Chrysalis Soul von -Soul_Diver- (Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]) ================================================================================ Kapitel 20: Human After All --------------------------- –„Wie es vereinsamte Seelen doch verstehen, in ihrer Angst vor der Liebe umeinander herzutanzen! Sie sind Rehe, die im Echo des anderen den Jäger zu erkennen glauben.“- (M. Roose ) ~~ Das helle, bunt gemusterte Kandispapier raschelte verheißungsvoll. Der rotznasige Lümmel machte Augen wie Spiegeleier, als er die bis zum Rand mit duftenden Lebkuchen gefüllte und mit einer roten Weihnachtsschleife umwickelte Tüte über den Tresen gereicht bekam. „Lass sie dir schmecken“, sagte Fye freundlich und strahlte den Kleinen an. „Entschuldigen Sie bitte?“, rief eine etwas ältlichere Dame aus der Kaffee-Ecke herüber, in der bereits mehr als ein Dutzend Leute Platz genommen hatten, „Ich hätte gerne die Rechnung!“ Fröhlich wirbelte der Blondling herum. „Aber gern, einen Moment bitte!“ „Sagen Sie, sind bei Ihnen noch ein paar von diesen Sahnekaramellen zu haben?“ „Natürlich, jeden Dienstag frisch! Nur einen Augenblick!“ „Wo kann ich das hier abstellen?“ „Gleich hier drüben! Darf ich es Ihnen abnehmen?“ So mancher Gast an diesem Morgen beobachtete den beflissenen Konditor amüsiert bei seinen Aktivitäten. Vor diesem jungen Mann konnte man getrost den Hut ziehen, da waren sie sich alle einig- die Neuigkeit von der gewagten Kombination aus Café und Konditorei mit den extravaganten Süßigkeiten im Schaufenster und dem netten Konditor hinter dem Tresen hatte wie ein Lauffeuer am Johannesplatz die Runde gemacht, und die Zahl der Kunden im Café de la Paix hatte sich innerhalb weniger Tage vervielfacht. Und dennoch wurde der Blondling mit allem, was ihm dieser neue Erfolg an Gästen, Hektik, unaufgeräumten Tischen und überladenen Spülmaschinen aufbürdete, völlig selbstverständlich fertig, ohne auch nur einmal eine schiefe Schnute zu ziehen - er bediente Herren wie Damen mit einem unnachahmlichen Charme, steckte den Kleinen Plätzchen und Zuckerkringel zu, hatte fast täglich ein neues Rezept in petto, verbreitete lauter Vergnügen und Gelächter um sich her, und wessen Herz er nicht mit seinem Lächeln und seiner warmherzigen Wesensart schmolz, den erweichte er mit seinen raffinierten Köstlichkeiten. Nicht einmal der ganze vorweihnachtliche Terror schien ihm etwas anhaben zu können, obwohl dieser schon erkennbar über den Einkaufsmeilen der Stadt schwebte. Schien. Ein schönes Wort. „Vielen Dank, beehren Sie uns bald wieder!“ Mit großen Gesten verabschiedete Fye die alte Dame, die soeben ihre Rechnung bezahlt hatte, bevor er noch er den kleinen Bengel abfertigte, Sahnekaramellen herbeischaffte und zuguterletzt in die Hocke ging, um den enormen Stapel an benutztem Kaffeegeschirr hochzuwuchten, der sich im Laufe des Morgens bereits in der Ablage neben der Tür angesammelt hatte. Unter einigem Geklapper und Ächzen balancierte er ihn Richtung Küche. Weg von den Leuten. Das Tablett fiel, bevor er den Geschirrberg überhaupt ganz abladen konnte. Das Lächeln stürzte ihm aus dem Gesicht wie ein Sahnehäubchen von einem klebrig süßen Kuchen, ohne dass er in der Lage war, etwas dagegen zu tun. Mit einem hilflosen Laut sank der Blondling vorneüber und schlang beide Arme um seinen Bauch. Es wurde ihm sterbenselend im Leibe, eine eisige Gänsehaut überrieselte seinen blutleeren Rücken und kalter Schweiß bildete sich auf seiner blassen, übernächtigten Stirn, während er wie von Sinnen nach Luft rang, um den plötzlichen Brechreiz zu bezwingen. Er schaffte es gerade noch, sich auf einen Stuhl fallen zu lassen, bevor die Krämpfe begannen. Ich kann nicht mehr. Gequält versuchte er wieder aufzustehen, um sich ans Geschirrspülen zu machen, den Unrat auf dem Boden zu beseitigen, oder zumindest zurück in den Laden zu gehen, doch seine Arme und Beine zitterten wie Götterspeise. Mit einem unterdrückten Seufzen ließ sich der junge Mann in dem Stuhl nach hinten sinken und schloss die Augen. Falls er jetzt tatsächlich zusammenklappen sollte, konnte er es bei seinem Arzt immerhin noch auf Stress und soziale Spannungen schieben. So gesehen wäre das nicht einmal gelogen. Es war nicht gerade ein Freudentanz gewesen, nach der Rückkehr aus der Stadt das Haus als halbes Schlachtfeld und Sakura als heulendes Elend auf dem Sofa vorzufinden, nur um dann wenige Momente später von einem hochneurotischen Polizeibeamten fast an die Wand gedrückt zu werden. Er konnte sich kaum erinnern, wann es das letzte Mal unter ihrem Dach einen derartigen Krach gesetzt hatte. „Mr. Flückiger, kraft meines Amtes als leitender Kommissar von Kingstonville sehe ich mich gezwungen, Ihr Haus als kriminalistischen Stützpunkt zu nutzen!“ Was hätte er schon tun können? Rebellieren? Auf seine Rechte verweisen? Vermutlich hätte beides keinen Erfolg nach sich gezogen. Wie ein resistentes Bakterium hatte Kinomoto so lange gebohrt, ihn mit Fragen an die Wand gedrängt und nachgehakt, bis er das bisschen an Widerstandswillen, das Fye noch hätte aufbringen können, gänzlich aus ihm herausgepresst hatte. Wäre es nach Kurogane gegangen, so hätte er den Kommissar wahrscheinlich noch am selben Abend mitsamt seinen Kollegen achtkantig wieder rausgeworfen- im besten Falle. Beide, sowohl Kinomoto als auch er, schienen sich noch am selben Abend unter der Hand den Krieg erklärt zu haben, ja, hatten gewirkt, als wären sie jederzeit bereit, übereinander herzufallen und sich sinnlos ineinander zu verbeißen wie zwei tollwütige Wölfe. Erst, als Sakura sich fast die Augen aus dem Kopf geheult hatte, hatten sie aufgehört, sich anzubrüllen. Und seitdem? Sakura und Shaolan schienen es plötzlich vorzuziehen, sich zur Nacht bei Ryo einzuquartieren, Kinomoto und seine Handlanger hatten sich sofort wieder zur Arbeit aufgemacht, Yuko meldete sich nicht und Eishaki war und blieb wie vom Erdboden verschluckt. Ruhe nach dem Sturm. Genau genommen kam er mit dieser Funkstille besser zurecht, als er es sich eingestehen wollte – es war nicht so, dass er nicht auch schon vorher ab und an Streit mit einem seiner Mitbewohner gehabt hätte, auch wenn er das stets tunlichst zu vermeiden versuchte – doch… Doch dass selbst Kurogane seit jenem Abend kein Wort mehr mit ihm sprach, würde ihn über kurz oder lang noch irre machen. Jedesmal, wenn sich im Haus zwangsläufig ihre Wege gekreuzt hatten, war es gleich abgelaufen. Ein fragender Blick – keine Antwort. Keine Begrüßung. Kein Heywiegehtsdir. Kein. Einziges. Wort. Es waren Momente gewesen, da hätte er sich am liebsten auf ihn gestürzt und ihm die Lippen aus dem Gesicht gerissen, um ihnen endlich einen Satz zu entlocken, sei es ein Lob, eine Kritik, eine Beschimpfung- Herrgott, irgendetwas!- wäre da nicht diese Angst vor Kinomoto gewesen. Und jetzt, was sollte jetzt geschehen? Wieso konnte nicht einfach alles so bleiben, wie es bisher gewesen war? Wieso konnte man sie nicht endlich in Ruhe lassen? Und was war, wenn Kurogane ihn jetzt hasste? Gequält spürte Fye, wie ihm über diesem Gedanken die Tränen kommen wollten. Ich will sterben. Eine plötzliche Bewegung aus dem Augenwinkel ließ ihn erschrocken aus seinen verworrenen Gedanken hochfahren. „Na, Herr Zuckersüß? Ausgeschauspielert?“ Hastig versteckte der Blondling seine zitternden Hände unter seiner Schürze und warf dem unerwarteten Eindringling ein strahlendes Lächeln über die Schulter zu. „Ah, sieh an? Hochwürden bequemt sich also endlich wieder dazu, die Sterblichen zur Kenntnis zu nehmen? Also, dass ich das noch erleben würde, hätte ich nie-…“ „Halt dein Maul.“ Fye erblasste. Das Lächeln rutschte ihm vom Gesicht, noch bevor er daran denken konnte, es festzuhalten. In Kuroganes Augen flackerte es verächtlich auf, als er sich von der Wand des Durchgangs zwischen Küche und Verkaufsraum löste, an der er bisher gelehnt hatte, und die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss schmiss. Das Tablett am Boden fegte er kurzerhand mit einem Fußtritt zur Seite, bevor er sich seinem jüngeren Mitbewohner gegenüber an die Spüle lehnte. Das Schweigen zwischen ihnen trieb Eiszapfen. „Also schön, darf ich erfahren, was das hier werden soll?“, fand der junge Mann schließlich seine Stimme wieder, „Ein Kreuzverhör? Bekomme ich jetzt das Protokoll, nachdem du vier Stunden lang hier herumgehockt bist und mir Löcher in den Rücken geglotzt hast?“ Ungerührt verschränkte der Killer die Arme vor der Brust. „Ich sitze so lange in diesem Café rum, wie ich das will.“ „Ach, ist das so? Und du meinst, dass das unbedingt nötig ist?“ Der Schwarzhaarige musterte ihn abschätzig. „Wenn ich mir so ansehe, in was für einem Zustand du dich befindest, nur weil du wieder zu bockig bist, dich mal auszuruhen, dann ist es das wohl.“ Fyes Wangen erglühten vor Scham. Das magmarote Augenpaar bohrte sich so nachdrücklich in das Seine, dass er den Blick abwenden musste. „Ich denke ja wohl, dass das meine Sache ist!“, gab er erbost zurück, „Ich muss arbeiten, und ich kann es nicht brauchen, dass du mir dabei die ganze Zeit im Nacken sitzt! Immerhin ist übermorgen Heiligabend! Ich frage mich nur, ob du-…“ „Du fragst dich?“, unterbrach Kurogane ihn schroff, „Willst du wissen, was ich mich frage? Ich frage mich, wie der Laden hier weiter laufen soll, wenn Herr Zuckersüß plötzlich den Geist aufgibt!“ „Nenn mich nicht Zuckersüß“, fauchte der Blonde gereizt. „Was denn? Willst du denn nicht genau das sein? Jedermanns Liebling. Friede, Freude, Eierkuchen. Darauf stehst du doch, hab ich recht?“ Mit zusammengeknirschten Zähnen hielt Fye den Blick abgewendet. Kuroganes gehässiger Tonfall schnürte ihm die Kehle zu. „Wenn du wüsstest“, murmelte er heiser. „So so, wenn ich wüsste?“, erwiderte sein Mitbewohner hart, „Alles was ich weiß ist, dass du mal wieder ein paar saftige Ohrfeigen nötig hättest, um auf den Boden der Tatsachen zurück zu kommen!“ Der junge Mann schluckte mühsam. Ein bitterer Geschmack erfüllte seinen Mund. „Aber-… aber, warum-…“ „Warum?!“, wiederholte der Killer fassungslos, „Verdammt nochmal, ist dir überhaupt klar, was du in den letzten Tagen alles verbockt hast?!“ Die Worte versetzten Fye einen kleinen, zornigen Stich. Wieso hatte er sich das nicht gleich denken können? Kurogane war noch immer wütend auf ihn, weil er Kinomoto und dessen Kollegen nicht den Zugang zu ihrem Haus verweigert hatte, und jetzt, nach fehlgeschlagener Schweigestrafe, trachtete es ihn offenbar danach, ihn dafür fertig zu machen. „Muss das jetzt unbedingt noch sein, Kurogane?“, erkundigte er sich tonlos, „Glaubst du nicht, dass es für eine Gardinenpredigt jetzt etwas spät ist? Wenn es dir nicht passt, dass ich mich dafür entschieden habe, Kinomoto gewähren zu lassen, hättest du den Mund vielleicht ein wenig eher aufbringen sollen, anstatt mich zwei Tage lang nur anzuglotzen wie ein Auto!“ Die magmaroten Augen verengten sich gefährlich. „Ich an deiner Stelle wäre jetzt sehr vorsichtig, was ich sage.“ „Ach, an deiner Stelle also? Was hätte ich denn dann an deiner Stelle tun sollen?“ „Das fragst du noch?!“, blaffte der Schwarzhaarige, offenbar schien er sich keine Mühe geben zu wollen, sich im Zaum zu halten, „Dieser Kerl taucht einfach mit seinen Hintermännern auf unserer Hausschwelle auf und gibt keine Ruhe, bis er sich bei uns einnisten darf! Hättest du ihn nicht wieder rausschmeißen können?! Jeder andere Mensch mit ein bisschen mehr Grütze im Hirn hätte diese verfluchte Made dorthin geschickt, wo der Pfeffer wächst!!