Die Akte Tanner von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 4: Bombenlegen für Fortgeschrittene ------------------------------------------- Am späten Nachmittag fanden Rally und May sich bei Ken ein. Der zeigte ihnen seine Arbeit. Die Bombe war eine kleine Metallbox, etwa so gross wie zwei aufeinander gestapelte Videokassetten. Die einzigen Bedienelemente waren ein Knopf und eine LED. Ken erklärte, wie sie funktionierte: "Das ganze ist sehr einfach gehalten. Wichtig ist nur, das ihr die Bombe gut platziert. Wenn sie scharf ist, darf sie sich auf keinen Fall mehr bewegen. Sonst geht sie sofort los. Sorgt also dafür, das sie einen sicheren Stand hat, gut aufgehängt ist, oder was auch immer." "Alles klar. Ein empfindlicher Bewegungssensor also", sagte May. "Nicht nur das. Im inneren befindet sich ein Netz aus Kleinstdrähten, die bei einem gewaltsamen Öffnen reissen. Bei einem Temperatursturz geht ebenfalls ein Sensor los, so das Tricks mit flüssigem Stickstoff nicht greifen. Der eigentliche Zündmechanismus basiert auf einer simplen Metallfeder, und geht los, wenn die Elektronik ausfällt." May zog die Augenbrauen hoch. "Kann man die überhaupt entschärfen?", fragte sie. "Kaum", erwiderte Ken. "Man könnte versuchen, die Aussenschale so vorsichtig zu entfernen, das weder die Drähte verletzt, noch der Bewegungssensor ausgelöst wird. Aber ich würde die Finger davon lassen." May war einen Augenblick lang still. Sie schaute Ken mit einem scheelen Blick an. "Nicht zu entschärfen", sagte sie schliesslich. Ken nickte. "Wieso?" "Es ist einfacher, eine Bombe zu bauen, die sich nicht entschärfen lässt, als eine, die sich schwer entschärfen lässt. Normalerweise lasse ich mir eine Hintertür offen. Aber diesmal war ich in Eile, also..." May seufzte. "Na schön. Wie macht man sie scharf?" Ken deutete auf den Knopf an der Bombe. "Einfach hier drücken. Als Bestätigung sollte die LED kurz aufleuchten. Wenn sie mal scharf ist, gibt es zwei, voneinander unabhängige Zünder. Der erste ist an die verschiedenen Sensoren gekoppelt. Der zweite...", Ken gab May einen Funkauslöser, "...wird hiermit ausgelöst. Das Signal ist stark genug, um durch mehrere Mauern Stahlbeton zu dringen. Ausserdem geht die Bombe in spätestens drei Tagen von selbst los. Dann ist nämlich die Batterie alle, und die Elektronik fällt aus." "Alles klar." May nahm die Bombe und den Zünder entgegen. "Sei vorsichtig damit", warnte Ken. "Das Ding ist gefährlich." May nickte nur. "Was passiert eigentlich, wenn die Bombe ausgelöst wird?", fragte Rally, der Mays Unbehaglichkeit natürlich nicht entgangen war. "Nun, für etwa zehn Sekunden wird der Raum mit Aerosol gefüllt. Dann wird es gezündet. Das Feuer sollte die Drogen verbrennen, bevor ein Feuerlöscher vor Ort ist." Rally konnte daran nichts finden, was May beunruhigen könnte. Sie würde bei Gelegenheit nachfragen. Als die Sonne unterging, war alles bereit: Rally und May trugen immer noch die Verkleidungen vom Nachmittag, und sie benutzten wieder den Fiat. May bestand darauf, zu fahren. Immerhin war es ihr Wagen. Für Notfälle hatte Rally Ken beauftragt, etwa einen Kilometer weiter mit dem Cobra zu warten. Schliesslich kamen Rally und May in der Nähe von Stevensons Hauptquartier an. Während May die Bombe aus dem Kofferraum holte, prüfte Rally ihre Waffen. Wegen der Verkleidung konnte sie nicht beliebig viel mitnehmen. Sie hatte sich für ihr Lieblingsstück, die CZ-75, entschieden. Ausserdem hatte sie zwei volle Ersatzmagazine dabei, wodurch sie immerhin über 46 Schuss verfügte. Desweiteren hatte sie ihre DUO auf der Schiene im Ärmel versteckt. Die gute, alte 22.