Chrysalis Soul von -Soul_Diver- (Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]) ================================================================================ Kapitel 17: Catena Fate ----------------------- -"Die Sehnsucht ist es, die unsere Seele nährt, und nicht die Erfüllung."- (Arthur Schnitzler) ~~ Eine finstere Winterdämmerung lag über Kingstonville. Kalter Wind fegte durch die verschneiten, ruhig daliegenden Straßen des Hippieviertels. Wenn man in den kalten Schein der einsamen Straßenlaterne an der Bushaltestelle blickte, konnte man erkennen, dass es schneite. In feinen, kaum mit bloßem Auge erkennbaren Flocken hüllte es die morgentliche Welt in weiches Schweigen. Kingstonvilles Lichter glitzerten in der Ferne wie ein Handwurf bunter Spielmünzen. Regungslos starrte Kurogane zum Fenster hinaus. Anstatt aus dem Fenster hätte er ebenso gut auf die gegenüberliegende Wand glotzen können, denn er nahm nichts davon wahr. Ein dunkler Schleier aus Müdigkeit hatte sich schon zu Beginn der Nacht vor seinen Augen zugezogen. Unwillig kämpfte er gegen den Drang an, sich einfach auf dem Fußboden auszustrecken. Er konnte es sich nicht leisten, einzuschlafen. Nicht nach allem, was gestern passiert war. Dieser eine Augenblick im Finsteren vor der Kirche war es gewesen, der sich ihm ins Gedächtnis gebrannt hatte. Sie hatte gereicht, ihn seines Schlafs zu berauben, den er sich nach so einem Tag eigentlich verdient gehabt hätte. "Ich mag dich. Und ich will nie mehr von deiner Seite weichen." War der verdammte Blondschopf diesen ganzen Affenzirkus überhaupt wert? Seufzend wendete der Killer den Blick vom Fenster ab und wandte sich dem Bett auf der anderen Seite des Raumes zu. Fye schlief. Nun- zumindest sah es danach aus. Starr und regungslos wie ein Toter lag der junge Blondschopf bäuchlings auf der Matratze. Seinen Kopf hatte er in das Geviert aus Oberarm, Achselschwung und Ellenbogen gelegt. Die bunt gemusterte Decke hob und senkte sich sanft unter seinen Atemzügen. Er wirkte seltsam verloren, wie er so dalag. Falsch, dachte Kurogane müde, nachdem er seinen Gefährten für einige schweigende Augenblicke gemustert hatte, Das ist falsch. Die Frage ist, ob ICH diesen ganzen Affenzirkus überhaupt wert bin. "Wieso bist du wach geblieben?" Überrascht wandte er sich um und starrte Richtung Bett. "Was... ?" Ein Paar ausdrucksloser Augen starrte stoisch zurück. "Warum bist du wach geblieben?", wiederholte Fye leise seine Frage. "Weil du sonst wieder aufgestanden wärst", antwortete der Schwarzhaarige ruhig, "War es unbedingt nötig, mir die ganze Nacht über vorzugaukeln, du würdest schlafen?" Der Blondling antwortete nicht. Kurogane seufzte und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. "Hör zu. Ich war nochmal im Dezernat und habe diesen Ashura in den Großrechner eingegeben. Er steht in der Verbrecherdatei." Dass ihm diese Heimlichtuerei am frühen Morgen alles andere als behagt hatte, und ihm außerdem noch fast alle dezernatsinternen Suchprogramme bei diesem Namen die Ergebnisse verweigert hatten, brauchte der Blondling nicht zu wissen. "Ist Ashura das einzige Wort, das du dir von gestern gemerkt hast?", erwiderte dieser nur tonlos. Kurogane rollte seufzend mit den Augen. Er hatte es ja kommen sehen. "Nimm's mir nicht übel, aber ich würde das von gestern gerne aus meinem Gedächtnis streichen." Der Blick dieser eisblauen Augen fuhr ihm wie glühendes Metall in die Hirnwindungen hinauf. "W-... was... ?", fragte Fye schwach, die Stimme kaum mehr als ein halblautes Krächzen. "Du scheinst gar nichts begriffen zu haben. Ich bin kein Mensch, den du mögen kannst. Dazu kommen noch die Serienmorde, und meine Verfolger. Wir werden beobachtet, und du spürst es ebenso wie ich. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ihr drei für eure Hilfeleistungen bluten müsst. Wir sind alle so gut wie tot!" "Nein", entgegnete der Blondling leise, "Wir sind nicht tot, wir waren tot." "Sag mal, willst du es denn nicht verstehen?! Ich bin ein Mörder!" "In diesem Haus, Kurogane, gibt es mehr als nur einen Mörder." Auf einmal erschien ihm das Gesicht seines Gegenübers unnahbarer als je zuvor. "... Und-... und dazu bin ich ein Mann, falls dir das noch nicht aufgefallen ist!", stieß der Schwarzhaarige hastig hervor. Fye sah ihn verärgert an. "Was, im Ernst? Bis gestern dachte ich, du wärst bloß eine Drag Queen." "Fällt dir wirklich nichts besseres ein? Ich habe ganz einfach das Gefühl, dass das nicht funktioniert! Nicht auf diese Weise jedenfalls! Es ist zu gefährlich, und mit ein wenig Vernunft in deiner Nuss würdest du das auch so sehen!" Noch während des Sprechens fühlte der Killer, wie sich ein lästiger Kloß in seinem Hals zu bilden begann. Die ganze Nacht und den halben Morgen über hatte er auf diesen Worten herumgekaut, hatte sie wieder und wieder gesiebt und