“ Fassungslos starrte Fye sein älteres Gegenüber an. „Sag mal, weißt-… weißt du eigentlich, was du da gerade redest?!“, stieß er wutentbrannt hervor, „Hast du immer noch nicht kapiert, worum es mir geht?! Es geht hier nicht um die Tatsache, dass Kinomoto leitender Kommissar von Kingstonville ist! Das ist völlig irrelevant!“ „ACH JA?!!“ „Ja!! Von mir aus kann Kinomoto ein Bulle, der Weihnachtsmann, Rockefeller oder sonstwer sein, es interessiert mich einen Dreck! Das Entscheidende an der Sache ist, dass Kinomoto Sakura-chans Bruder ist!“ Keine Antwort. Der Gesichtsausdruck des Killers war nicht zu entschlüsseln. Aus irgendeinem Grund reizte Fye das noch mehr. „Du hast es immer noch nicht begriffen, oder? Kannst du dir eigentlich vorstellen, wieviel Sakura-chan bereits wegen des Bruchs mit ihrem Bruder durchmachen musste?! Die beiden haben einen Neuanfang mehr als verdient! Sollen sie ihn jetzt, wo die Chance dafür da ist, etwa nicht haben? Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man noch im Kindesalter seine Familie verliert und allein-…“ Er hatte einen sehr empfindlichen Nerv getroffen. Noch bevor er seinen angefangenen Satz beenden konnte, hatte Kurogane ihn mit beiden Händen am Kragen gepackt und zu sich hochgerissen. „Was sagst du da? Ich hab keine Ahnung?! Ich hab keine Ahnung?!!“, zischte er und versetzte seinem jüngeren Gegenüber einen harten Stoß vor die Brust, sodass dieser mit einem kläglichen Laut nach Luft schnappte, vor Schreck unfähig, sich zu wehren, „Soll ich dir die Fresse polieren?!“ Ohne auf eine Antwort zu warten warf er sein Opfer mit dem Rücken voran gegen die Wand und schloss die Hände um seinen Hals. Die Teller und Tassen tanzten in der Spüle. Fye würgte fassungslos und verkrampfte sich ebenso panisch wie erfolglos gegen den Griff dieser lieblosen Pranken. Eine fleckige Röte stieg in seinen blassen Wangen aufwärts, als er dem vor Wahnsinn brennenden Blick seines Weggefährten begegnete. „K-kuro-…“ Statt einer Erwiderung schlug ihm der Killer ins Gesicht. „Ich hab also keine Ahnung, was?!“, geiferte er und stieß ihn mit dem Hinterkopf voran hart gegen die Wand, „Sag es doch nochmal, ich glaube, ich habe dich nicht ganz verstanden!! Komm schon! SAG ES!!“ In den eisblauen Augen gefror das Entsetzen. „Aber-… er soll-… Kinomoto soll eine-…“ Wieder ein Schlag ins Gesicht. Fester als der Vorhergehende. „Kinomoto soll also eine Chance bekommen?! Und was mit uns?! Was ist mit unserer verdammten Chance?!! Sollen wir etwa schon wieder darauf verzichten, nur damit dieser Idiot seinen Willen bekommt?! Ich will nicht mehr verzichten!! Ich hab mein ganzes Leben lang verzichtet!!“ Fye spürte, wie ihm bei Kuroganes Gebrüll vor Wut die Tränen in die Augen schossen. Egal wie hysterisch er auch strampelte, er entkam seinem Griff nicht. „Wieso willst du immer nur an dich selbst denken?!!“, schrie er verzweifelt zurück, „Warum denkst du nie an die anderen?! Wir müssen Rücksicht auf die anderen nehmen!!“ Der Schmerz explodierte weiß und brennend vor seinen Augen, als ihn ein dritter Hieb ins Gesicht traf. Der metallische Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus. „Wenn wir nicht langsam mal auch auf uns selbst Rücksicht nehmen, sind wir bis Neujahr tot!! Dieser Neurotiker hat doch schon Blut geleckt, als er deinen richtigen Namen rausgekriegt hat, du Nullhirn!!“, brüllte ihn der Killer an, ohne über seine Worte nachzudenken, „Mach ruhig so weiter, vielleicht kriegst du es ja hin, uns allen im Knast Zellen reservieren zu lassen! Ich will bloß wissen, was mich wieder geritten hat, als ich zu euch gekommen bin!! Du hast mir rein gar nichts genutzt!!“ Keine Antwort. Der Blondling erstarrte wie von einem Blitzschlag getroffen. „W-… was…?“, krächzte er schwach. „Sieh einer an, taub bist du auch noch?! Du bist-…“ „… völlig unfähig. Du kannst gar nichts.“ „Manchmal frage ich mich ernstlich, ob du überhaupt zu rationalem Denken fähig bist, junger Mann. Du enttäuschst deine Mutter und mich.“ „Bei deinem Anblick weiß ich nicht, ob ich heulen oder kotzen soll.“ Es begann von vorne. Alles begann von vorne. Angst, kälter als Eis, schloss sein Herz in einen eisernen Würgegriff. „… hier derjenige, der gar nichts begriffen hat“, hörte er wie von weiter Ferne die Stimme des Killers verschwommen an sein Ohr dringen, „Verstehst du nicht, was du getan hast? Du hast uns auf dem Silbertablett serviert. Kinomoto gibt einen Dreck auf diese Chance. Er will mich finden und hinter Gitter bringen. Du hast ihn auf die Spur angesetzt, und jetzt wird er kein Halten kennen, bis er alles ausgebuddelt hat, was ihr über die Jahre hinweg unter den Teppich gekehrt habt.“ Keine Reaktion. Fye stieß einen winzigen, heiseren Kehllaut aus, als sich der quälende Verdacht zur Einsicht verhärtete. Und dann verstand er. Kinomoto würde nicht wie Sakuras Bruder handeln. Er hatte nie beabsichtigt, so zu handeln. Er würde wie der oberste Kommissar von Kingstonville handeln. E würde Shaolan Desmond auf den Hals hetzen, er würde Kurogane entlarven und wegen wiederholten Mordes lebenslänglich verhaften, und ihn würde er in eine Anstalt für Gemeingefährliche stecken lassen, oder ihn auf die Straße werfen. Dorthin, wo er all das zurückgelassen hatte, was er für immer losgeworden zu sein gehofft hatte- und das ihn nun wieder einholen würde. Genau wie letztes Mal. Genau wie jedesmal. „Dieser Moment wird wiederkommen. Du wirst jemanden verlieren, dessen Tod du selbst verschuldet hast, und du wirst nichts dagegen tun können... es ist unvermeidlich, Fye…“ Er hatte ihr Schicksal besiegelt. Sie waren verloren. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu, häh?!“, zischte Kurogane soeben, da der Blondling ihn immer noch nicht ansah, und wollte schon zum nächsten Schlag ausholen- als er plötzlich bemerkte, dass Fye lächelte. Klein. Verwackelt. „Was grinst du mich so-…“ „Ich hasse dich“, wisperte der Blondling leise. Seine Worte stürzten wie Steine in das plötzliche Schweigen. Ja, das war es. So musste es wohl sein. Er mochte Kurogane so sehr, dass er ihn am Ende nur noch hassen konnte, wieso wurde ihm das erst jetzt klar? Anders ging es gar nicht. Es würde niemals anders gehen. Sein Herz hämmerte vor Angst und Schmerz wie besessen gegen seine Rippen, es bebte und schwankte wie ein Gefäß, das jeden Moment zu zersplittern drohte, doch all diese wirren Eindrücke wurden vollkommen von Kuroganes Gesichtszügen überspült, die nur wenige Handspannen über den Seinigen schwebten. Versteinert. Als der Killer nach zwei endlosen Minuten endlich seine Sprache wieder fand, klang seine Stimme seltsam tonlos. „… So ist das also?“ „Ja.“ Wortlos starrte der Kurogane ihn an. Eine Maske starrte zurück. Dieses Lächeln, so klein und windschief, als hätte es ihm irgendjemand auf das Gesicht gemalt. Müde, tränenverschleierte Augen, blau wie das Glas in den Fenstern der Theaterhäuser. „Du bist erbärmlich, Fye“, hörte sich der Schwarzhaarige mit rauer Stimme sagen, „Im Ernst. Du bist ein Witz.“ Dann ließ er ihn ohne ein weiteres Wort los, wandte sich um und ging. Kein Ruf, kein Wort, kein Laut folgte ihm in das belebte Café nach. Seine schweren Schritte verloren sich zwischen dem Geklapper der Tassen und Teller, dem Gelächter der Kinder und den Gesprächen der Erwachsenen. Mit einem Krachen fiel die Tür ins Schloss. Und Fye stand da und weinte. Der Kaffee schmeckte ungewöhnlich scheußlich. Noch scheußlicher als sonst. Und das wollte etwas heißen. Stirnrunzelnd musterte Kodai-sensei die lauwarme, faulholzfarbene Brühe in seiner Tasse. Seit zwanzig Jahren war er jetzt Lehrer an dieser Schule, und, bei Gott – er wusste, was es bedeutete, Schmerzen zu haben. Aber das hier ging zu weit. „Seit wann wurde unserer Abteilung eigentlich der Bohnenkaffee gestrichen?“, erkundigte er sich bei einem vorbeikommenden Kollegen. Wenigstens musste er nicht brüllen, da im Moment Unterricht war, doch bedauerlicherweise kam sein Mitstreiter nicht mehr zum Antworten. Ein großer, schlanker Jemand mit kurzen, kastanienbraunen Haaren fegte wie ein geölter Blitz um die Ecke und rannte ihn schier über den Haufen. „W-… was zum-… ? Li-kun??“ Der Teenager antwortete nicht mehr. Er rannte einfach blindlings weiter- und das nicht ohne Grund, denn kaum, dass er um die Ecke gebogen war, polterte ein zweiter Jemand vorbei, ein großer, hagerer Mann mit einem kantigen, rostrot bestoppelten Gesicht. „Shaolan!! Komm sofort zurück!!“ Wieder keine Antwort. Atemlos schlitterte der Junge um eine weitere Ecke, die ihn einen weiteren Schulkorridor führte. Panisch sah er sich nach einem Unterschlupf um, das Keifen seines Verfolgers in den Ohren. Nur Türen, Türen, nichts als Türen. „SHAOLAN!! Verdammt nochmal, komm endlich her!!“ „Mr.Blake, was soll-…“ „…noch während der Unterrichtszeit, das verbitte ich mir!!“ „Li-kun!! Wieso befinden Sie sich nicht in Ihrem Klassenzimmer?!“ Zähnefletschend ignorierte der Junge das sich stetig nähernde Gebrüll und stürzte sich einfach auf die erste Tür, die sich ihm anbot. Keine zwei Herzschläge später fand er sich auch schon in einem heillosen Chaos aus Eimern, Wischbesen, nach Lysol stinkenden Lappen und Kisten voller Reinigungsmittel wieder. Die Abstellkammer. Sofort ergriff er die sich bietende Gelegenheit beim Schopf, verriegelte die schwere Tür von innen, schob zwei Putzwagen vor und machte sich hinter den Schränken mit den Reinigungsmitteln so klein wie möglich. Gerade noch rechtzeitig, bevor Desmond in Begleitung von Kodai-sensei und dessen Kollegen völlig außer Atem um die Ecke gebogen kam. Er keuchte wie ein sexuell erregter Zuchtbulle und stierte fast ebenso wild aus den Augen, als er direkt neben der Abstellkammer zum Stehen kam und sich nach seinem ungehorsamen Pflegesohn umsah. „Shaolan!!“ Hinter dem Schrank hielt Shaolan angstvoll die Luft an, als ob Desmond seinen Atem wittern konnte, obwohl ihm vor Luftmangel fast das Herz explodierte. „SHAOLAN!! Zum Teufel nochmal, wenn du jetzt nicht auf der Stelle-… !!“ Die einzige Reaktion, die sein Auswurf bewirkte, war ein verächtliches Zähneknirschen. Die Lehrer schienen indessen von Desmonds Erregung etwas überfordert. „Nun beruhigen Sie sich doch, Mr.Blake, ich bitte Sie-…“ „Ich beruhige mich erst, wenn ich diesen verfluchten Taugenichts gefunden habe!“, bellte der Rotbart sofort gereizt zurück, „Und jetzt kommen Sie mir bloß nicht mit der alten Masche von wegen er würde mich anrufen!“ „Ich bin mir aber sicher, dass er das wird!“, versuchte ihn der andere vergeblich zu beschwichtigen, „Erstens ist er ein ehrlicher Junge, und zweitens-…“ „Ehrlicher Junge?!! Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?! Eins kann ich Ihnen versichern, dieser Rotzlöffel ist das punktgenaue Gegenteil von dem, was in Ihren Schulakten steht!! Ich weiß alles über ihn! Alles, kapiert?!“ Shaolan musste die beiden bedauernswerten Lehrkräfte nicht einmal sehen, um ihren Widerwillen spüren zu können, sich mit Desmond unterhalten zu müssen. „Und das wäre, wenn man fragen darf?“ „Ich weiß, dass er zusammen mit Geistesschwachen und Gemeingefährlichen unter einem Dach wohnt! Ich weiß, dass er jeden Tag mit ihnen zusammensteckt! Er lässt sich mit dem Abschaum dieser Gesellschaft ein, und wie Sie sicher wissen, färbt das mit der Zeit ab. Ich will ihn finden, bevor er noch völlig unter diesen Abartigen verlottert.