-er hatte sie schon mehr als einmal gerettet. May hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, ein paar Granaten mitzunehmen. Rally gefiel das gar nicht, denn sie wollte möglichst unentdeckt bleiben. Granaten waren dafür ein schlechtes Mittel. Immerhin konnte sie May überreden, sich auf vier Stück mit reduzierter Sprengkraft zu beschränken. Der Einstieg erwies sich als einfach. Das Fenster war immer noch entriegelt. Auch die erneute Überbrückung der Alarmanlage war nicht entdeckt worden, wie May zufrieden feststellte. Rally zückte die Waffe und entsicherte sie. Nach Mays Aussagen glaubte sie zwar nicht, das die Zimmer hier oben überhaupt benutzt wurden. Aber es bestand immer die Möglichkeit, dass sie einer Patrouille begegneten. Sie horchte an der Tür. Dann öffnete sie sie vorsichtig. Der Gang war dunkel. Rechts konnte Rally das Treppenhaus erkennen. "Und jetzt?", fragte sie leise. "Da runter?" "Ich denke schon", flüsterte May. "Es gibt noch ein zweites Treppenhaus, aber das ist vermutlich blockiert. Und heute Morgen sind hier zwei Wachen hochgekommen. Es ist wohl schon der richtige Weg." Rally drehte sich zu May um. Es war zu dunkel, um Rallys Gesichtsausdruck zu erkennen. Aber von irgendwo her wusste May, dass sie gerade ziemlich böse angefunkelt wurde. "Sie haben dich entdeckt, nicht wahr?", zischte Rally. May wollte entrüstet Antworten. Im letzten Moment fiel ihr ein, wo sie sich befanden. Sie wählte einen leiseren Tonfall: "Sie haben mich nicht entdeckt. Sie haben... sie haben nur gemerkt, das jemand da war." Rally schüttelte den Kopf. "Das hättest du sagen müssen", seufzte sie. "Die sind jetzt gewarnt. Wir müssen vorsichtig sein." Leise stiegen Rally und May die Treppen hinunter. Sie kamen ohne Schwierigkeiten bis in den zweiten Stock. Im ersten Stock allerdings, soviel war von oben zu sehen, brannte das Licht. Rally ging daher besonders vorsichtig nach unten. Als sie halb unten war, konnte sie einen Blick in den ersten Stock erhaschen. Ihre Vorsicht war nicht umsonst gewesen: Ein ziemlich massiger Typ, Marke Schwarzenegger, sass auf einem Stuhl vor der Treppe, und 'las' eines jener Blätter, die im Kiosk meist ganz oben auf den Regalen zu finden waren, damit die Kinder sie nicht so einfach erreichten. Es war natürlich Tom, der Sicherheitschef. Aber das wusste Rally nicht. Sie wusste nur eines: Irgendwie mussten Sie an dem Kerl vorbeikommen. Es gab zwei Möglichkeiten: Erstens, sie gingen hier nach unten. Diese Möglichkeit gefiel Rally nicht. Nicht so sehr, weil sie dazu Tom überwinden mussten, sondern vielmehr, weil sie so wahrscheinlich Aufsehen erregen würden. Und genau das wollte Rally um jeden Preis vermeiden. Die andere Möglichkeit war, sich einen anderen Abgang zu suchen. "May", fragte Rally leise, "gibt es noch einen anderen Weg nach unten?" May machte ein etwas enttäuschtes Gesicht. Offensichtlich hätte sie lieber etwas Radau gemacht. Aber sie war sich über die Situation durchaus im Klaren. Sie überlegte: "Wie ich schon gesagt habe, gibt es noch eine zweite Treppe auf der anderen Seite des Hauses. Aber soweit ich gesehen habe, ist die blockiert." "Blockiert?" "Ja, mit einer Holzplatte." "Hmmmm..." Rally dachte einen Moment nach. Viel Zeit dazu hatte sie allerdings nicht, denn auf einmal konnte sie von unten Schritte hören. Vorsichtig schaute sie wieder in den ersten Stock hinab. Sie konnte erkennen, das zwei Männer gerade auf die Treppe zu kamen. "Nanu?", sagte einer der