abgewägt, doch nun kamen sie ihm vor wie der reinste Müll. "Hast du's schon mal getan?" Augenblicklich fuhr der Schwarzhaarige zu Fye herum. "Was?!!" Diese eisblauen Augen wirkten wie abgestorben, als sie sich ausdruckslos an den Seinigen festhefteten. "Hast du schon mal mit jemandem geschlafen?" Kurogane konnte förmlich spüren, wie ihm das Blut in den Wangen aufwärts stieg. "Natürlich nicht!", keifte er gereizt, "Wieso sollte ich auch?! Du etwa?" Noch während er das sagte, kam ihm der Gedanke, dass es möglicherweise etwas roh klang, so wie er blaffte - und als er Fyes Gesicht sah, wusste er es. Augenblicklich schämte er sich. "Wenn du schon so fragst: ja, habe ich", antwortete der Blondschopf müde und richtete sich wackelig auf der Matratze auf, "Aber ich wünschte, es wäre niemals passiert. Es war hässlich. Und schmutzig. Ich hatte Angst." Schweigen. Kurogane starrte Fye wortlos an. Er hat es schon mal-... ? "Wieso, was war?" "Was soll schon gewesen sein?", fragte der junge Mann mit merkwürdig flacher Stimme, "Ich wurde von einer wolllüstigen Schlange halb vergewaltigt, weil mir in diesem einen Augenblick keine anderen Möglichkeiten gegeben waren. Mein Körper war geschändet. Ich habe mich selten so beschmutzt und missgestaltet gefühlt wie an diesem einen Tag." "Und diese Frau hat dich damit so abgeschreckt, dass du jetzt auf Männer stehst?" "Hör auf, so mit mir zu reden Kurogane!", stieß Fye verbittert hervor, "Wenn du mir Notgeilheit unterstellen willst, dann mach das wenigstens wörtlich! Wenn ich dir gestehe, dass ich gerne an deiner Seite bleiben möchte, will ich damit nicht sagen, dass ich jedesmal eine Latte kriege, wenn ich dich sehe, oder nachts davon träume, dir meinen Finger in den Mund zu schieben!" Seine Augen glänzten so stark, dass Kurogane für einen Moment neue Tränen von seiner Seite fürchtete. "... Denn wenn ich dir sage, dass ich dich mag, dann sage ich dir das, weil ich mich verbunden zu dir fühle. Wenn ich deine Hand anfasse oder dein Gesicht, dann tue ich das, weil ich mich darin wieder erkenne... und wenn du etwas zu mir sagst, dann merke ich, dass da in diesem Raum zwischen uns mehr ist als nur Worte und Luft." Er musterte ihn voller Wärme und Hochachtung, den der Killer zuletzt in längst vergessenen Tagen bei seinen Eltern bemerkt hatte. Er zuckte leicht zusammen, als er plötzlich die hellen, weichen Finger des Blondlings an seinen Wangen spürte. "Verstehst du? Meine Schwächen und Sorgen... und Ängste... das alles an uns gleicht sich so sehr, dass ich mich in dir wiederfinde Und ich möchte dir nahe sein, weil da nichts ist, was uns trennt", stammelte er und strich in hilfloser, verschämter Zärtlichkeit mit den Fingerspitzen über Kuroganes Wangenknochen, als befühle er goldene Geschmeide, "Wir sind aneinander gekettet." Der Schwarzhaarige schluckte schwer. Verunsichert versuchte er das warme Prickeln von Fyes Fingerspitzen an seinen Wangen zu ignorieren. In seiner Magengegend machte sich ein schwirrendes Gefühl breit. Er hätte in diesem Moment alles tun können. Außer sich gegen Fyes Berührung zu wehren. "Und was genau macht meine Nähe für dich so angenehm?", fragte er nach einem langen Schweigen. "Hast du noch nie bemerkt, dass ich keine Sekunde stillhalten kann?", erwiderte der Blonde, "Ich bin ein Flattermann, und das weißt du auch. Die Gedanken und Sorgen, die mich umtreiben, lassen mir keinen Moment Ruhe. Aber du, du bist so..." Er brach ab. Ein kleines, bitteres Lächeln stahl sich auf seine Züge. "Und hier haben wir es wieder. Das alte Problem. Menschen wie dich kann man eben nicht beschreiben." Ehe sich Kurogane versah, kam plötzlich Leben in seine Hände, die bisher regungslos auf der Decke gelegen waren. Schnell und mühelos tasteten sie sich zu den Handgelenken des Blondlings. Hielten sie fest. "Würdest du's versuchen?", fragte er ruhig. Da war er wieder, diese weiche Ausdruck auf seinem hellhäutigen Gesicht. "Okay, ich-... ich will's versuchen", gab er sich schließlich geschlagen, "Du bist-... ein Fels in der Brandung. Du widerstehst dem Meer und dem Wind, ohne dich zu beklagen. Du bist ein Ruhepunkt. Überall. Ein Fels, auf den man sich zutreiben lassen und dann dort verweilen will. Und aus all dieser Ruhe bricht deine Kraft hervor wie ein Vulkan. Man fragt sich jedoch, warum du sie nur dazu benutzt, um dich von deiner Umwelt abzuschotten. Du bist ständig damit beschäftigt, deine Mauern zu ziehen. Aber-... aber es ist aufregend, wenn du einen schwachen Moment hast... und dich für wenige Augenblicke nicht entziehst." Das Kinn des Schwarzhaarigen zuckte. Verwirrt spürte er, wie als Reaktion ein ungewohnter Schleier aus Wärme über seine Wangen zog. "... Und du?", fragte er dann mit ernster Stimme, "Glaubst du denn, du seist nichts? Du verbirgst dich in deinem kleinen Schneckenhäuschen vor mir, weil du Angst hast, dass mir