“ Halb unbewusst spürte Shaolan, dass er mit jedem neuen Wort, das sein Pflegevater gegen die Wände bellte, die Fäuste fester ballte, bis sich seine Fingernägel tief in das Fleisch seiner Handflächen gruben. Sein leerer Blick bohrte Löcher in die Wand. Ich hasse dich. Ich hasse dich. Ich hasse dich. Die beiden Lehrer schienen nur schwerlich ihre Sprache wieder zu finden. „Aber-… aber Mr.Blake, wir können Ihnen versichern, dass Li-kun in keinster Weise-…“ „Versichern! Versichern! Darauf gebe ich nichts! Ich will, dass Sie ihn sofort abfangen, wenn Sie ihn das nächste Mal hier sehen, und ihn dann zu mir bringen!!“ „Mr.Blake, hören Sie-… Li-kun ist zwar noch nicht volljährig, aber er hat wie jeder andere Schüler hier ein Recht auf freie Meinungsäußerung, und deswe--…“ „Der Junge leidet unter Realitätsverlust! Er hat wohl geglaubt, er könnte sich mit seinen ulkigen Freunden ein Utopia oder sowas in der Richtung aufbauen!! Es wird so langsam mal Zeit, dass er lernt, wie es wirklich dort draußen in der Welt zugeht!! Und dort tanzen nicht alle glücklich miteinander Ringelreihen!!“ „Mr. Blake! Mäßigen Sie sich doch, um Gotteswillen! Sie haben kein Recht, einfach hier herein zu kommen und alles nach Li-kun umkrempeln zu wollen! Ich-… ich warne Sie! Wir können Sie jederzeit anzeigen!“ Ein unwilliges Knurren. „Hören Sie mir gut zu. Ich werde mich nicht nochmal mit Ausreden abspeisen lassen. Entweder Sie sorgen Sie dafür, dass Sie den Jungen zwischen die Finger bekommen, oder ich werde meinerseits meinen Anwalt hinzuziehen. Und ich glaube nicht, dass das dem Ruf dieser Schule sonderlich gut tun würde.“ Die beiden zögerten. Man konnte die Rädchen hinter ihrer Stirn rotieren hören. „Also-… also schön, wir werden uns darum kümmern.“ „Ich werde Sie beim Wort nehmen.“ „Gern. Aber wenn Sie nun bitte die Liebenswürdigkeit besäßen, das Gebäude zu verlassen? Wir melden uns, sobald wir mit Li-kun gesprochen haben!“ „Das hoffe ich für Sie.“ Schritte, die sich entfernten. Erst von einem, dann von zwei weiteren Paar Füßen. Gequält schloss Shaolan die Augen und ließ sich mit dem Rücken voran gegen die lysolstinkende Wand sinken. Seine Fingernägel in seinen Handflächen schmerzten wie glühende Kohlen. Wieso war er jetzt von seinen Lehrern enttäuscht? Was hätte er denn anderes von ihnen erwarten können? Dass sie ihn in Schutz nahmen, verteidigten, sogar angesichts eines drohenden Prozesses? Eindeutig nein. Lehrer neigten aus Berufsgründen dazu, sich stets vor der größeren Macht zu verneigen, und diese größere Macht war in diesem Fall zweifellos Desmond. Er würde immer die größere Macht sein. Ein plötzliches Piepen ließ den Teenager erschrocken aus seinen Gedanken hochfahren. Es kam aus seiner Hosentasche. Seufzend wühlte er sein antikes Handy aus den Tiefen seiner Jeans empor. „Hallo?“ „Shaolan! Alter! Alles klar bei dir?“ Ganz verbergen konnte der Junge seine Überraschung ja doch nicht. „… Ryo?“ „Erraten, Mann. Und, bist du ihm entwischt?“ „Sonst würde ich jetzt wohl kaum mit dir reden, oder?“ „Okay, okay, ‘tschuldigung, blöde Frage. Ich war nur ’n bisschen überfordert, als du auf dem Weg hierher plötzlich einfach weggerannt bist. Du riechst den Hund wohl schon auf zehn Meilen gegen den Wind, was?“ Shaolan seufzte lautlos. Egal, ob Lehrer ihn anbrüllten, wild gewordene Zootiere das Land verwüsteten oder Killermeteoriten aus dem All einschlugen, Ryo hatte stets einen passenden Spruch auf der Pfanne. Ob das seine Umwelt auch ertrug, stand allerdings auf einem anderen Blatt. „Hör schon auf. Wo bist du überhaupt gerade?“ „Das wollte ich dich gerade fragen, Mann. Ich hab mich gerade aus Französisch losgeeist. Hab gesagt, dir wäre schlecht und ich würde mal nach dir sehen.“ Diesmal seufzte der Teenager wirklich. „Eines Tages werden dich deine ganzen Ausreden noch richtig tief in den Mist reiten, hab ich dir das schon gesagt?“ „Ja, so an die zwanzigtausendmal“, entgegnete Ryo ernsthaft, „Was hätte ich Miss Garfield denn auftischen sollen, die Wahrheit etwa? Die hätte vor Schreck doch höchstens ihre Monatsbinde verloren.“ „Witzbold.“ „Tatsache. Also, jetzt sag schon, wo bist du?“ „In der Abstellkammer neben dem Bio-Fachraum“, erwiderte Shaolan tonlos, „Hör zu,Ryo, du hast einen Monsterärger am Hals, wenn Miss Garfield rausfindet, was wirklich los ist. Du riskierst schon mit diesem Anruf viel zu viel. Geh lieber in den Unterricht zurück, mir-… mir geht’s gut, ich komm schon noch nach.“ Er konnte Ryos Stirnrunzeln fast schon durch die Leitung hindurch sehen. „Aaaahah, klar. Immer nur so weiter Baby, ich steh ja so drauf, wenn du mich anlügst.“ „Mir fehlt aber nichts! Ich mache keine Witze, Ryo!“ „Whooow!! Uh!! Baby!!“ Vollends am Ende seiner Nerven starrte Shaolan die Hörmuschel an. „Hör endlich auf mit dem Quatsch! Warum rufst du überhaupt an?!“ „Mann, weil ich dachte, dass dir was an meiner Gesundheit liegt.“ „Was hat das damit zu tun?“ „Das hat insofern damit zu tun, als dass Sakura mir die Augen auskratzen wird, wenn ich ihr keine guten Neuigkeiten von ihrem Süßen bringe. Sie ist halb krank vor Sorge, und ich Idiot sage noch, klar, Ryo-kun erledigt das, aber du ziehst es ja offenbar vor, hier in der Abstellkammer zu sitzen und Mister Verratzt-und-verraten zu spielen, bis du alt und grau bist. Da werde ich wohl auf meine sexy Pupillen verzichten können…“ Die Suada seines Kumpels endete in einem tiefen Seufzen. „… Und außerdem dachte ich noch, dass wir sowas wie Freunde wären, Mann. Was ist bei euch denn bloß los? Ist jemand in eurer Nachbarschaft gestorben?“ Nun war es wieder an Shaolan, zu seufzen. Herrgott, was sollte er bloß auf solch eine Frage antworten? Dass er sich seit ein paar Tagen wie der letzte Heinz auf Erden fühlte? Dass er Desmond am liebsten irgendwo tief unter der Erde gewusst hätte? Er kam selten bis an den Punkt, an dem er sich wünschte, jemanden tot zu sehen, doch jedesmal, wenn Desmond über Sakura und seine Freunde als ‚Abartige‘ sprach, wusste er, dass dieser Punkt für ihn nicht unerreichbar war. Es musste ein mächtiges Gefühl sein, jemanden umzubringen. Berauschend. Beängstigend. „He! Shaolan!“, rüttelte ihn Ryos Stimme erneut wach, „Erde an Shaolan, bitte kommen! Mann, wenn du nicht darüber reden willst, sag es doch einfach!“ „Das ist nun mal eine verzwickte Geschichte, Ryo“, erwiderte der Junge kraftlos, „Aber fest steht, dass es größtenteils mit Sakuras Bruder zu tun hat…“ „Ihr Bruder? Ist das nicht dieser Superbulle?“ Ryo klang ziemlich baff. Kein Wunder eigentlich, denn Sakura hatte nie sonderlichen Wert darauf gelegt, ihre Streitigkeiten mit Toya vor ihm breit zu treten- er hatte ihre Verwandtschaft lediglich per Zeitung herausgefunden. „Ja. Er ist letzten Sonntag einfach auf der Szene erschienen und hat sich nicht wegbuhen lassen, bis er sich bei uns eingenistet hatte.“ „… Was?! Wohnt der jetzt etwa bei euch?“ „Ja. Mann. Eigentlich habe ich gar nichts gegen ihn, aber-… aber eigentlich würde ich ihn am liebsten umbringen.“ Wie idiotisch sich das anhörte. Himmel, seine Gedanken waren wohl der endgültige Beweis dafür, dass in seinem Leben gerade alles den Bach runterging. „… Na großartig. Und was sagen deine Herren und Damen Mitbewohner dazu?“ „Na was wohl? Sie sind nicht gerade zufrieden mit der Situation.“ Das war noch sehr beschönigt ausgedrückt. Seit sich Sakuras Bruder am vergangenen Sonntagabend kompromisslos bei ihnen eingenistet hatte, waren die Dinge völlig aus dem Ruder gelaufen. Entweder wurde wegen den lächerlichsten Kleinigkeiten stundenlang gestritten, oder man schwieg sich so lange an, bis einem die Stille fast das Hirn zum Sieden brachte. „Verstehe. Wollt ihr dann heute Nacht nochmal bei mir unterschlüpfen?“ Nachdenklich senkte Shaolan den Blick. Es war zwar vielleicht nicht die vernünftigste Entscheidung gewesen, einfach nachts abzuhauen und sich zum Schlafen bei Ryo zu verkriechen – und vor allem war es auch anstrengend, da sein Kumpel ein leidenschaftlicher Hacker war und oft noch bis vier Uhr morgens vor dem Monitor saß – aber vorerst war es wohl die einzige Lösung. „Ich weiß nicht. Vermutlich schon. Wenn wir’s uns noch anders überlegen, rufe ich dich einfach an. Ach, und übrigens würde ich dir empfehlen, für die nächste Zeit mit dem Hacken aufzuhören.“ „Häh? Wieso das denn?“ „Na, wegen Sakuras Bruder. Der gehört dem Typus Blutsauger an. Ich hab so das Gefühl, dass er alles aussaugt, was ihm zu nahe kommt, wenn du verstehst.“ „Ich hatte nicht vor, den City Deposit oder so abzuzocken, Mann.“ „Ja, aber nach der Sache mit den Daten der Schulakten damals…“ „Okay, okay, ich denke dran.“ Sein langjähriger Kumpel seufzte hörbar, was sich über die Leitung anhörte wie ein verstärktes statisches Rauschen. „Mann. Klingt nach einer verdammt üblen Geschichte.“ Shaolan ächzte unterdrückt. Wenn Ryo von ‚verdammt üblen Geschichten‘ sprach, konnte man sich sicher sein, dass einem das Leben gründlich den Mittelfinger gezeigt hatte. „Ihr sollt da nicht auch noch mit reingezogen werden. Wer Desmond zwischen die Griffel gerät, hat schon verspielt. Ich muss ihm nur solange entwischen, bis ich volljährig bin. Dann verliert er sein Recht auf die Wertpapiere meiner Eltern.“ „Das sind noch fast zwei Jahre, Mann.“ „Ich weiß“, erwiderte der Junge kleinlaut. Verdammt. Zwei Jahre konnten so lang sein. Doch wenn er jetzt schon volljährig gewesen wäre, hätte das irgendetwas zu der Gesamtsituation beigetragen? Es schien, als hätte sich die kleine Familie, die sie über zwei Jahre gemeinsam aufgebaut hatten, mit einem Schlag vollkommen entzweit, und Shaolan spürte, wie sehr diese Einsicht nicht nur ihm, sondern auch seiner Freundin zu schaffen machte. Es häuften sich die Momente, da er sich einfach nur die halb vergessenen Tage zurückwünschte, in denen er noch zusammen mit Sakura und Fye ihr Haus eingerichtet, miteinander gelacht und stundenlang halb im Scherz, halb im Ernst über dieses Ding namens Zukunft geredet hatte. Dieses Gefühl war es, diese simple und gleichzeitig so unbändige Freude über das unverhoffte Glück, alles hinter sich zu lassen und noch einmal ganz von vorne anfangen zu dürfen – und das nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen, denen es ebenso dreckig ergangen war wie ihm. All das schien mit einem Mal so fern. „Sorry, Mann“, meinte Ryo bedrückt. „Reg dich ab“, antwortete Shaolan tonlos, „Nur noch zwei Jahre, und Desmond kann baden gehen. Und zwar in dem Alkohol, in dem er sich ersäufen wird.“ „Mann, wer von uns beiden war nochmal der mit den blöden Witzen?“ Gegen seinen Willen spürte Shaolan, wie ihm statt einer Antwort ein verirrtes kleines Lachen aus dem Magen in die Kehle stieg. „Schon gut, die blöden Witze gehen an dich.“ „Verbindlichsten Dank. Ist nur zu deinem Besten, Mann.“ „Ich krieg das schon hin.“ „Also gut, was soll ich deinem Mäuschen dann sagen? Denk an meine Augen, Mann.“ Der Junge überlegte für eine Weile. „Sag… sag ihr, dass alles okay ist.“ „Damit wird sie sich nicht zufrieden geben, und das weißt du auch.“ „Also schön, sag ihr, ich bin ihm entwischt, er hat nichts rausgekriegt, und ich bin gleich wieder da. Und heute Mittag holen wir Claire und Kyle ab.“ „Was, ziehen die etwa auch ein? Was wird das bei euch, ‘ne Kuschelparty?“ „Schön wär’s. Wieviel Geld hast du jetzt eigentlich schon wegtelefoniert?“ „Sechs Dollar. Das kann ich mir aber wieder vom City Deposit zurückzocken.“ „Ryo!!“ „‘tschuldigung, kleiner Scherz am Rande. So zur Auflockerung der Situation.