beiden. "Du sitzt immer noch hier?" Tom sah missmutig zu ihm auf. "Hast du nicht gehört? Wir hatten heute einen Eindringling! Vielleicht sollte ich deine Sinne mal auf Trab bringen." "Wir hatten heute *Morgen* einen Eindringling. Und soviel ich gehört habe, hast du den armen Hawkins durch das halbe Gebäude gehetzt, bis du überzeugt warst, dass er weg ist." "Und wer sagt dir, dass er sich nicht immer noch irgendwo versteckt?" Toms Gesprächspartner schüttelte nur den Kopf. "Du bist ja paranoid", sagte er. "Mag sein", erwiderte Tom. "Aber bisher hat uns diese Paranoia immer gut beschützt." "Bisher... gab es nichts wovor sie uns beschützen müsste." "Das reicht jetzt aber! Los, ab ins Körbchen, ihr beiden, oder ich prügle euch dorthin!" Mit diesen Worten jagte Tom die beiden lachenden Männer die Treppe hoch. Rally reagierte schnell. Sie rannte die Treppe hoch, wobei sie May mit sich riss, und stürmte oben in das erstbeste Zimmer. Erst zog sie May hinein, und dann die Tür zu. Sie versuchte, ihren Atem zu bändigen, während die Schritte näher kamen. "Du Rally", flüsterte May. "Nicht jetzt", zischte Rally. "Als ich das erste mal hinaufstieg, da habe ich..." "Scht!" "Ich habe eine leere Matratze gesehen." Rally gab auf. "Und?", seufzte sie. "Sie ist nicht mehr leer." Rally sah sich um. Tatsächlich schlief jemand auf der Matratze. Innerlich fluchend horchte sie an der Tür. Keine Chance. Die Schritte waren bereits zu nahe. Rally hielt den Atem an, aber die Männer gingen einfach am Zimmer vorbei. Sie lachten immer noch. "Ach herrje", sagte einer. Vermutlich derselbe, der unten stumm geblieben war. "Nächstes Mal nehmen wir besser den anderen Weg." "Welchen anderen Weg denn? Es gibt keinen anderen Weg." "Oh, hab ich etwas von einem anderen Weg gesagt?" Beide lachten wieder. Allmählich verhallten die Schritte im Gang. Rally und May verliessen das Zimmer. Vorsichtig schlossen sie die Tür hinter sich. Erst dann wagten sie es, auf zu atmen. "Das war knapp", sagte May. "Allerdings", bestätigte Rally. "Aber immerhin wissen wir jetzt sicher, das es noch einen anderen Weg geben muss." May zuckte mit den Schultern. "Vielleicht ist die andere Treppe nur im Erdgeschoss blockiert." "Schauen wir nach", sagte Rally. Langsam schlichen sie sich durch den Gang. Immer bereit, in eines der Zimmer zu springen. Aber sie kamen ohne weitere Zwischenfälle auf die andere Seite. Leider war die andere Treppe aber auch hier blockiert. "War wohl nix", meinte May enttäuscht. Rally sagte nichts. Sie schaute nur angestrengt auf die Holzplatte. Dann drückte sie leicht. Nichts passierte. Sie schaute noch einmal genauer hin, und drückte an einer anderen Stelle. Es knirschte leicht. Rally lächelte triumphierend. Sie drückte stärker, und plötzlich löste sich ein Teil des Brettes. Rally fing es auf, bevor es lärmend in das Treppenhaus fallen konnte. "Das war es also", sagte sie. "Ein geheimer Durchgang", meinte May erstaunt. "Vielleicht um unbemerkt an der Wache vorbei zu kommen?" "Egal. Jedenfalls kommen wir so viel leichter nach unten. Komm schnell." Rally setzte die Platte wieder vorsichtig an ihren Platz, bevor sie und May nach unten gingen. Es war stockdunkel, aber May hatte eine kleine Taschenlampe dabei. Tatsächlich waren auch die anderen Stockwerke blockiert. Durch die Dunkelheit im Treppenhaus konnte man aber auch erkennen, das alle Platten gleich präpariert waren, denn von aussen schimmerte Licht durch die Ritzen. Im Keller war allerdings nichts zu erkennen. Vermutlich war das Licht im Gang ebenfalls abgeschaltet. Rally