was an dir nicht passt. Aber da ist nichts, wofür du dich vor mir schämen müsstest. Nichts, hörst du?" Der Blondling starrte ihn an. Ein scheues, kaum erkennbares Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. "Ich frage mich nur, ob du... oh Gott, ob du mich hasst... oder ob du der einzige Mensch bist, der mich jemals so verstanden hat." Seine Stimme klang so käferklein und dünn wie die eines Kindes, als er das sagte. Kurogane sah ihm mit einem ruhigen Blick ins Gesicht. "Ich hasse dich nicht." Die eisblauen Augen wurden rund wie Murmeln. "...Nein?" Wie scheu er das fragte. Als ob er es nicht glauben könne. Kurogane schüttelte als Antwort den Kopf. Und er hielt den Atem an, als er als Reaktion auf seine Worte wieder diese Perle in des anderen Gesichtszügen erblickte. Da war sie. Doch diesmal war es kein Schmerz, der sie hervorgebracht hatte. Und sie nahm ihn völlig gefangen. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, wollte nicht. Bis plötzlich polternde Schritte auf der Treppe sie beide aus ihren wirren, ziellos umherflatternden Gedanken hochrissen. "Fye-saaahaaaan!! Kurogane-saaahaaaan!!" Kurogane entriss dem Blondling seine Hände und schnellte von der Bettkante hoch, als die Zimmertür aufging. "Guten Morgen!", sagte Shaolan kumpelig, der soeben den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte, "Ich wollt euch nur sagen, dass Claire zum Frühstück gekommen ist! Wollt ihr nicht auch mit runter?" "Supergern!", trällerte Fye übermütig, "Meine Muffins werden ihr sicher schmecken!" Shaolan nickte. Angesichts der blassen Visagen der beiden runzelte er jedoch die Stirn. "Alles okay mit euch?" "Natürlich, das sieht man doch", knurrte Kurogane unter einer wegwerfenden Handbewegung, "Wir kommen gleich nach." Kaum, dass der Junge wieder draußen war, wurden die Augen des Blondlings glasig. "Ist das deine Antwort?", fragte er leise. "Du kennst meine Gründe", erwiderte der Schwarzhaarige tonlos. Der Blonde lächelte nur müde. Der einstmalige Kadett verbat dem einstmaligen kleinen Jungen, sich einfach gehen zu lassen, er konnte es sehen. "Ich weiß. Ist schon okay." "Es ist zu gefährlich", wiederholte der Schwarzhaarige nur. Sein jüngerer Gefährte seufzte. "Ich sagte doch: ich weiß. Lass uns lieber runtergehen, bevor wir wieder mit Streiten anfangen, und ein wenig mit den anderen reden. Claires Geburtstermin ist für diese Woche angesetzt, und sie ist ziemlich aufgeregt." "So, ein wenig reden? Und worüber, wenn man fragen darf? Dann bin ich wenigstens gewappnet." Trotz dem Ernst des Augenblicks konnte sich Fye ein kleines, schiefes Grinsen nicht verkneifen. "Vermutlich über Liebe, Sex und Partnerschaft, so wie ich die drei kenne." Mit einem markerschütternden Ächzen vergrub Kurogane sein Gesicht in den Händen. "... Okay. Jetzt null-null-eins-sieben-vier-Querstrich-..." Yukitos Finger tanzten über die Tastatur, als wollten sie einen irischen Jig hinlegen. "Halt, halt, mach mal langsam!", beschwerte er sich und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, "So schnell wie du redest, kann nicht mal Iron Man mithalten! Also, null-null-eins-sieben-vier-Querstrich..." "... dreimal die fünf, einmal die acht", vollendete Toya mit bedeutsamer Miene das Zahlenkürzel für den Aktencomputer des pathologischen Instituts von Kingstonville und klappte sein Notizbuch zu. "Klingt wie die Telefonnummer vom Little Nero's-Pizzaservice...", seufzte der junge Gerichtsmediziner sehnsüchtig. "Keine Chance", entgegnete sein langjähriger Freund kaltblütig, "Du hast mir schon beim Frühstück schier die Haare vom Kopf gefressen! Und ich will nicht als armer, halb verhungerter Pillenschlucker sterben, damit das klar ist!" Das Argument war einschlägig. Verärgert sah sich Yukito nach Johansen um, der gerade die Aktenspeicher am Computer nebenan durchging. "Johansen, jetzt sagen Sie doch auch mal was!" "Doch auch mal was." Der bebrillte junge Mann stieß einen Laut der Frustration aus und wandte sich wieder dem Suchprogramm zu. "Also? Tut sich schon was?", erkundigte sich der Kommissar nach einer Weile ungeduldig, "Ich hab doch die richtigen Aktenkürzel genannt! Und die Akten sind noch nicht verschlossen, oder? Theoretisch müssten sie druckfähig sein!" Johansen seufzte. "Gedulden Sie sich, Kinomoto. Das Programm läuft noch durch." "Habt ihr's auch schon gehört?", fragte Yukito, während er zur Freigabe der Akte Yamazawa noch sein Passwort eingab, "Vorletzte Nacht musste anscheinend schon wieder einer dran glauben! So ein Anwalts-Aal namens Chardonnay!" "Erinner mich bloß nicht daran", ächzte Toya. Er hatte vor Wut die Morgenzeitung noch am Frühstückstisch zerrissen, als Fullright ihn benachrichtigt hatte, dass Chardonnay das erste Opfer sein würde, das unter die Verantwortlichkeit des Dezernats fiel. Sicher würden diese Oberfuzzis die Daten nur in ihren eigenen