“ Shaolan rollte die Augen, unschlüssig, ob er ächzen oder grinsen sollte. „Weißt du noch, was du sagen musst?“ „Alles okay, du bist entwischt, nichts rausgekommen, du bist gleich wieder da, Vergrößerung der Wohngemeinschaft, winkewinke, Punkt.“ „Geht doch. Dann sehen wir uns später.“ „Alles klar. Ach, und, ehh-… Shaolan?“ „Ja?“ Ryo schien ein wenig unsicher, was er noch sagen wollte. „… Ähm. Bloß nicht emo werden, kapiert?“ Gegen seinen Willen musste der Teenager lächeln. „Okay.“ Es klickte in der Leitung. Nachdenklich verstaute Shaolan das Handy wieder in der Tasche. Doch bevor er abermals in Gedanken versinken konnte, rappelte er sich schnell hoch, klopfte sich den Staub von der Hose und schob schließlich die Putzwagen an ihren alten Platz, bevor er die Tür leise aufzog und sich auf dem Korridor nach allen Seiten umsah. Keine Menschenseele in Sicht. Der Junge schluckte schwer, während er auf den Gang trat und die Tür wieder hinter sich schloss. Vielleicht war es ja so, wie Ryo sagte. Vielleicht war die Angelegenheit mit Desmond wirklich nur halb so wild. Er musste ihm nur noch zwei Jahre lang entkommen, und dann hatte er es geschafft. Vielleicht mussten sie alle nur wieder nach vorne blicken, damit es weitergehen konnte. Und Toya? Sollte er doch bei ihnen rumsitzen und schnüffeln und spionieren, bis er schwarz wurde! Bei ihnen gab es doch nicht einmal etwas, was dieser Neurotiker hätte anprangern können! Diese Gedanken waren es, die Shaolan endgültig beflügelten. Etwas zuversichtlicher gestimmt machte er sich auf den Rückweg ins Klassenzimmer. Ja, wieso hatte er eigentlich nicht gleich daran gedacht? Toya konnte ihnen nichts anhaben, auch wenn er monatelang Trichterohren und Schnüffelnüstern machte. Nicht das Geringste. Sie waren doch keine Mörder oder so. „Das sieht wirklich gut aus.“ „Wenn Sie meinen…“ „Allerdings, ich meine, mein Bester. Da haben Sie ausnahmsweise was richtig gemacht. Ich denke, Sie können im Amt bleiben. Mahlzeit!“ Ohne Zögern wickelte Johansen das stattliche, mit Gurken, Salat, Tomaten und Artischocken belegte Sandwich aus und biss hinein, dass es nur so schnalzte. Yukito seufzte tief und musste sich zusammenreißen, um seinem Chef nicht die ganze Zeit beim Essen auf den Mund zu starren, eine nervöse Angewohnheit, die er schon in seiner frühesten Frischlingszeit als Pathologe angenommen hatte. Sein Hintern fühlte sich seltsam festgefroren an. Naja, war wohl aber auch nicht weiter verwunderlich, wenn sie jetzt schon den halben Mittag auf der Eingangstreppe von Haus Nummer dreiunddreißig herumsaßen und auf einen Hoffnungsschimmer warteten, der sich entweder sehr viel Zeit lassen oder gleich gar nicht kommen würde. „Verzeihen Sie mir meine Direktheit, Johansen, aber ich denke, wir haben im Moment größere Sorgen als unser leibliches Wohl, oder?“, meinte er schließlich. Der hagere Gerichtsmediziner mit dem eisgrauen Backenbart rollte mit den Augen und gab es auf, in Ruhe sein bescheidenes Mittagessen verspeisen zu wollen. „Mussten Sie mich ausgerechnet jetzt daran erinnern? Mit ‚Essen‘ habe ich stets ‚Wohlbefinden‘ assoziiert! Sie haben in den letzten Tagen mehr Weltanschauungen umgekrempelt als Leichen, Tsukishiro!“ „Glauben Sie mir, mit einer Leiche im Haus würde ich mich gleich wohler fühlen“, gab Yukito trocken zurück und fuhr sich lustlos durch das völlig windzerzauste Haar, „Aber dieser Pantoliano hat es ja als sinnvoller erachtet, die Polizei aus der Sache auszuschließen. So langsam funktioniert in dieser Stadt nichts mehr so, wie es eigentlich funktionieren sollte.“ „Nicht nur in dieser Stadt, mein Bester“, erwiderte Johansen gedankenvoll und nickte Richtung Straße. Mit einem unterdrückten Seufzen folgte Yukito seinem Blick. So wie es aussah, würde Toya wohl noch eine ganze Weile länger telefonieren, obwohl er jetzt schon seit über zwei Stunden damit beschäftigt gewesen war, in einem Fort auf dem Bürgersteig vor dem Haus auf- und abzutigern und dabei lautstark mit seinem Handy zu debattieren. Gedankenverloren lauschte der junge Pathologe den Wortfetzen, die der kalte Wind bis zu ihnen an die Hausschwelle herauftrug. „… Doch, natürlich bin ich mir bewusst, dass du-… JA, ich weiß! Sag mal, für wie vernagelt hältst du mich eigentlich?! Natürlich hast du mir schon öfter einen Gefallen getan, aber-… he, jetzt komm mir bloß nicht wieder mit von wegen-…“ Johansen schüttelte nur den Kopf, während Yukito die Stirn runzelte. „Ich wünschte, er würde endlich freiwillig darüber reden.“ „Lassen Sie’s fürs Erste lieber ruhen, wenn Sie als alter Mann sterben wollen“, antwortete sein älteres Gegenüber brüsk, „Der Gute steht auch schon so kurz vor dem Infarkt. So wie ich ihn kenne, hat er die Sache mit seiner Schwester noch am selben Abend wieder bereut.“ Oh ja, und wie er das hatte. Es hatte fast drei Stunden gedauert, ihn von den Akten wegzuzerren und ihn dazu zu überreden, endlich etwas zu Abend zu essen. Wie müde seine Augen ausgesehen hatten. „Naja, er war etwas… ab vom Schuss.“ „Ging’s Ihnen etwa anders?“ „Gute Frage“, gab Yukito nüchtern zurück, „Meine Mutter war nicht gerade erbaut, als ich ihr gesagt habe, dass ich für die nächsten Wochen vom Plan verschwinde.“ „Tja. Meine Frau wollte mich pfählen, aber zum Glück hatte sie ihre Brille gerade nicht auf.“ Die in den Wind gepfiffene Ironie verfehlte ellenlang ihr Ziel, da sein junger Handlanger immer noch geistesabwesend Richtung Straße starrte. „Tsukishiro… lassen Sie ihm einfach die Ruhe, die er braucht, okay? Ich weiß, Sie machen sich Sorgen, aber die macht er sich wohl auch. Die macht sich doch jeder zurzeit… Jesus Maria, wie ich solche Gefühlsgeschichten hasse.“ Yukito gab keine Antwort. Glaubte Toya etwa im Ernst, dass er ihm diese ‚Pflichtbewusster-Gesetzeshüter-Kingstonvilles‘-Masche abnahm? Er hatte doch Augen im Kopf! Als ob er es einfach wegstecken könnte, dass Sakura seit diesem verratzten Sonntagabend fast kein Wort mehr mit ihm sprach! „Aber Sie sehen doch, dass er damit nicht allein klar kommt! Es überfordert ihn!“ Johansen stieß ein tiefes Seufzen aus, bevor er sein Sandwich zur Seite legte und seinen Gehilfen von der Seite musterte. „Wollen Sie wissen, was ich denke? Ich denke nicht, dass es ihn überfordert. Er muss sich einfach nur wieder eingewöhnen.“ Yukito sah seinen Vorgesetzten fragend an. „Woran gewöhnen?“ Der Pathologe hob nachdenklich die Augenbrauen und lehnte sich auf der Treppe zurück, bevor er wieder zu sprechen begann. „Gute Frage. Vielleicht an die Situation, in der wir uns nun befinden. An die Menschen, mit denen wir nun in unmittelbarem Umgang stehen. Ja, vielleicht ist es gerade das. Haben Sie die Leute dieses Stadtteils schon einmal näher beobachtet, Tsukishiro? Dieses-… hmnh, es ist schwer in Worte zu fassen. Wärme trifft es vielleicht. Vertrauen. Auf jeden Fall verstehe ich nicht, warum diese Leute von der Stadtverwaltung als Verrückte und Hippies angesehen werden. Möglicherweise ist es ganz einfach die Art dieser Menschen, mit der wie uns vertraut machen müssen.“ Johansen grinste flüchtig, als er den ungläubigen Gesichtsausdruck des jungen Spundes bemerkte. „Sie wirken überrascht, junger Freund.“ „Allerdings. Ich weiß nicht, was das alles soll. Sie reden, als wären wir böse schwarze Killerfische vom anderen Stern. Wir sind doch auch Menschen!“ Sein Vorgesetzter lächelte müde, ein Gesichtsausdruck, den der Brillenträger bei ihm noch so gut wie nie beobachtet hatte. „Genau daran habe ich zu zweifeln angefangen, seit wir hier sind, Tsukishiro. Jetzt arbeite ich schon seit fast zwanzig Jahren als ‚Pathologe‘ in dieser Stadt. Und heute blicke ich zurück und frage mich, ob ich denn jemals mehr gewesen bin als das. Ich war öfter mit Toten als mit lebendigen Menschen zusammen, und jetzt spüre ich erst die Auswirkungen davon. Wenn man nicht oft genug mit lebendigen Menschen zusammenkommt, werden sie einem fremd.“ „Aber wir kommen doch mit lebendigen Menschen zusammen!“, wandte Yukito stirnrunzelnd ein, der aus dieser seltsamen Nachdenkerei seines Chefs nicht schlau wurde. Dieser schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Waren diese Personen, mit denen wir all die Jahre über zusammenkamen, Menschen? Oder waren sie ‚Kollegen‘, ‚Zeugen‘ und ‚Vorgesetzte‘? Es scheint mir jedenfalls so. Ich kenne kenne Kinomoto bis heute ebenfalls nur als ‚Kommissar Kinomoto‘. Aber wer weiß, vielleicht war es ja auch genau das, was er erreichen wollte- allen fremd zu bleiben.“ „Möglicherweise“, erwiderte sein junger Handlanger bedrückt – wer sollte das besser wissen als er? – , „Aber das ist doch noch kein Grund, einfach-…“ „Ich habe nicht vor, über Kinomoto zu urteilen, falls Sie das denken“, antwortete Johansen ruhig, „Ich habe kein Recht dazu. Denn mal ganz unter uns, sind wir denn besser? Wir sind drei schöne Witzfiguren, wenn Sie mich fragen. Die ulkigen Leutchen, die hier wohnen, sind uns in so mancher Hinsicht um eine ganze Nasenlänge voraus.“ „Vielleicht liegt das ja auch an den Menschen selbst.“ Der Mann mit dem Backenbart lachte gedankenverloren. „Ja… ja, das kann auch sein. Immerhin ist der Homo Sapiens ein ziemlich eigenartiges Wesen, nicht wahr? Immer, wenn man in die Nähe eines Menschen kommt, muss man bereit sein, von ihnen verwirrt zu werden. Sie sind durchwachsen. Sie trauern, genießen und leiden, und vor allem tun sie in einem Fort unlogische Dinge. Über dem ehrgeizigen Ziel, den Mensch und sein Denken systematisch zu zerlegen und zu bändigen, sind schon ganze Generationen von Philosophen verzweifelt. Der Mensch durchschaut seine Existenz auf dieser Welt nicht… fast scheint es, als wäre er sich selbst zu kompliziert. Seltsam, oder?“ Yukito sah den Mann, mit dem er jetzt schon seit fast vier Jahren zusammen arbeitete, schief von der Seite an. „Sie sind seltsam, Johansen.“ „Und das fällt Ihnen erst jetzt auf?“, gab der Pathologe mit einem sarkastischen Stirnrunzeln zurück. Yukito lächelte nur gedankenverloren. Wenn jetzt auch schon Johansen damit anfing, kritisch über sich selbst und sein Tun nachzudenken, konnte das nur bedeuten, dass-… ja, dass möglicherweise irgendwas mit ihnen allen vor sich ging. Der Stein war losgetreten. Toyas Rückkehr beendete seinen Gedankengang. „Ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht für euch“, erklärte er stirnrunzelnd und schob sein Handy zurück in die Tasche an seinem Gürtel, „Welche wollt ihr zuerst hören?“ „Die gute“, entschied Yukito ohne Umschweife. „Also schön. Wir haben ein paar Verbündete in unserer Angelegenheit gefunden.“ „Herrje, wie haben Sie das bloß geschafft, um Himmels willen?“, erkundigte sich Johansen in gespieltem Unglauben, „Haben Sie Ihren langen Arm des Gesetzes durch die Leitung geschoben und Ihren armen Gesprächspartner mit Ihrer Kanone bedroht?“ „Lassen Sie den Quatsch, Johansen“, knurrte Toya unwillig, während er sich neben seinen beiden Leidensgenossen auf der kalten Eingangstreppe niederließ, „Ich habe soeben Arashi angerufen, und-…“ „Arashi?!“, japste der Pathologe entgeistert, „Etwa diese Arashi?! Arashi Kishu?! Sagen Sie mal, geht’s Ihnen noch gut?! Wie sollte uns diese überdrehte Action-Barbie schon helfen können?! Sie schafft es doch nicht einmal, pünktlich zur Arbeit zu kommen, bei diesem Kleinkind von Ehemann, den sie-…“ „Ja, genau diese Arashi Kishu“, unterbrach Toya entschieden den entgeisterten Auswurf seines unfreiwilligen Kollegen, „Sie ist verlässlich, hat präzise Methoden, und darüber hinaus sind Ehemänner mit einem Hang zur Infantilität doch nichts Ungewöhnliches, finden Sie nicht?