liess sich davon nicht stören. Sie tastete das Brett ab, und stellte fest, das auch dieses präpariert war. Sie horchte kurz, und als nichts zu hören war, öffnete sie auf die gleiche Weise wie oben den Durchgang. Im Gang schauten sie sich kurz um. Er sah aus, wie die Gänge oben. Ausser, das hier Rohre von der Decke hingen, und das, wie Rally bereits richtig vermutet hatte, das Licht ausgeschaltet war. "So", sagte sie. "Jetzt müssen wir nur noch das Lager finden." Sie versuchte die Tür gegenüber. May leuchtete mit der Taschenlampe herum. Der Raum enthielt jede Menge Geräte, wobei einige offensichtlich abtransportbereit waren. Aber es lagen keine Drogen herum. "Das muss das Labor sein", sagte May. "wir könnten die Bombe auch hier platzieren." Rally schüttelte den Kopf. "Was bringt es, wenn wir das Labor zerstören? In ein oder zwei Tagen ist die Bande sowieso aus dem Geschäft." "Stimmt auch wieder." May und Rally schauten sich die Räume daneben und gegenüber an, aber sie waren alle leer. "Seltsam", sagte May. "Es ist doch nicht üblich, die Drogen weit vom Labor entfernt zu lagern, oder?" "Vielleicht wollen sie umziehen", erwiderte Rally. "Umziehen?", fragte May verdutzt. "Wie kommst du darauf?" "Vector hat erwähnt, das Stevenson nervös ist. Und ausserdem waren einige der Geräte im Labor transportfertig. Sie werden die Drogen wohl irgendwo hin gebracht haben, wo sie schnell wegzuschaffen sind." "Meinst du, sie liegen im Erdgeschoss?" "Kaum. Das Risiko wäre zu gross." "Also noch im Keller." May überlegte: "Vielleicht bei der anderen Treppe... Der Notausgang ist gleich darüber... Was meinst du?" Rally blickte May erstaunt an. "Na klar! Das ist es!", sagte sie. "Gut gedacht, May." Zum Glück konnte Rally Mays siegreiches Grinsen in der Dunkelheit nicht sehen. Sie hätte ihr Lob womöglich bereut. Zurück auf der anderen Seite sahen sie, das Licht im Treppenhaus brannte. Misstrauisch und vorsichtig schauten sie nach oben. Aber es war niemand zu sehen. Also gingen sie zur Tür gegenüber. Rally horchte kurz daran, dann öffnete sie sie schnell, aber geräuschlos. Sie sah sich schnell um. Es war niemand da, aber der Raum war nicht leer. Ganz und gar nicht. Er war Stapelweise mit kleinen grauen Päckchen gefüllt. "Ach du...", sagte May etwas zu laut. Erschrocken schaute sie zur Treppe. Aber sie schien nicht gehört worden zu sein. Leise kam sie hinter Rally her in den Raum, und schloss die Tür. Sie leuchtete etwas herum. Schliesslich fand sie den Lichtschalter. Als sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Der Raum enthielt hunderte von den Päckchen. "Ach du meine Güte", vervollständigte sie den begonnen Satz, diesmal leiser. "Wenn das wirklich alles Drogen sind, dann ist das Zeug hier ein Vermögen wert." Rally hatten einen entschlossenen Gesichtsausdruck angenommen. Sie nahm sich eines der Päckchen, und öffnete es. Es enthielt ein gräuliches Pulver. Rally versuchte davon. "Und?", fragte May. "Ich bin kein Experte," sagte Rally, "aber das sind ziemlich sicher Drogen. Wenn auch grosszügig mit Zucker gestreckt." "Schlechte Qualität was? Der Markt ist wohl ausgetrocknet." "Der Markt *ist* ausgetrocknet", bestätigte Rally. "Und er wird es gleich noch etwas mehr sein. Aber das ist nicht unser Problem." Sie schloss das Päckchen wieder, und legte es zurück. Dann drehte sich zu May um: "Jetzt bist du drann." "Alles klar", sagte May, und begann sich nach einem geeigneten Platz für die Bombe umzusehen. In diesem Moment schnappte das Türschloss zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)