Großrechner einspeisen, der an ein separates Stromnetz angeschlossen war. Keine Chance, da ranzukommen- außer vielleicht über eine undichte Stelle in der Außenhaut. Ein potenzieller Sympathisant, der sich kooperationsbereit zeigte. Doch solche Sympathisanten waren wie Jackpots. Brauchte man einen, war nie einer da. "Hier", sagte Johansen soeben und riss den Kommissar aus seinen verbohrten Gedankengängen, "Voilà. Die komplette Akte Ludwig Delnatte - Madeleine Delnatte. Das volle Repertoir." "Es reicht mir, wenn die Daten des Ablebens dabei sind", entgegnete Toya. "Na fein, die ist hier auch dabei. Drucken und einsacken?" "Worauf Sie einen lassen können." "Jawohl, Sir. Sie könnten mir übrigens ruhig mal für die grandiose Idee, im Institut die Daten zusammenzusuchen, ein wenig in den Arsch kriechen!", bemerkte der Gerichtsmediziner, "Mal ganz im Ernst, was täten Sie nur ohne mich?" "Vermutlich ein friedliches, erfülltes Leben führen, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf." "Hier haben wir Yamazawa!", verkündete Yukito, "Sogar die vollständige Version!" "Sehr gut. Die drucken wir auch noch, dann haben wir alle Akten der bisherigen Opfer beisammen, und machen uns so schnell wie möglich vom Acker. Und dann will ich endlich zu Sakura." Yukito wurde blass. "Du hast ihre Adresse schon rausgefunden?" "Hey, mein Job bietet immerhin auch ein paar winzige Vorteile", meinte Toya, "Sie wohnt tatsächlich mit diesem Flückiger, seinem schwarzen Spielgefährten und dem Knirps unter einem Dach. Beethovenstraße dreiunddreißig." "Und Sie halten es für ratsam, bei Ihrer Schwester so mit der Tür ins Haus zu fallen?", erkundigte sich Johansen ernst, wobei er einige Mühe hatte, das Stöhnen und Rattern des altertümlichen Druckers zu übertönen. "Anders geht es nicht", erklärte der Kommissar schlicht, "Sonst haut sie gleich wieder ab. Was kann schon schiefgehen?" "Naja, sie könnte sich umbringen vor Wut oder Verzweiflung, sie könnte dich umbringen vor Wut oder Verzweiflung, ihr könntet euch gegenseitig umbringen vor Wut oder Verzweiflung...", zählte Yukito auf. "Du hast doch keine Ahnung", blaffte Toya gereizt. "Ich mache mir eben Sorgen um dich, du große hohle Kokosnuss." "Mir kommen gleich die Tränen, ihr zwei Mäuschen", kommentierte Johansen trocken und schnürte die Masse an Dokumenten, die der Drucker soeben ausgespuckt hatte, sorgfältig zu mehreren Bündeln zusammen, "Und jetzt? Weitermachen?" "Jawohl", erwiderte der junge Mann, "Dann schnappen Sie sich schon mal den Aktenkram, Johansen, und bringen ihn nach draußen. Dass wir hier nach Daten gesucht haben, wird nicht lange unbemerkt bleiben, also sollten wir wenigstens versuchen, einen möglichst diskreten Abgang einzulegen. Fullright wollte auch noch ins Institut kommen, um sich Chardonnay mal ein wenig näher zu besehen." "Waaaaas?!", japste Yukito entgeistert, "Fullright wird hierher kommen?! Aber-... aber wenn-..." "Mir ist klar, was alles passieren könnte!", seufzte Toya ungeduldig, "Beeilen Sie sich besser, Johansen." Johansen nickte und machte sich mit den Aktenbündeln unter dem Arm auf den Weg. Wenige Minuten später stand er wieder in der Tür. "Was ist los?" "Wenn man den Esel nennt, dann kommt er gerennt", erklärte der Gerichtsmediziner sarkastisch, "Der liebe Justin war gerade auf dem Gang und wollte Sie sprechen. Sie sollten sich jetzt schleunigst was einfallen lassen, Kinomoto." Toya wurde blass. Sein Herzschlag machte einen kurzen Ausflug in seine Kniekehlen. Ganz ruhig. "Johansen, Sie gehen mit den Akten schon mal vor. Yukito und ich bleiben hier und fertigen Justin ab." Wenn der Kommissar seinen berüchtigten James Bond-Tonfall anschlug, duldete er für gewöhnlich keine Widerrede- brav nahm Johansen die Aktenstapel wieder hoch und verließ das sterile Büro, um sich einen Weg durch den belebten Gang zu suchen. Wenige Sekunden später erschien auch schon Justin Derrick Fullright im Türrahmen. Er war ein junger Mann mit blauschwarzem, streng gescheiteltem Haar, buschigen schwarzen Augenbrauen und einem dünnen Oberlippenbärtchen. Irgendwie hatte er etwas von einem biederen französischen Zwiebelverkäufer. Doch leider steckte mehr in ihm, als man vermutete. Wieviele Männer konnten gleichzeitig einen Einsatzwagen mit Hundertachtzig durch die Kurve lenken, ein Schießduell erfolgreich beenden und dabei auch noch seine Kontrahenten verspotten? "So so so", sagte er mit gerunzelter Stirn und starrte die beiden jungen Männer in dem zu dieser Uhrzeit leeren Büro sichtlich skeptisch an, "Was soll denn das hier werden? Ein Sit-In unter Kollegen?" "Weder noch, Justin", erwiderte Toya, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, "Tsukishiro-san, Doktor Johansen und ich verkehren in letzter Zeit eben öfter als gewöhnlich miteinander, jetzt wo wir nichts mehr zu tun haben." "Ah ja. Natürlich. Ich meine, was