“ „Herrgott, Sie und Ihre subtilen Komplimente“, murrte Johansen, „Mal ganz unter uns, Sie sind ein partieller Oberarsch.“ „Tja. Aber eben nur partiell. Und weil der andere Part ein kluges Köpfchen ist, haben wir jetzt zumindest schonmal Arashis Unterstützung zugesichert bekommen. Sie holt auch noch ein paar andere Jungs ran. Mit ein bisschen Glück haben wir schon bald eine vollständige Observationstruppe beisammen.“ “Du meinst also, dass sie sich in unserer Sache umhorcht und Meldung macht, wenn sich irgendetwas tun sollte?”, hakte Yukito nach. „Exakt“, bestätigte Toya und nickte, „Damit stehen unsere Chancen bereits ein wenig besser als zuvor. Bisher ist uns der Mörder jedesmal zuvorgekommen, demnächst kann er sich das abschminken.“ „Ist die Wahrscheinlichkeit auf ein nächstes Opfer denn groß?“ „Sagen wir so, die Tendenz steht ja doch ziemlich hoch, bei der Blutspur, die dieser Irre in Kingstonville hinterlassen hat“, konstatierte Johansen. „Wenn es einen nächsten Mord geben wird, sind wir besser vorbereitet als die letzten Male“, fügte Toya hinzu, „Arashi macht sich daran, alle Superreichen, Gewerkschaftschefs und Aktionäre dieser Stadt ausfindig zu machen und sie überwachen zu lassen. Natürlich nur undercover, wir wollen schließlich nicht unnötig auf uns aufmerksam machen.“ Sein bebrillter Freund hob die Augenbrauen. „Glaubst du wirklich, du kommst damit durch, ohne dass Fullright was spitzkriegt? Der hat seine Augen und Ohren doch mittlerweile überall!“ Der Kommissar stieß ein resigniertes Seufzen aus. „Genau das ist ja die schlechte Nachricht. Justin hat mir heute den nächsten Ermittlungsschritt des Dezernats auf dem Silbertablett serviert. Die Aufklärungseinheit des Polizeipräsidiums steht im Begriff, aufgelöst zu werden.“ „Was?!“, stießen Johansen und Yukito unisono hervor, „Wieso aufgelöst?“ Die dunkelblauen Augen des jungen Mannes verengten sich. „Fünf kleine Worte: das Präsidium ist am Ende. Die offizielle Meldung ist zwar noch nicht draußen, aber Justin und dieser Joshua O’Connor haben bereits per Telefon Verhandlungen darüber geführt, wie und wann die Männer der Aufklärungseinheit in die Dezernatstruppen eingewiesen werden sollen.“ „Was? Hast du das Gespräch etwa abgehört? Heimlich?!“ „Jepp.“ Mit einem Stöhnen vergrub Yukito das Gesicht in den Händen, während Johansens Augenbrauen in seinem Unglauben beinahe mit seinem Haaransatz zusammentrafen. „Moment, das ist nicht Ihr Ernst, oder? Das würde dann ja heißen, dass das gesamte Personal der Aufklärungseinheit einfach zu diesen Kalaschnikov-Fuzzis im Dezernat gesteckt wird!“ „Genau das heißt es. Das Präsidium wird bereits nach den Weihnachtsfeiertagen nur noch aus Verkehrs- und Überwachungspolizei bestehen.“ „Aber dann wirst du ja auch deinen Posten verlieren!“, rief Yukito empört, „Was soll diese Nummer wieder? Was denkt sich Pantoliano bloß dabei?“ „Vermutlich gar nichts“, erwiderte Toya geringschätzig, „In drei Tagen sind Fullright und ich keine Kommissare mehr, sondern ‚führende Einsatzleiter‘. Eins kann ich euch sagen, etwas in diesem Dezernat stinkt, dass die Englein vom Himmel fallen.“ „Mein Lieber, ich denke viel eher, dass Ihre Aversion gegen Giuseppe Pantoliano da die Hauptrolle spielt.“ „Das hat nichts mehr mit Aversion zu tun, Johansen!“, gab der Kommissar gereizt zurück, „Benutzen Sie einfach mal Ihren Verstand! Alle Fäden, wir bisher zurückverfolgt haben- Yamazawa, Navras, die Delnattes, Grant, Laroche- alle diese Fäden enden im Dezernat! Jedes einzelne der bisherigen Opfer hatte entweder Geld wie Heu oder genügend Einfluss, dass jeder halbwegs gebildete Bürger in dieser Stadt seinen Namen kannte, und dazu hatten alle Opfer bereits in irgendeiner Weise mit dem Dezernat zu tun – zum Beispiel gemeinsame Aktienanteile oder den gleichen Lieferanten der Sicherheitsanlagen! Alles liegt parallel! Wenn nicht alles völliger Käse ist, was wir bisher an Fakten auf dem Tisch haben, lautet mein Spontanvorschlag, dass Pantoliano irgendwo in seinem stillen Kämmerlein sitzt und ein Faulei der Extraklasse ausbrütet!“ Yukito und Johansen starrten Toya an. Seine Spontanvorschläge trafen meistens ins Schwarze. „Und, ähh… und was unternehmen wir?“, wagte der bebrillte Pathologengehilfe zu fragen, nachdem sein Leidensgenosse wieder zu Atem gekommen war, „Ich meine, jetzt?“ „Wir stürzen uns geradewegs in den Misthaufen“, lautete die simple Antwort. „Klingt nett. Und was wäre das im Klartext?“, erkundigte sich Johansen. Der Kommissar sah sich kurz auf der Straße um, als fürchte er etwaige ungewünschte Mithörer, bevor er mit gesenkter Stimme wieder zu sprechen begann. „Also schön, hört zu. Wir unternehmen folgendes. Yukito, du knöpfst dir noch einmal in allen Details die Akten über die Verstorbenen vor, die wir bisher haben. Kau alles nochmal durch, überprüfe die Ergebnisse der Obduktionen, nimm die Fotos vom Tatort zur Hilfe, lass nichts aus, okay?“ „Okay.“ „Arashi weiß bereits, was sie zu tun hat. Sie überwacht mit ihren Leuten die Personen, die als nächstes Opfer in Frage kommen könnten. Sie, Johansen, sichern in den nächsten Tagen noch so viele Unterlagen wie möglich, bevor die Aufklärungsabteilung ihre Archive schließt. Ihre Stimme hat bei diesen Korinthenkackern, die das Archiv verwalten, sowieso mehr Gewicht als die Meine.“ „Müsste sich einrichten lassen“, willigte der Pathologe ein, „Und was werden Sie tun, Mister Jack Bauer? Sonst bleiben Sie am Ende noch ohne Beschäftigung.“ „Die habe ich bereits – ich werde Justins Telefone anzapfen. Sein Bürotelefon hab ich schon drangekriegt, das dürfte bei seinen übrigen Anlagen kaum schwerer werden.“ Yukito stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus. „Toya, muss das denn-…“ „Ja, das muss sein! Keine Widerrede!“ „Schon guuut, schon guuut…“ „Vielleicht könnte es sich auch lohnen, wenn wir uns mit diesem galligen schwarzhaarigen Kerlchen unterhalten“, fügte Johansen hinzu, „Dieser… na, wie heißt er doch gleich…“ „Kurogane?“ „Ja, genau. Fye-san, hat mir erzählt, dass der ebenfalls dort arbeiten würde. Da ließe sich sicher noch einiges an Informationen gutschreiben.“ „Das werde ich ebenfalls erledigen“, sagte Toya sofort, „Mit diesem wandelnden Herzinfarkt hab ich sowieso noch eine Rechnung offen.“ „Ich weiß, dass Sie keine Ratschläge von mir annehmen, Kinomoto, aber ich an Ihrer Stelle würde da lieber mit Fingerspitzengefühl rangehen“, erklärte der alteingesessene Pathologe mit kritisch gehobenen Augenbrauen, „Ich will ja nicht behaupten, ein begnadeter Verhaltensforscher zu sein, aber ich glaube, vor zwei Tagen hätte der Kerl Sie am liebsten umgebracht.“ „Das hat auf Gegenseitigkeit beruht. Mir einfach meine Schwester wegnehmen zu wollen!“ „Hör endlich auf damit, Toya“, sagte Yukito müde, „Lass es einmal gut sein, okay? Du hast selbst gesagt, dass du jetzt, wo wir schon einmal das Glück haben, hier bleiben zu dürfen, nicht mehr so daherreden wirst.“ „Ich rede daher, wie ich es für angebracht halte!“, erwiderte der Kommissar heftig. „Wir sollten nicht noch mehr Unfriede in dieses Viertel bringen, findest du nicht auch?“, erwiderte sein langjähriger Freund ruhig, „Seit wir hier sind, ist es als wäre eine Bombe eingeschlagen. Sakura-chan hat vielleicht auch ein paar Fehler gemacht, aber sie ist doch auch schon so völlig durcheinander. Und damit ist sie sicher nicht die einzige.“ Das wirkte. Wie ein Speisekarpfen mit Schluckauf klappte der junge Kommissar den Mund zu und schwieg. Johansen runzelte die Stirn. Offenbar sah er seine Theorie auf das Vollste bestätigt. „Sehen Sie’s so“, meinte er nach einer Weile achselzuckend, „Immerhin können Sie demnächst mit ihr darüber reden.“ „Häh? Wieso demnächst?“ Der Pathologe nickte in Richtung Straße. „Weil Sie gerade um die Ecke gebogen kommt.“ Wie auf Knopfdruck wirbelte Toya herum und stierte in Richtung Bürgersteig, wo gerade tatsächlich seine Schwester mit ihrem Freund, dem Bengel, den Gehweg hochgeschlendert kam. Sie beide hatten ihre Schultaschen auf dem Rücken und trugen jeweils noch zwei große weiße Rucksäcke. Zwischen ihnen ging eine kleine, zierlich wirkende junge Frau mit langen rotblonden Locken, die ein ebenfalls weißes, dick eingepacktes Bündel auf den Armen trug. Alle drei waren in ein Gespräch vertieft. „Ah, das wird wohl Claire Leeds sein“, bemerkte Yukito, bevor er seine Brille einem erneuten gründlichen Putzgang unterzog, „Sakura-chan hat mir erzählt, dass sie zwei Häuser weiter wohnt. Sie hat kürzlich ein Baby bekommen und zieht jetzt auch hier ein.“ „Das hat sie dir erzählt?“ Sein bebrillter Freund lächelte ihm fröhlich zu. „Na hör mal, immerhin sind wir jetzt sowas wie eine Hausgemeinschaft! Hey, wie wär’s, wenn du schon mal vorgehst und die drei in Empfang nimmst? Miss Leeds freut sich sicher, dich kennen zu lernen!“ Toya glotzte ihn an wie das Ei des Kolumbus. „… Meinst du?“ „Natürlich, wieso auch nicht? Und Sakura-chan und Shaolan-kun werden es dir sicher auch nicht übel nehmen, wenn du ihnen ein paar von diesen Taschen abnimmst! Na, worauf wartest du? Nun geh schon!“ Mit diesen Worten versetzte er seinem Kumpel einen gut gezielten Stoß in den Rücken, sodass er mit einem erstickten Aufjapsen geradewegs die Treppe bis zum Gartentor hinuntertaumelte – eine Position, von der die drei ihn nicht übersehen konnten. Johansen grinste, als er diesen so köstlich seltenen Ausdruck heilloser Verwirrung auf Toyas Gesicht gewahrte. „Das nenne ich mal ein Husarenstück, Tsukishiro.“ „Was denn?“, gab sein junger Handlanger leichthin zur Antwort, „Ich wollte ihm nur eine Gelegenheit geben!“ „Gelegenheit wofür?“ Yukito legte nur den Kopf schief und sah mit einem kleinen Lächeln Richtung Straße. Sakura winkte. Und ehe man sich versah, hatte Toya auch schon das niedrige Gartentörchen aufgestoßen und trat auf die Straße, um ihnen entgegenzukommen. „Zum Gewöhnen.