: Lysander trug ihn in sein Zimmer. Er legte Fynn auf dem Bett nieder und ging dann, um in dem verlassenen Zimmer die Kerzen zu löschen. Das Bett roch so stark nach Lysander, dass Fynn unwillkürlich ein Schauder über den Rücken lief. So oft hatte er auf diesem Bett gesessen, doch nie war es ihm aufgefallen. Wann hatte er das letzte mal in Lysanders Bett gelegen? Viele Jahre war es her, damals waren sie Kinder gewesen; unschuldige Kinder, die sich nichts dabei dachten. Oft war Fynn zu Lysander unter die Decke geschlüpft, als er nach dem Tod seiner Mutter unter Albträumen litt – und Lysander hatte ihn stets getröstet, jede Nacht. Nachdenklich rollte sich Fynn auf den Bauch. Wieso war es bloß für Kinder so einfach, Freunde zu sein, eine so tiefe Freundschaft aufzubauen? Das Geräusch der ins Schloss fallenden Zimmertür schrecke Fynn auf. Lysander war zurückgekehrt und setzte sich nun auf die Bettkante. „Ich kann dir wohl nicht sehr viel behilflich sein, das ist nicht mein Beruf. Doch ein wenig über Medizin habe ich in der Schulzeit gelernt“, sagte er und lächelte verlegen, in Erinnerungen schwelgend, „Wo genau tat es weh?“ Fynn wollte es ihm sagen: er war nicht krank, doch etwas hielt ihn davon ab, sodass seine Antwort: „Im Herzen, ein Ziehen und dann ein stechender Schmerz“ lautete. Doch sein schlechtes Gewissen holte ihn sofort wieder ein und so ergänzte er: „Aber es ist schon vorbei.“ „Das kann vieles sein“, gab Lysander besorgt zurück und strich sich das schwarze Haar aus der Stirn, wie er es so oft tat, wenn er nachdachte, „Wir sollten das beobachten.“ Fynn nickte und wollte aufstehen, doch Lysander packte ihn bei den Schultern und hielt ihn zurück: „Um Himmels Willen, bleib liegen. Und schlafe, das kann nie schaden.“ Seufzend gab Fynn nach und sank zurück in die Kissen. Jäh fragte er sich, wieso er Lysander nicht die Wahrheit gesagt hatte. Doch schon, da Lysander die Kerzen löschte und sich ein Stück entfernt ganz an den Rand des Bettes legte, fiel es ihm wieder ein: Es war dieser Geruch, der für ihn schon immer Wärme und Geborgenheit verkörpert hatte. Kurz bevor er einschlief, ging ihm noch ein letzter Gedanke durch den Kopf: 'Nun weiß ich, für welches Gefühl Aydin zuständig ist...' Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)