auch sonst?", erkundigte sich Fullright achselzuckend, wobei sich sein Tonfall beim besten Willen nicht einordnen ließ, "Sie haben mein vollstes Vertrauen, Kinomoto-san. Und wenn wir schon einmal von Ihrem neuen Busenfreund Johansen reden, seit wann ist er sich denn nicht mehr zu schade dafür, ganze Aktenberge zu schleppen?" "Nun, dass auch Akten wichtig sein können, muss bei ihm wohl eine Erkenntnis des Alters gewesen sein..." Die blass fischfarbenen Augen seines direkten Amtskollegen weiteten sich in scheinbarem Erstaunen. "Auch Akten sind wichtig? Herrgott, Sie haben Recht! Wo Sie das so sagen, fällt mir wieder ein, dass es in Johansens Fall sogar außerordentlich wichtige Akten waren! Yamazawa... Delnatte... Navras... sagen Ihnen diese Namen nicht etwas?" "Was für eine Frage. Ich hörte, einige leere Aktenschränke sollten noch bestückt werden..." "Ach tatsächlich? Wie wär's zum Beispiel mit Ihren? Als ich Sie heute morgen in Ihrem Büro gesucht habe, sah es dort aus, als hätte sich das kleine Papierfresserchen dort über Nacht einquartiert." Toya schluckte schwer. Er hatte Fullright nie wirklich für dessen leicht ölig anmutende Art geschätzt, und in diesem Moment beschloss er, dass er sie nicht nur ablehnte, sondern auch hasste. "Mein Zeug muss mal wieder geordnet werden. Keine Sorge, ich werde auch weiterhin zur Arbeit erscheinen." Fullright musterte seinen langjährigen Kollegen, ohne auch nur einmal mit dem karpfenhaften Bärtchen zu zucken. "Wunderbar. Also schön, dann nehme ich eben an, dass Sie Ihr Zeug ordnen. Schätzen Sie sich glücklich..." Bei diesen Worten lehnte er sich in dem Türrahmen nach vorne, sodass seine jüngeren Zuhörer automatisch blass wurden, als sie sich dem Blick dieser fischblauen Augen ausgesetzt fühlten wie einem Röntgenapparat. "... Denn jeder andere Mensch, der auch nur halbwegs bei Verstand ist", sagte Fullright leise, wobei er jedes Wort als solches betonte, "Würde mit einer gewissen Sicherheit vermuten, dass ihr drei saubere Burschen etwas... ausbrütet." Dann richtete er sich auf und ging. Seine Schritte hallten in Yukitos und Toyas Ohren noch lauter wider als auf dem Gang. Lange blieb das frostige Schweigen, das er in dem Büro zurückgelassen hatte. "Ach, heilige Mutter Gottes", seufzte Yukito schließlich mit deutlich desolatem Unterton. Toya runzelte die Stirn. Wenn sein Kumpel religiöse Anwandlungen bekam, hatte das nie etwas Gutes zu bedeuten. "Wieso hab ich nur das Gefühl, dass Fullright bereits vollstens Bescheid weiß und nur noch auf eine Gelegenheit wartet, uns die Hinterteile rauszureißen?" "Wieso hab ich nur das Gefühl, dass du immer Verfolgungswahn kriegst, wenn du zuviel isst?", fragte Toya zurück. "Du bist beknackt." "Unter anderem. Und jetzt Abmarsch nach unten." "Aber Fullright wird über uns denken-...", fing der Bebrillte protestierend an- sein Freund jedoch ächzte nur missbilligend. "Weißt du, was ich über Fullright denke?" "Hmh. Ich müsste raten." Yukito und Toya sahen sich fragend von der Seite an. Sie brauchten nicht lange, um zu erkennen, dass sie genau dasselbe dachten, also fiel es ihnen nicht schwer, es auszusprechen. "Volldepp", sagten sie unisono. "... Und dann hat er noch gemeint, ich sollte noch möglichst diese Woche vorbeischauen." "Echt? Na, dann dauert es ja nicht mehr lange!" Claire nickte fröhlich. Fye schenkte ihr Tee nach. Die ganze Küche war in mollige Wärme gehüllt, in der sie nun zu fünft zu Mittag aßen. Beim Frühstück hatten sie sich so gut unterhalten, dass sie Claire eingeladen hatten, noch zum Mittagessen zu bleiben. "Mein Arzt hat noch gemeint, ich solle-..." Noch während ihrer Worte brach sie plötzlich ab und blinzelte. Was war das gewesen? Fye schien es nicht bemerkt zu haben und redete munter weiter. "Dass du was solltest? Mann, bin ich vielleicht gespannt auf Kyle!" "He-... was ist los?", fragte Kurogane Claire jedoch und starrte sie durchdringend an, da er ihr Stutzen als einziger bemerkt hatte. Sakura und Shaolan hoben verwundert den Blick, als ihre Nachbarin nur mit einem Stottern antwortete. "Ich-..." Ohne jede Vorwarnung knickte sie mit einem rasselnden Aufächzen in die Knie. "Claire?!", stieß Fye sofort entgeistert hervor und packte sie bei den Schultern, "Was ist?! Was hast du?" "Ich, ich-... ich habe-..." Wieder krümmte sich die junge Frau wie ein Wurm am Haken. Und als Kuroganes Blick auf ihre Hände fiel, die sich zitternd auf ihren enormen Bauch pressten, rutschte ihm das Herz von seiner Magengrube endgültig in die Hosen. "D-du-... du hast doch wohl nicht jetzt deine Wehen?!!" Fye, Sakura und Shaolan wurden weiß wie Gespenster. "Waaaaaaaas?! Claire, du hast-... d-du hast Wehen?!" "Oh heilige Mutter!!" "Verdammt, Scheiße, Mist, was sollen-..." "So... leid... es... mir tut!", keuchte Claire verzweifelt zwischen ihren fast schon hechelnd gehenden Atemzügen