“ Später Abend. Die bleiche Wintersonne hatte sich bereits vor etlichen Stunden restlos verabschiedet und einem wolkenlosen, sternenbesprenkelten Nachthimmel Platz gemacht. Auf der Serpentinenstraße, die zum Hippieviertel hinaufführte, war das in der Rush Hour übliche Verkehrschaos Kingstonvilles in der Ferne nur als abgedämpftes, dissonantes Rauschen zu vernehmen. Gedankenverloren lenkte Kurogane seinen Wagen den Hang hoch und nahm die letzte Steigung, die ihn noch von der Beethovenstraße trennte. Zeit war wirklich eine paradoxe Angelegenheit. In einem Moment hatte er das Rathaus betreten und sinnlose Formulare ausgefüllt, im nächsten saß er plötzlich in einer Versicherungsfiliale und unterschrieb einen Kontrakt zur Überweisung des zu erstattenden Schadensersatzes, im übernächsten lungerte er tatenlos in irgendeiner verrauchten Kneipe am Johannesplatz herum und vergällte sich mit irgendeinem billigen Fusel schier den Magen – und jedesmal, wenn er einen Blick auf seine Handuhr geworfen hatte, war der Stundenzeiger schon wieder um ein Millimeterchen voran gekrochen. Immer weiter Richtung Abend. Der Magen des Schwarzhaarigen fühlte sich an wie Blei, als er in der Dunkelheit allmählich Haus Nummer dreiunddreißig näherrücken sah. Was zum Henker tat er hier eigentlich? Er hätte sich genausogut irgendwo absetzen können, zum Beispiel im nächstbesten billigen Truckstop außerhalb der Stadtgrenze, den billigsten Gin trinken, den es für Sodbrandfreunde zu kippen gab, den beißenden Zigarettenqualm der anderen Nachtschwärmer einatmen, und nichts denken, nichts. Wäre das nicht hundertmal leichter gewesen, statt diesem verfluchten Ding nachzugeben, das sich ‚Gewissen‘ schimpfte und zum verlassenen Kriegsschauplatz zurück geschlichen zu kommen wie ein geprügelter Hund? Ein Teil von ihm schien zumindest davon auszugehen. Dieser Teil war es auch, der nicht einmal sonderlich überrascht gewesen war, als Kinomoto bei ihnen eingefallen war – wäre eine gemeinsame Zukunft für sie alle denn überhaupt möglich gewesen, selbst wenn dieser paranoide Kommissar nie bei ihnen auf der Schwelle erschienen wäre? Er bezweifelte es. Die Grenzen dieser Viererkiste, in der sie sich allesamt verschanzt hatten, waren für seinen Geschmack viel zu eng gezogen. Wenn mehrere Menschen, die so von Grund auf verschieden waren wie sie, für längere Zeit in ein und demselben Haus wohnten, war es stets nur eine Frage der Zeit, bis es zu Konflikten kam – egal ob mit oder ohne Einfluss von außen. Die langen Jahre der Ausbildung in den Kadettenlagern hatten ihn diese Erfahrung mehr als einmal gelehrt. Hinzu kam das, was jeder einzelne von ihnen bereits durchgemacht hatte. Es hatte Tage gegeben, in denen ihm dieses unscheinbare Häuschen in dieser noch unscheinbareren Straße wie eine einzige Mistgrube vorgekommen war. Eine Mistgrube, in der so viele Dinge verscharrt und beerdigt lagen, dass man lieber erst gar nicht zu graben anfing, aus Skepsis, was da alles zum Vorschein kommen mochte. Und jetzt hatten sie sich einen Mann ins Haus geholt, dessen größte Leidenschaft es offenbar war, in solchen Mistgruben herumzuwühlen. Hätte Sakura ihn nicht mit ihrem gefühlsschwachen Herumgeheule abgebremst, so hätte er Kinomoto und seine lächerlichen Hilfswichtel noch am selben Abend umgebracht, auch wenn er nicht verstand, warum ihn angesichts von Kinomotos plötzlicher Präsenz solch eine Wut überkommen hatte – solch ein Verhalten war nicht nur unprofessionell, sondern konnte einen auch noch Kopf, Hut und Kragen kosten, wenn man sich in seiner Branche das tägliche Brot verdiente. Und doch glaubte er den Grund zu kennen, denn der andere Teil in ihm fragte ganz einfach nur nach dem Warum. In diesem verlausten, heruntergekommenen Stadtviertel voller verkorkster Individualisten hatte sich ihm etwas geöffnet. Eine Chance. Eine Chance, sich wieder aufzurappeln, seine Knochen einzusammeln und nochmal neu in den Boxring zu steigen, den andere Leute ‚Leben‘ nannten… Er hatte Ruhe gefunden. Hier. Doch jetzt, wo Kinomoto und seine Spießgesellen hier aufgetaucht waren, schienen all diese Dinge zur schieren Sinnlosigkeit verkommen zu sein – die Ruhe war verschwunden, zerstoben die müde Illusion von einem neuen, vielleicht ein bisschen besseren Platz inmitten dieser chaotischen Welt. Warum macht ihr alles kaputt? Mit einem unterdrückten Seufzen schob der Schwarzhaarige seine Gedanken zur Seite. Es würde nichts bringen, sich unnötig den Kopf darüber zu zerbrechen, allenfalls würde er eine weitere schlaflose Nacht verbringen, und deren hatte er in letzter Zeit wahrlich schon genug gehabt. Fürs erste würde es wohl das Beste sein, wenn er die Sache mit Kinomoto so weit wie möglich bereinigte, sein Katana versteckte und sich dann bei Fye für den Krach am Vormittag entschuldigte. Ein kleiner, bohrender Schmerz meldete sich in seiner Magengrube, als er an den Blondling dachte. Herrgott, wieso hatte er sich nicht ein einziges Mal beherrschen können… So langsam fragte er sich, ob er sich Sorgen um seine Gefühlschemie machen musste, wenn er Fye mit der Absicht eines Gesprächs aufsuchte und ihm keine zwei Minuten später fast die Zähne in den Hals schlug. Darüber hinaus war er mit der impulsiven Art des Blondschopfs schon vertraut genug, um bezüglich seines jetzigen Zustandes eine ganze Diashow der schlimmsten Vorahnungen vor seinem inneren Auge ablaufen zu sehen. Was, wenn sich der Blondschopf womöglich etwas angetan hatte? Pulsadern aufschlitzen, Schlaftabletten nehmen, sich erhängen, den Kopf unter Wasser halten, aus dem Fenster springen, es gab doch so verdammt viele Möglichkeiten, viel zuviele Möglichkeiten… Fast hatte der Schwarzhaarige es eilig, den Wagen in die Einfahrt vor Haus Nummer dreiunddreißig zu lenken und den Motor abzustellen. Hastig warf er die Autotür zu, schloss ab, wollte sich umwenden, um die Treppen zum Eingang hochzupoltern, schnell, schnell, schnell musste es gehen, doch mitten auf seinem Weg erhaschte er plötzlich etwas aus dem Augenwinkel. Etwas Dürres, Windzerzaustes. Auf der Veranda. Mit einem tiefen Seufzen blieb der Killer stehen und blickte zum Haus empor. Es war Fye. Regungslos wie eine Statue stand der Blondling auf der kleinen Parterreterasse, die zum Seiteneingang der Küche führte, und starrte durch das geschlossene Fenster nach drinnen. Warmer, freundlicher Lichterschein drang aus der Wohnung durch die kalte Glasscheibe und warf einen weichen Glanz auf seine blassen, fein geschnittenen Züge. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu entschlüsseln. Ein elendes Gefühl kroch Kuroganes Magengrube empor, als er lautlos die Treppe zum Hauseingang hinaufstieg, die schmale Holztür der Veranda aufschob und schließlich neben seinem Mitbewohner zum Stehen kam. Ruhig verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und wartete. Nach einem langen Schweigen ließ er seinen Blick langsam, fast vorsichtig zur Seite wandern und suchte den seines jüngeren Weggefährten. „Fye?“ Keine Antwort. Der Ausdruck der eisblauen Augen blieb so teilnahmslos wie zuvor. Kurogane seufzte. „Fye…“ Keine Antwort. „… Hör zu, es tut mir leid. Dieser Streit heute Morgen, das-… ich hätte mich nicht so aufregen sollen. Es war falsch, wegen dieser Geschichte mit Kinomoto gleich so durchzudrehen. Ich war unfair dir gegenüber. Und schlagen wollte ich dich auch nicht“, fügte er leise hinzu und wagte es, dem Blonden behutsam eine Hand auf die Schulter zu legen und diese leicht zu drücken, „Es tut mir leid, hast du gehört?“ Keine Antwort. Unter seinen Fingern jedoch zuckte es. Wie schlank sich seine Schulter anfühlte. Fast zerbrechlich. Dieser junge Mann irritierte ihn. Er verunsicherte ihn mit dieser unbewussten Zartheit, diesem Feinen, Freien, das er überall an sich und in sich trug. In seinen Gesichtszügen, seinen Augen, Worten, Gesten. Es verwirrte ihn zutiefst. „… Sieh nur.“ Ein Flüstern, leiser als ein Hauch, ließ den Killer unvermutet aufmerken. Ein wenig skeptisch sah er seinen Mitbewohner von der Seite an, doch er tat wie ihm geheißen und warf einen Blick durch das Fenster. In der Küche war es vollkommen dunkel, doch auf dem Korridor dahinter war Licht, und auf diese Weise konnte der Schwarzhaarige einen kleinen Teil des Wohnzimmer sehen – die Wanduhr, die rechte Seite des großen Schranks und das Sofa. Und auf diesem Sofa saß Claire. Sie hielt Kyle im Arm und wiegte ihn sanft von einer Seite zur anderen. Sie schien ihm etwas vorzusingen oder zu erzählen, denn ihre Lippen bewegten sich. Neben ihr saßen Sakura und Shaolan, die ihre Ferienaufgaben über den gesamten Fernsehtisch ausgebreitet hatten, und sahen ihr dabei zu. Und neben dem Sofa stand-… Kurogane spürte, wie seine Augenbrauen fast augenblicklich ungläubig in die Höhe schnellten. Kaum zu glauben, es war tatsächlich dieser verfluchte Kinomoto. Er hielt eine Tasse mit dampfendem Tee in der rechten Hand und war ebenfalls damit beschäftigt, Claires Bemühungen Aufmerksamkeit zu zollen. Niemand brüllte. Niemand versuchte, irgendwen irgendwohin zu zerren. Kein Streit. Keine Debatten. Gar nichts. „Ist das nicht wunderbar?“, wisperte Fye unvermutet mit einem kleinen, traumverlorenen Lächeln auf den Lippen, jedoch ohne seinen Blick abzuwenden, „Ich freue mich für sie. Sie sehen alle so glücklich aus, findest du nicht auch?“ Kurogane sah ihn ruhig an. „Wieso gehst du dann nicht dorthin, wo alle sind?“ Endlich wandte ihm der Blondling das Gesicht zu und sah ihm in die Augen. „Es geht nicht.“ „Warum geht das nicht?“, fragte er leise und ließ seine Hand auf der Schulter des jungen Mannes liegen, um ein Ausweichen von seiner Seite zu verhindern. In den eisblauen Iriden flackerte es jäh auf. „Ich,-… ich bin nicht wie sie.“ Seine Stimme war von einem käferkleinen, gequälten Zittern erfüllt, unterschwellig und dennoch bemerkbar, wie ein See, dessen Oberfläche sich unter einem kalten Windstoß zu kräuseln begann. Befremdet spürte Kurogane, wie sich etwas in ihm als Reaktion darauf schmerzhaft zusammenzog. „Wie kommt das?“, erkundigte er sich ruhig. „Ist es dir denn noch nie aufgefallen?“, fragte Fye nur tonlos zurück, „Schon seit dem Tag, an dem ich Shaolan-kun und Sakura-chan kennengelernt habe, wusste ich, da ist irgendetwas, das uns voneinander unterscheidet. Weißt du, ich-… ich habe die beiden sehr gern. Wir verbringen unser Leben zusammen. Wir haben uns gemeinsam all das aufgebaut, was du hier siehst.“ Er senkte müde den Blick, ehe er fortfuhr. „Aber ich fühle mich nicht verbunden zu ihnen. Sie sind mir heute noch genauso fremd wie damals. Und sie werden mir immer fremd bleiben. Denn für die zwei besteht noch Hoffnung.“ Fast glaubte der Killer spüren zu können, wie sehr es den Blondling bei diesen Worten in der Kehle würgte. Das Etwas in seiner Brust krampfte sich schmerzhaft zusammen. „Was sagst du da?“, hörte er sich heiser fragen. Fast gelang es ihm nicht, den Blick seines jüngeren Mitbewohners zu erwidern, ohne sofort wegsehen zu müssen. Wieviel Schmerz konnte in einem Paar Augen Platz finden? „Hoffnung, Kurogane. Es ist die Hoffnung, die uns voneinander trennt. Sie alle – Sakura-chan, Shaolan-kun, ihr Bruder und seine Freunde – sie alle sind noch von dieser Welt. Sie haben noch etwas, etwas das sie packen können, wenn alles um sie herum schwarz wird. Ein letztes Streichholz. Und ihr Leben hat ein Morgen, eine Zukunft. Verstehst du? Wenn sie sich nachts zum schlafen hinlegen, müssen sie keine Angst vor dem Aufwachen haben…“ Die Lippen des jungen Mannes hoben sich kaum merklich zu einem schwachen, verrutschten Lächeln an. „… Und es gibt Momente, da hasse ich sie dafür.“ Stille. Trotz seines Vorsatzes, Ruhe zu bewahren, konnte Kurogane spüren, wie er Fye anstarrte. „Sieh mich nicht so an!“, stieß dieser verzweifelt hervor und wandte sich hastig von seinem Mitbewohner ab, als wären dessen Blicke Nadelstiche auf seiner Haut, „Ich weiß selbst, dass ich nicht so reden sollte, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben! Ich weiß, wie hirnverbrannt das klingt! Du hältst mich jetzt für einen Abartigen, stimmt’s? Du denkst, ich wäre verrückt! Du musst das doch denken, so wie ich mich die ganze Zeit über benehme, ich-…“ Mitten in seinem Ausbruch brach er plötzlich ab und starrte seine Hände an. In den diffusen Schatten des Mondlichts wirkten sie seltsam fahl. Seine Augen schienen wächsern wie die eines Toten. „… Aber wer weiß, vielleicht bin ich es ja auch“, wisperte er nach einem langen, bleischweren Schweigen, seine Stimme kaum mehr als ein tonloses Beben. Als er den Blick wieder hob, schien er durch seinen Mitbewohner hindurch zu starren, als würde er ihn gar nicht wahrnehmen. „Vielleicht bin ich ja wirklich verrückt. Immerhin haben das die Ärzte gesagt. Und die Polizisten. Und was Ärzte und Polizisten sagen, stimmt immer.