hervor, "Ich... suche mir... das nicht aus! Wir-... wir müssen-..." "WAS müssen wir?!!" "Ja was wohl?", fiel Fye fieberhaft ein und nahm das Mädchen, das sich mittlerweile kaum noch richtig auf den Beinen halten konnte, am Arm, "Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen! Komm schon, Kuro-rin, schnell!" "Wieso ausgerechnet ich?!" "Weil du als einziger von uns einen Führerschein hast!", erklärte der Blondschopf fieberhaft, während er sich im Eingang schleunigst seinen hellen Mantel überwarf und auch Claire in eine Jacke verpackte, "Und du hast ein Auto! Na los, worauf wartest du, mach schon!! Oder soll Kyle eine Hausgeburt werden?!" "Lieber Haus- als Autogeburt!" "Bitte, Kurogane!", wimmerte die junge Frau und wand sich in ihren Wehen, "Wenn wir jetzt fahren, schaffen wir's vielleicht noch!" Der Schwarzhaarige seufzte. Er war zwar ein ausgemachter Dickschädel, doch unvernünftig war er nicht. Wenn Claires erstes Baby tatsächlich eine Fehlgeburt gewesen war, wollte er nicht schuld daran haben, dass auch ihr zweites Kind dieses Schicksal ereilte, und mit ärztlicher Hilfe bestand definitiv eine größere Chance auf das Leben des Babies. "Ihr zwei passt aufs Haus auf!", rief er Shaolan und Sakura über die Schulter zu, "Wenn was schief läuft, rufen wir euch an!" "Okay! Viel Glück, Claire! Ihr drei macht das schon!" "Hals- und Beinbruch!" "Gleichfalls", murmelte Kurogane zerstreut, während er hastig seinen Mantel anzog und in seine Schuhe schlüpfte. Dann nahm er die arme Claire, deren Knie sich mittlerweile verflüssigt hatten, kurzerhand hoch wie ein Bräutigam seine Braut und rannte in Begleitung von Fye zur Auffahrt, wo sein Jaguar geparkt stand. "Auf den Rücksitz mit euch!" Türen schlugen zu, ein Motor heulte auf, und Fye und Claire brüllten unisono los, als der Schwarzhaarige das Gaspedal voll durchtrat und der Wagen wie eine gezündete Kanonenkugel die Straße hinunterschoss. "Du-... hast doch... hoffentlich... Winterreifen dran?", keuchte die junge Frau, während der Blondling ihr unter einigen Mühen den Sicherheitsgurt umlegte. "Seh ich lebensmüde aus?", knurrte Kurogane, während er den Wagen durch die ausladenden Kurven der Serpentinenstraße Richtung Zentrum lenkte, "In welches Krankenhaus müssen wir überhaupt?" "Ins-... Sisters of Mercy-Hospital... mein Geburtstermin war dort für diese Woche ausgelegt-... es ist im Zentrum, wenn man Richtung Reichenviertel fährt-..." "Gut. Das genügt schon." "Kannst du's noch halten, Claire?", fragte Fye mit blassem Gesicht, als seine Nachbarin immer krampfhafter nach Luft schnappte und auf dem Autositz herumzurutschen begann. "Ich-... denke schon-..." Nach wenigen Minuten ließ der Wagen bereits die Serpentinenstraße hinter sich und schoss wie ein geölter Blitz über die holperigen Wege der Vorstadt, Richtung Hauptverkehrsader. Doch nach einer Weile bemerkte Fye allmählich, dass etwas nicht stimmte. Sein Mitbewohner warf immer wieder skeptische Blicke in den Rückspiegel und gedachte trotz der Geschwindigkeitsbegrenzung nicht, seinen Fuß vom Gaspedal zu nehmen. "Was ist los, Kurogane?" Der Killer ließ seinen Blick stoisch geradeaus gerichtet und bog unvermutet um eine Kurve. "Wir werden verfolgt." "Was?!", japste Claire mit schreckensstarren Augen und wirbelte sofort auf dem Sitz herum, um durch die Heckscheibe zu starren, "Wo? Wer sollte uns denn verfolgen?" "Nicht umdrehen", erwiderte Kurogane nur mit hartem Tonfall, "Die sollen keine Lunte riechen." "Guck immer geradeaus, Claire", sagte Fye freundlich zu seiner Nachbarin und nahm sie an den Schultern, damit sie sich wieder umdrehte, "Es wäre wohl wirklich besser, wenn sie denken, wir sehen sie nicht. Welches Auto ist es?", wandte er sich dann an seinen schwarzhaarigen Kompagnon. "Ziemlich dicht rechts hinten", lautete die ruhige Antwort, "Der rote Ford. Sie haben sich schon auf der Serpentinenstraße an uns gehängt. Und wenn ich abbremse, überholen sie nicht." "Was schlägst du vor?" "Erst mal nichts. Wir wissen nicht, was sie von uns wollen." Claire konnte trotz der Wehen ihren Ohren nicht trauen. Wie zum Teufel konnten die beiden bei so einem Gesprächsthema nur so bierernst bleiben? Vom Tonfall her hätten sie sich genauso gut über die neusten Benzinpreise unterhalten können. Sie erreichten nun die Hauptverkehrsader von Kingstonvilles Zentrum, das sich wie ein einziger gewaltiger Dschungel aus Glas, Stahl, Beton, schillernden Reklamen und Menschen vor ihnen aufbaute wie der New Yorker Broadway. "Die lassen sich einfach nicht wegkomplimentieren", brummte Kurogane sichtlich verärgert mit einem Blick in den Rückspiegel und wechselte immer wieder den Fahrstreifen, "Und diese Fettsäcke hinter dem Steuer hab ich noch nie gesehen!" "Aber was wollen die nur?", stieß Claire verzweifelt hervor und schlang mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Arme um ihren Bauch, "Wir haben ihnen doch nichts getan?" "Wenn sie uns die Knarre an den Kopf halten, sagen sie's uns vielleicht noch, bevor sie..." "Kurogane!", sagte Fye mit scharfer Stimme, "Hör auf, den Teufel an die Wand zu malen und fahr lieber!" "Ich male nicht den Teufel an die Wand, ich sage nur, was passieren könnte, wenn sie-..." Ein lauter Knall unterbrach ihn mitten im Satz. Mit grauenerfüllten Augen starrte Claire auf den Wagenboden. "Was-... was-..." Fye warf einen zögernden Blick über die Schulter und wurde kreidebleich. "Die-... die eröffnen das Feuer!" "WAS?!!" "Die haben Kanonen im Anschlag!" Der Killer musste nur kurz in den Rückspiegel sehen, um sich zu vergewissern. Einer der beiden fetten Armani-verpackten Gangster im Auto richtete sich in seinem Sitz auf und schob ein Maschinengewehr mit langem Lauf durch das Fenster. Keine Frage, worauf es gerichtet war. Kuroganes Jagdtrieb erwachte. "Festhalten", sagte er nur noch und trat das Gaspedal durch. Auf der Straße stoben die Leute kreischend auseinander, als plötzlich ein Jaguar wie ein gewaltiges schwarzes Raubtier über den Zebrastreifen fegte und sich unter halsbrecherischen Manövern an den unzähligen anderen Autos auf der Straße vorbeikämpfte, um mit quietschenden Reifen in die nächstbeste Kurve zu schießen - dicht gefolgt von einem roten Ford. Ungläubig starrte Kurogane in den Rückspiegel und sah, dass der Fettsack bereits zielte. Der wird doch wohl nicht-... "KOPF RUNTER!!" Fye reagierte keinen Moment zu spät. Claire schrie auf, als er sie bei den Schultern packte und sie mit sich nach unten auf den Rücksitz riss, sodass der Wagen einen Satz machte. Keine zwei Sekunden später erzitterte die Heckscheibe bereits von den Kugeln, die an ihr abprallten. "W-wieso geht die nicht kap-..." "Die sind kugelsicher, genau wie die Reifen, aber ich weiß nicht, wie lange das hält, also bleibt unten, kapiert?" Claire sank das Herz in die Hosen, obwohl sie einen Rock anhatte. Was war das für ein Mann, der kugelsichere Reifen und Scheiben in seinem Auto hatte? Vor lauter Angst wurde sie von ihren Wehen noch stärker durchgeschüttelt als ohnehin schon. Kyle meldete sich zu Wort, und zwar vehement. Vor Schmerz begann sie zu weinen. Fye nahm sie bei den Schultern und hielt sie fest. "Hör nicht hin. Hör ganz einfach nicht hin." Hilflos klammerte sich die junge Frau an die Handgelenke ihres Nachbars und presste die Augenlider aufeinander. Das Zischen und Knattern der Kugeln und ihrer Querschläger klang ganz anders, als sie das aus Filmen oder Büchern kannte. Sie klangen so echt. Und so nahe. Viel zu nahe. Die Menschen auf dem Asphalt spritzten auseinander wie Wasser, als der Jaguar mit heulenden Reifen um die Ecke donnerte, Richtung Reichenviertel, immer noch mit dem Ford auf den Fersen, dessen Beifahrer wie verrückt auf die Heckscheibe seines Opfers ballerte. Die Stoßstange ächzte. Das Metall kreischte fast noch lauter als die Reifen. Nun galten keine Verkehrsregeln mehr. Nur noch fahren, fliehen, entkommen. Mit knapper Not wich Kurogane einem breit gebauten Bentley aus, wobei er stur das Prasseln und Fauchen der Kugeln hinter seinem Rücken ignorierte. Es war nicht das erste Mal, dass er sowas durchmachte. Sie kamen nun in eine der ruhigeren Verkehrszonen abseits der Hauptverkehrsader. Das Hospital war nicht mehr weit. Fiebrig hielt der Schwarzhaarige nach einer Möglichkeit für ein Ablenkungsmanöver Ausschau, bis sich Fye plötzlich zu Wort meldete. "Kurogane, da vorne!" Hektisch starrte er durch die Windschutzscheibe. Da war eine engere Seitengasse, eingequetscht zwischen zwei mächtigen Betonbauten- doch der springende Punkt war, dass gerade ein mächtiger Geflügellaster im Begriff war, diese Gasse zu passieren. Kurogane biss die Zähne aufeinander, die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Wenn ich nur schnell genug fahre, ist die Lücke noch breit genug, ums uns-... Wild riss er das Lenkrad herum. Fye und Claire donnerten wie leere Blechdosen von einer Seite auf die andere, als der Killer das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat und mit hundertachtzig Sachen auf die immer enger werdende Lücke zubretterte, in die langsam und allmählich der Lastwagen hineinfahren wollte-... Und kam durch. Ein grässliches Schleifen und Kreischen wurde laut, da die Nase des Lasters noch die Heckscheibe des Jaguars gestreift hatte und ihn auf der Straße tanzen ließ wie besoffen. Hinter ihnen ertönte ein trommelfellzerfetzender Knall, dem unmittelbar vielstimmiges Gefluche folgte. Doch noch war es nicht ausgestanden- denn irgendwann würde der Laster die Lücke passiert haben. "Steig aus und trag sie ins Krankenhaus." "Was?!" "Trag sie ins Krankenhaus, der Weg ist nicht mehr weit. Ich fahre solange ein Ablenkungsmanöver." "Aber-..." "LOS!!" Sein Tonfall ließ keine Widerrede zu, also kletterte Fye