“ „Fye-…“, fing Kurogane an und wollte ihm erneut eine Hand auf die Schulter legen, doch der Blonde wehrte ab und fuhr wütend zu ihm herum. In seinen Augen loderte der Wahnsinn auf kleiner, kalter Flamme. „Sei still!“, zischte er und stieß seine Hand von sich, „Das alles ist so ungerecht, verstehst du das nicht?! Wo haben die beiden bloß dieses verdammte Glück her?! Was haben sie gemacht, damit sie so arglos geblieben sind, damit man sie in Ruhe leben lässt?! Ist das bei ihnen bloß so, weil sie noch Kinder sind?!“ Tränen glänzten in den leblosen hellblauen Augen auf, und bereits im nächsten Augenblick verkrallten sich seine Hände auch schon in die Ärmel von Kuroganes Mantel, bohrten, zerrten und gruben sich schmerzhaft tief darin fest. „Wieso kann ich nicht ein einziges Mal auch Glück haben?!“, schluchzte er und stemmte seinen Kopf so fest gegen die Brust seines älteren Gegenübers, dass er dessen Herzschlag an seiner Stirn spüren konnte, „In meinem Leben ist alles schiefgelaufen, ich habe alle, die mir nahestanden, entweder selbst getötet oder sie sterben lassen, und alle, von denen ich wollte, dass sie sterben, sind am Leben geblieben!! Sie sind in mir drin und gehen nicht aus mir raus, sie reden in meinem Kopf, am Tag und in der Nacht, und ich schaffe es einfach nicht, sie zu--…“ Mit einem hilflosen Aufjapsen hielt er jäh in seinem Auswurf inne, als er von dem Schwarzhaarigen hart bei den Schultern gepackt und sein Kopf nach oben gerissen wurde, sodass sich ihre Blicke begegneten. Wie ruhig diese magmaroten Augen ihm auf einmal zu sein schienen, wie ruhig. Wie warm. „Genau deswegen kann ich nicht an Gott glauben“, stieß er kläglich hervor, indes die Tränen weiter unerbittlich seine Wangen hinabrollten, „Chi hat immer gesagt, Gott sei voller Gnade und Gerechtigkeit! Aber-… aber wie grausam muss ein Gott nur sein, wenn er einem Menschen ein Schicksal wie das Meine mit auf den Weg gibt? Wo ist da die Gnade, von der sie jeden Tag geredet hat, und wo ist die Gerechtigkeit? Wie könnte ich noch an Gott glauben, wenn er mir immer nur seine Grausamkeit vor Augen geführt hat, und nie seine Gnade und Gerechtigkeit?! Wieso hilft Gott mir nicht endlich, wenn er so gnädig und gerecht ist?!!“ „Ist das alles, was du dir jemals von einem Glauben an Gott versprochen hast? Dass er dir Gnade und Gerechtigkeit gibt und sich dadurch alles in deinem Leben mit einem Schlag zum Besseren wenden würde?“, fragte Kurogane lediglich zurück. Als wieder keine Antwort kam und der blonde junge Mann ihn nur anstarrte, als hätte er ihm soeben ins Gesicht gespuckt, seufzte er unterdrückt und legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Hör nun gut zu, was ich dir sage, Fye“, sagte er ernst, „Ich bin weder ein aufrichtiger noch ein besonders kluger Mensch. Das weißt du ebenso gut wie ich. Aber wenn es etwas gibt, das ich mit Sicherheit weiß, dann ist es die Tatsache, dass du nicht der einzige Mensch bist, der eine solche oder eine ähnliche Bürde zu tragen hat, wie sie dir auferlegt ist. Jedem einzelnen Menschen auf diesem Planeten ist irgendwann einmal in irgendeiner Hinsicht Ungerechtigkeit, Willkür, Grausamkeit oder Schmerz widerfahren. Der Mensch besitzt schon seit er selbst denken kann den Drang, alles zu kontrollieren und zu überblicken, und es gibt heute kaum mehr etwas, das nicht von ihm beherrscht wird. Aber er kann trotz allem weder Glück noch Unglück vollkommen aus seinem Leben ausschließen, weil dies Dinge sind, die einfach nicht in unserer Hand liegen. Ob sie stattdessen in der Hand von Gott oder einer anderen höheren Gewalt liegen, können wir nicht wissen. Aber dafür können wir uns etwas vor Augen halten. Niemand von uns – kein einziger Mensch auf der Welt – hat das Recht auf Glück allein für sich gepachtet. Glaube mir.“ Schweigen. Noch immer hing das hell eisblaue Paar Augen an seinem Gesicht fest, doch auf einmal erschienen sie dem Killer auf seltsame Weise völlig anders als wenige Momente zuvor. Fast war es ihm, als blicke er in das fragende Gesicht eines Kindes, das zu seinen Füßen saß und voller Verwunderung seinen Worten lauschte, als lese er ihm eine noch nie zuvor gehörte Geschichte vor. Eine Geschichte, die für es allein durch den Klang seiner Stimme an Wahrheit gewann. Unwillkürlich spürte Kurogane seine Kehle eng werden. Wieviel Kindlichkeit in diesen blauen Augen verborgen lag. Ohne dass er wusste wieso er es tat, strich er seinem jüngeren Gegenüber mit einem Zeigefinger leicht über dessen blasse Wange. „Glaube mir, Fye“, wiederholte er leise. Hilflos schlug der Blondling die Augen nieder. Diese so unerwartet sanfte Berührung kribbelte auf seiner Haut wie ein leichter elektrischer Schlag. Doch als er den Blick wieder hob und Kurogane ansah, glaubte er zu erkennen, was er ihm hatte sagen wollen. Denn nun sah er alles. Er sah das Ausgebrannte, diese unendliche Müdigkeit, die sich hinter dem rastlosen Funkeln dieser roten Augen versteckte. Er hörte förmlich panische, von Grauen unterwühlte Kreischen hunderter Stimmen und das ewig gleichförmige Marschieren tausender Füße, das monotone Verrinnen und Vertröpfeln geronnenen Blutes, und sah die unzähligen angst- und schmerzverzerrten Gesichter, die sich über Jahre hinweg solange in diesen flammenden Iriden eingegraben hatten, dass sie nun unlösbar in ihnen verwurzelt waren. Und nun spürte er, dass seine Wangen vor Schuldgefühlen brannten. Ein Egoist. Ich bin so ein verdammter Egoist. „Als-… als ich heute morgen gesagt habe, dass du keine Ahnung hättest, wie es sich anfühlt, von seiner Familie getrennt zu werden…“, hörte er sich wispern, „Habe-… habe ich dir da Unrecht getan…? Ist etwas mit deiner Familie passiert? Mit deinen Eltern?“ Der Killer gab keine Antwort, sondern erwiderte nur ruhig seinen scheuen Blick. „Ist deinen Eltern etwas zugestoßen?“ Keine Antwort. „Sind sie tot?“, presste Fye gequält hervor und grub seine Hände noch fester in Kuroganes Mantelärmel, „Sind sie tot, Kurogane? Hat man sie umgebracht?“ Der Schwarzhaarige senkte nur kurz den Blick und seufzte lautlos. „… Ich weiß, wie es sich anfühlt.“ Fye wusste nicht, woran es lag – an dem rauen, teilnahmlosen Klang seiner Stimme, diesem Ausdruck der Erschöpfung, der über seinem Gesicht lag, oder einfach an dem, was er sagte – doch bei diesen Worten spürte er, wie der Schmerz, der schon den ganzen Tag über in seinem Schlund gebrütet und gebrannt hatte, nun endgültig überbordete. Verzweifelt stürzte er sich auf ihn und schlang beide Arme um seinen Nacken, sodass dieser unwillkürlich zum Abfangen seines Gewichts zwei Schritte nach hinten stolperte, drängte sich an ihn, hielt sich an ihm fest. „Es,-… ich-…“, stammelte er gequält und fühlte neuerliche Tränen in seinen Augenwinkeln brennen, als er zum Gesicht seines Weggefährten emporsah, doch dieser schüttelte den Kopf und legte seinerseits die Arme um ihn, langsam, zögernd, als wüsste er nicht, ob der Jüngere nun real oder nur ein Traumbild war. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.“ Statt einer Erwiderung schmiegten sich die schlanken Arme nur fester um seinen Nacken. Er schloss die Augen und strich seinem jüngeren Gegenüber in einer behutsamen Bewegung durch das blonde Haar, das im gespenstischen Einfall des Mondlichts wie bleiches Silber anmutete. Ein leichtes Kribbeln wogte über seine Haut, als die dünne Stimme des Blondlings unvermutet dicht neben seinem Ohr zu flüstern begann. „Weißt du, kurz-… kurz bevor wir uns zum ersten Mal begegnet sind, da… als ich den Bürgersteig fegen musste und du an der Hauswand gestanden bist, weißt du noch…?“ „Ja.“ Wieder suchte der Blick des Jüngeren den Seinen. „Und als wir miteinander geredet haben, da dachte ich, wie schön es vielleicht gewesen sein könnte, wenn-… w-wenn wir uns schon früher getroffen hätten. Schon Jahre früher. Als wir noch klein waren, und-… und als wir…“ Seine Stimme versagte, als ihm klar wurde, dass er den Schwarzhaarigen noch immer umarmt hielt. So warm. „Und als wir… ?“, hakte dieser nur ruhig nach. „Als wir noch Menschen waren.“ Eine einzelne Träne funkelte im Auge des Blonden auf und zog auf seiner Wange eine glänzende Spur hinter sich her. „Ich war kein Mensch mehr, Kurogane“, stammelte er halblaut, „Ich war irgendetwas, aber kein Mensch. Ich konnte nicht weinen, und jedesmal, wenn ich lachen musste, erschrak ich vor mir selbst. Aber-… aber als ich dein Gesicht gesehen habe, war irgendetwas… anders. Obwohl du mich angesehen hast, als könnte dich nichts auf der Welt mehr anekeln als ich, war es mir auf einmal, als wären da nur wir. Als gäbe es außer uns keinen einzigen Menschen mehr auf der Welt. Und ich wollte laut sein, reden und lachen, weil uns keiner gehört hätte. Für… für zwei Sekunden. Für zwei Sekunden war ich ein bisschen mehr Mensch als sonst.“ Schweigen. Für einen Moment sah es aus, als wollte der Schwarzhaarige etwas erwidern, doch dann blieb er ruhig. Mittlerweile standen die beiden jungen Männer völlig still auf der mondbeschienenen Veranda. Irgendwann – keiner der beiden konnte sagen, ob nur wenige Minuten oder ganze Stunden vergangen waren – hob Fye wieder zu sprechen an. „Einmal hat mir Chi erzählt, dass es nur auf diese zwei Sekunden ankäme“, erzählte er wispernd, „Wenn du dich dafür entscheidest, jemanden zu mögen, wirst du in all seinen Taten etwas Gutes erkennen, ganz egal was er tut. Und wenn du dich dafür entscheidest, jemanden nicht zu mögen, wirst du in all seinen Taten etwas Schlechtes erkennen, ganz egal was er tut. Und ob man jemanden mögen will oder nicht… das entscheidet man nur in diesen zwei Sekunden, wenn man einander zum ersten Mal sieht. Waren es bei uns auch nur diese zwei Sekunden, Kurogane?“, fragte Fye leise und sah ihm zum ersten Mal an diesem Tag gerade und furchtlos in die Augen, „Haben wir uns nur in zwei Sekunden dazu entschieden, uns zu mögen? Oder war es mehr als nur das? Was denkst du darüber?“ Leise Verwunderung stahl sich in den Blick der roten Iriden. „Du magst mich also doch?“ Ein kleines Lächeln breitete sich auf den blassen Lippen seines jüngeren Weggefährten aus, als dieser den Blick senkte. „Ich liebe dich.“ Stille. Er liebt-… ? Wie von weiter Ferne spürte Kurogane bei diesen Worten seinen Herzschlag explodieren, doch gleichzeitig spürte er es wieder nicht. Das jäh aufschießende Blut in seinen Wangen nahm er ebenso wenig wahr wie die Gänsehaut, die sich über seinen gesamten Körper zog, oder seinen fassungslosen Blick, mit dem er Fye anstarrte. Alles rauschte an ihm vorbei, als befände er sich unter Wasser und triebe in dem nicht abfallenden Spiel der Gezeiten. „Fye-…“ Wieder dieses kleine, müde Lächeln. „Wie du siehst, kann auch ich nicht alle Bereiche meines Lebens kontrollieren.“ Ein seltsames, flatterndes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, als würde ein faustgroßer, zentnerschwerer Stöpsel aus seinem Bauchnabel gezogen. „Aber-…“, hörte er sich heiser stammeln, „Aber seit wann--… ?“ Tränen glänzten in den hellblauen Augen auf, als der Blondling die Hände von seinen Mantelärmeln nahm und gequält den Kopf schüttelte. „Ich weiß es nicht! Mein Herz schlägt einfach schneller als dass mein Kopf denkt, das ist bei mir schon immer so gewesen! Ich weiß es einfach nicht! Aber die letzten Wochen und wir, wir gemeinsam, das-… das war für mich das Glück!“ Keine Erwiderung kam zurück. Auf einmal wirkte der Blick seines älteren Mitbewohners so leer, als würde er direkt durch ihn hindurchstarren. Das war für mich das Glück“, wiederholte Fye, seine Stimme kaum mehr als ein kleines, klägliches Wispern, „Und ich will nicht mehr ohne dich leben. Ich liebe dich, Kurogane, verstehst du das nicht?“ Vergeblich versuchte der Killer, ihn erbost anzustarren, doch weder aus seinem Gesicht noch aus seinem Inneren konnte sich in diesem Augenblick noch wirkliche Wut hervorarbeiten. „Bist du jetzt völlig von Sinnen, du Idiot?“, hörte er sich nach einem langen Schweigen in einem seltsamen Anfall von wütender Hilflosigkeit hervorstoßen, die er von sich selbst noch gar nicht kannte, „Wie zum Teufel kannst du mich nur lieben?“ „Weil du mich und mein Leben ein bisschen menschlicher gemacht hast“, lautete die leise, aber bestimmte Erwiderung, „Weil du bei mir warst, als meine Seele bloßlag. Und weil ich nun endlich wieder weiß, was ich zu tun habe. Darum.“ Der Schwarzhaarzige stutzte. Wissen, was ich zu tun habe. So wie die Fyes Lippen diese Worte formten, schienen sie etwas in ihm zu wecken. Inmitten all der trüben, verworrenen Gedanken, die in seinem kreisten, war es ihm auf einmal, als würde er seinem alten Schwertkampflehrer wieder ins Gesicht blicken. Die deutlich geformten Wangenknochen, der Bart, die klugen, stets ruhig blickenden dunklen Augen. „Wenn du ein bisschen Geduld hast, wirst du dieses lebendige Wesen finden. Das lebendige Wesen, das du schützen willst. Oder vielleicht findet dieses lebendige Wesen sogar vorher dich. Und dann, mein Junge, wirst du wissen, was du zu tun hast.“ „Munashii-sensei…“ Ja, so musste es sein. Fye liebte ihn, weil er ihm Gewissheit gegeben hatte. Sie beide hatten einander Gewissheit gegeben. Ruhe. Friedfertigkeit. Und manchmal sogar Momente, in denen selbst er hatte lachen können. Lachen! Er! Wie hatte er das nur vergessen können? Diese jähe Erkenntnis war es, die alle Wut in Kurogane zum Schweigen brachte. Sämtliche Geräusche der Nacht – der ferne Lärm der Autos, das Murmeln des Windes, das Rascheln der dürren Zweige auf der Straße – all das schien sich nach und nach an seinem Ohr zu vermischen, zu vermengen und sich zu einer einzigen Stimme zu vereinigen. Und diese Stimme sprach eine vollkommen klare, unmissverständliche Sprache. Dann weiß ich, was ich zu tun habe. Eine seltsame, noch nie zuvor gefühlte Emotion von Wärme kam über ihn und füllte ihn vollkommen aus, als er das Gesicht des Blondlings in beide Hände barg und die Stirn an die Seine lehnte. „Kurogane-…“, stammelte der Blonde schwach und sah ihn verunsichert an, doch der Schwarzhaarige verschloss ihm mit einer Hand den Mund. „Sag nichts“, flüsterte er leise, „Sag jetzt nichts.“ Stille. Für wenige Bruchteile eines Moments war noch die unausgesprochene Frage in den hellblauen Iriden zu lesen – doch löste sich diese bereits im nächsten Augenblick im Nichts auf, als die Hand fiel und sich Kuroganes Lippen weich auf die Seinen senkten. Die plötzliche, zitternde Gewissheit ihres Kusses raste durch seine Venen wie Feuer. Was-… Instinktiv wollte sein Körper gegen die ungewohnte, drängend warme Nähe dieses atmenden, herzklopfenden fremden Lebens aufzucken, sich wehren, doch sein älterer Weggefährte nahm seine hilflos bebenden Hände auf und hielt sie fest. Für einen kurzen Moment wagte Fye es, die Augen zu öffnen, die ihm bereits hatten zufallen wollen. Und voller Verwunderung gewahrte er, dass ihm erst dadurch die wahre Intensität dieses Augenblicks bewusst zu werden schien. Es überrollte ihn wie ein einziger Schauer aus Wärme. Er sah Kuroganes geschlossene Lider, die auf einem dichten schwarzen Kranz Wimpern dicht vor den Eigenen ruhten. Er spürte die sanfte Berührung ihrer Hände. Den gleichmäßigen Hauch seines Atems, der an seinen Wangen entlangfloss. Schmeckte die Wärme seiner Lippen. So warm… Wie von selbst sanken seine Lider nach unten und die nächtliche Welt verschwamm vor seinen Augen. Dieser Augenblick gehörte ihnen allein. Aus einem Kuss wurden zwei Küsse, drei, vier, fünf… Selbst als ihre Lippen nach endlosen Minuten endlich wieder voneinander loskamen und sie, noch immer in einer Umarmung, langsam wieder zu sich fanden, war es ihm, als könne er ihre Berührung noch immer spüren. Sehnige, warme Hände ergriffen sein Kinn und zogen es behutsam nach oben. Ein flammend zinnoberfarbenes Augenpaar blickte ihn an. Ruhig. Unverwandt. „Wir sind Menschen, Fye“, hörte er Kuroganes leise Stimme an sein wohlig benommenes Ohr dringen, „Wir sind Menschen. Und wenn wir bis heute keine Menschen mehr waren, können wir es jetzt wieder sein.“ Wieder blickte ihn das Kind hinter diesen eisblauen Iriden ungläubig an. Doch dann nickte es. Eine einzelne Träne funkelte im Augenwinkel des Blonden auf und zog auf seiner Wange eine glänzende Spur hinter sich her, als er sich schutzsuchend an seinen Weggefährten schmiegte und den Kopf in seine Halsbeuge sinken ließ. „Ja. Ja, das will ich gern.“ Der Schwarzhaarige spürte, wie sich auf seinen Lippen ein Schmunzeln bildete. „Ich auch.“ Sanft senkte er sein Gesicht in das weiche blonde Haar und schloss ihn in die Arme. Fest. Der Mond, der noch bis vor wenigen Minuten hinter den schweren Wolken der Nacht verborgen gewesen war, trat nun langsam aus ihrem Schatten hervor und tauchte alles in samtenes, silbriges Licht. Und noch während die beiden jungen Männer in ihrer schweigenden Umarmung versunken auf der Veranda verharrten, begann es in winzigen, feinpudrigen Flocken zu schneien. Alles war still. Erstaunlich, wie rasch sich der emotionale Zustand eines Menschen ändern konnte. Pantoliano war hochzufrieden. Bedächtig nickte der Ratspräsident vor sich hin, während er über Breitwandmonitor seine beiden Opfer in spe auf der Veranda der kleinen, klapperigen Hütte beobachtete. Du liebe Zeit, wie hielt es dieser so an Versace, Rothschild und Smith&Wesson gewöhnte Schwarzkopf nur in solch einem verlausten Bananenkarton von Haus aus, mit dieser erbärmlichen Ausstattung, mit diesen erbärmlichen Witzfiguren von Menschen? Nun, offenbar besser als er vermutet hatte, denn nun schien er ja eine ausgleichende Zerstreuung gefunden zu haben. Großzügig überging der italienischstämmige Binnenpolitiker O‘Connors bangen Gesichtsausdruck, den er schon zeigte, seit er in dem Sessel neben ihm saß – sprich: seit sie die beiden Turteltäubchen vor Haus Nummer dreiunddreißig beobachteten, und das nun schon seit gut einer Stunde – und aktivierte das kleine Mikrophon auf der Schaltfläche neben dem Bildschirm. „Fahren Sie mal etwas näher ran, Roy, ich will mehr sehen.“ Als Reaktion zoomte das Bild der Spionkamera, die schon seit Beginn des Abends auf den Hauseingang gerichtet war, etwas näher an die Veranda heran und fing die beiden großen, schlanken Gestalten in ihrer Mitte nun um einiges schärfer ein. Sie schienen miteinander zu reden. Und sie knuddelten sich wie zwei schüchterne Kindergartenkinder, Gottchen nein, wie süß. „Sehen Sie, Joshua?“, meinte er über seine Schulter und deutete stolz auf den Monitor, als würde dieser seinen sämtlichen Besitz und nicht nur irgendwelche Typen auf irgendeiner Veranda zeigen, „Genau, wie ich es Ihnen gesagt hatte! Das ist ja fast noch besser als in Coronation Street!“ „Ja, also-…“, stotterte der sichtlich perplexe Ministerialrat geistreich zurück, während die Umarmung der beiden Observierten noch enger wurde. Er war wirklich alles andere als erpicht darauf, zwei Kerlen beim Herumfummeln zuzusehen – noch dazu, wenn es sich bei einem der beiden Kerle um Kurogane handelte – und sehnte sich schon seit Beginn des Abends nach einem heißen Bad inklusive Massage, doch was sollte man schon tun? Job war eben Job und Geld war Geld, auch wenn man sich dazu seit neustem die Fummeleien von liebeskranken Klapsmühlenflüchtlingen ansehen musste. Pantoliano hingegen schien anders darüber zu denken – offensichtlich aus Gründen heraus, die O’Connor nur ahnen konnte – und verfolgte jede Bewegung der beiden. Sie redeten noch immer miteinander. Kurogane streichelte diesen blonden Tropf, als wäre er sein Ein und Alles, und jetzt-… tatsächlich, sie küssten sich! Fast hätte Pantoliano mit der Faust triumphierend auf den Tisch gehauen. Sie küssten sich, da bestand kein Zweifel – oder die Kamera war kaputt, was Pantoliano jedoch stark zu bezweifeln wagte. Es mochte stimmen, dass die Sicherheitsanlagen des Dezernats unter aller Sau waren, was er beizeiten noch ändern würde, doch seine Spionageausrüstung konnte in diesem Land niemand so schnell toppen. Händereibend wandte er sich von dem Monitor ab. Lange, tiefschürfende Gespräche, innige Umarmungen, zärtliche Küsse. Perfekt. „Also, was denken Sie?“, erkundigte er sich bei dem Ministerialrat und nickte in Richtung Bildschirm, auf dem der Kuss noch immer andauerte, „Schnuckelig, nicht wahr?“ „N-nun, es-…“ Pantoliano lachte bloß und zeigte ein Lächeln, das O’Connor zuletzt auf den ledrigen Lippen eines lauernden Krokodils beobachtet hatte. Ein Krokodil, das sich seiner Beute sicher war und sich langsam und lautlos ins Wasser gleiten ließ, um sie endlich zwischen die Zähne zu bekommen. „Sie haben ja so recht, Joshua, mein Junge. Es wird höchste Zeit, dass wir ein wenig Wirbel in die Sache bringen. Schließlich schuldet uns unser Yuui-chan immer noch einen gehörigen Batzen an Informationen, nicht wahr? Einen so gehörigen Batzen, dass ich ihm dafür mit Freuden jede Rippe einzeln ausreißen werde!“ Wieder dieses Lächeln. „Dieses Menschenkind weiß genug, um uns nicht nur eine goldene Nase zu schaffen, Joshua. Wenn die Zahlen erst gesichert, der Code geknackt und diese arme Missgestalt tot ist, werden wir uns im Gold wälzen können, bis wir daran verrecken, mein Lieber, verrecken!“ O’Connor erblasste kaum merklich. Gegen Gold hatte er ja nichts, aber er konnte es nicht wirklich leiden, wenn sich sein Vorgesetzter schon wieder derartig in einen seiner goldenen Träume von Macht und Reichtum hineinsteigern musste. So langsam wurde ihm das unheimlich. Doch wie gesagt, Job war Job. Deswegen nickte er. „Sie sagen es, Mr. Pantoliano. Soll ich die Jungs anläuten?“ Der Ratspräsident lächelte liebenswürdig. „Ach wo denn, mein Junge, das werde ich gerne für Sie erledigen. Bleiben Sie nur sitzen, ich lasse uns zur Feier dieses putzigen Küsschens einen doppelten Scotch bringen! Aber zuvor noch die Arbeit.“ Mit diesen Worten holte er sein schmales, silbriges Mobiltelefon aus der Brusttasche seines seidenen Jacketts hervor und drückte eine einzelne Wahlaste, um die Verbindung herzustellen. „Dean?“ „Ja, Boss?“, hörte auch der zusehends beunruhigte O’Connor die leise, statisch verzerrte Antwort vom anderen Ende der Leitung. „Sie können anfangen.“ „Mit wem?“ Der Italiener überlegte für eine Weile. „Der Blondschopf. Fangen Sie mit dem Blondschopf an.“ „Mit Vergnügen, Boss.“ Es klickte in der Leitung. Zufrieden verstaute Pantoliano sein Handy und widmete sich wieder dem Geschehen auf dem Monitor. Der Kuss war gelöst, die Umarmung jedoch dauerte noch immer an. Er führte selten Selbstgespräche, doch wenn es zu einer Situation passte, liebte er es einfach, dramatisch zu werden. „Das bereitet dir einen gewissen Gefallen, wie mir scheint, was?“, murmelte er und nahm die Augen nicht auch nur eine Sekunde lang von der zarten blonden Gestalt, die in den Armen des schwarzhaarigen Riesen lag, als wolle sie für immer in ihnen versinken, „Dann genieße es noch solange du kannst, Kleiner, denn dir wird nicht mehr viel Zeit bleiben. Ladies und Gentlemen, die Jagd kann beginnen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)