hastig aus dem Wagen und zerrte Claire hinter sich her. "Komm schon, ich nehm dich Huckepack!" "Ich-... ich-..." "Nun komm schon!!" Wimmernd vor Schmerz schlang die junge Frau ihre Arme um den Nacken des Blondlings und ließ sich von ihm hochnehmen. Fye biss die Zähne aufeinander. Wieso konnte er nicht wenigstens halb so stark sein wie Kurogane? Der hatte das Mädchen getragen, als besäße sie lediglich das Gewicht einer Fliege. Doch als er hinter den Heckleuchten des Lastwagens das Rot des Fords aufblitzen sah, ließ er seine Zweifel sofort fallen. Hals über Kopf rannte er los und war auch schon bald um die Ecke verschwunden. Augenblicklich gab Kurogane Gas. Er würde sie im Ghetto abhängen, dort ließen die engen, verschlungenen Straßen und bröckeligen Hauswände sowieso kaum eine Verfolgungsjagd zu. Hastig riss er das Lenkrad in die richtige Position und überquerte die Hauptverkehrszone, auf der bereits das Chaos am Toben war. Schleunigst lenkte er den Wagen über den Mainstream, fuhr in eine abgelegenere Seitenzone und peilte den Johannesplatz an. Von dort aus würde er am leichtesten ins Ghetto kommen. Skeptisch warf er während des Fahrens einen Blick in den Rückspiegel. Die lassen aber auf sich warten... Fünf Minuten vergingen, zehn, zwanzig. Ohne dass er es merkte fuhr er immer langsamer. Seine Verfolger kamen nicht nach. Die Straße hinter ihm war bis auf wenige geparkte Wagen wie ausgestorben. Kein roter Ford weit und breit. Mit einem ungläubigen Ausdruck in den lavafarbenen Augen hielt Kurogane an und stieg aus. Seine Widersacher waren wie vom Erdboden verschluckt. Als wär's ein Spuk gewesen. Mit ausdruckslosem Gesicht ließ der Killer seine Arme hängen und starrte auf die Straße hinaus. Der Lärm der Stadt, den er sonst immer als so drückend empfand, erschien ihm nun seltsam fern und unwirklich. Als wäre das Leben nur ein Film, das Bild unscharf, der Ton zu leise. Er dachte an Fye, der wohl gerade mit Claire Richtung Krankenhaus rannte. Und auf einmal fühlte er sich sehr leer. Das Telefon klingelte. "Am Apparat." "Sie haben uns abgehängt, Mr.Pantoliano." "Aaah. Hervorragend. Schön, Roy, dann lassen Sie's gut sein." "Wie bitte?" "Sie haben mich schon verstanden. Drehen Sie ab und kommen Sie zurück." Ohne ein weiteres Wort legte Pantoliano auf und ließ zufrieden seine Fingerknöchel krachen. Er merkte auf, als die Tür zu seiner großzügigen Residenz aufging und O'Connor hereinkam. "Und?", fragte dieser ohne Einleitung, "Gibt es Ergebnisse?" "Nun, ich habe unsere beiden Süßen mal ein paar Schüsse von Roy und Dean kosten lassen. Aber Kurogane hat es geschafft, sie abzuhängen. Ich habe ja einiges erwartet, aber so viel List hätte ich ihm nicht mehr zugetraut!" "Und nun?" "Was 'und nun'? Ich hab Roy umdrehen lassen. Dieser kleine Vorgeschmack soll für heute genügen. Unsere beiden erwarten noch ganz andere Dinge, vor allem unseren lieben Yuui." O'Connor seufzte unterdrückt. "Würde es denn nicht reichen, ihn einfach umzulegen?" Der Italiener lehnte sich in seinem Sitz vertrauensvoll nach vorne. "Vor dreizehn Jahren, mein Junge, waren Sie zwar auch nur ein daumenlutschender Grünschnabel, aber durch mich haben Sie erfahren, was es mit diesem Engelsmenschen auf sich hat. Er weiß Dinge, die uns mehr Macht verschaffen könnten, als wir es uns erträumen können." Der Ministerialrat schluckte. Bis jetzt hatte er zwar in seinem Leben durch das Geld und den Einfluss seiner Eltern schon so gut wie alles erreicht, was er sich bisher gewünscht hatte, aber--... "Und wie sieht's bei Ihnen aus, mein Lieber? Heute morgen soll unser kleiner Höhlenmann ja wieder hiergewesen sein!" "Das ist ja der Grund, warum ich gekommen bin", druckste O'Connor unbehaglich herum, "Ich hab mithilfe einiger Leute herausgefunden, dass sich Kurogane heute morgen in den Hauptrechner eingeloggt hat, um nach Daten zu suchen." "Ach ja? Und nach welcher Art von Daten?" "Verbrecherdaten. Er hat fast sämtliche internen Suchprogramme nach Daten bezüglich 'Ashura' durchlaufen lassen." Schweigen. Täuschte er sich, oder wurde Pantoliano blass? "Die Datensperren waren hoffentlich noch intakt?", fragte er schließlich kühl. "Ja, waren sie. Er hat nur verschwindend geringe Ergebnisse erzielt." "Schön. Und ich hatte Sie doch gebeten, diesen Namen nie wieder in meiner Gegenwart zu benutzen! Diese, diese-... Sache von damals war die reinste Farce." "Entschuldigen Sie, ich hatte nicht daran gedacht." "Es sei Ihnen verziehen. Sie haben Glück, dass unser Yuui so unvermutet wieder aufgetaucht ist." Über diesen Worten kam Pantolianos gute Laune wieder zurück. Voller Vorfreude rieb er sich die Hände. "Warten Sie's nur ab, Joshua! Dieser Goldjunge weiß Dinge, für die sich Länder gegenseitig zerfleischen würden!" "Und wann holen wir uns diese Dinge?" "Wenn der passende Zeitpunkt gekommen ist. Doch wenn ich so sehe, wie gefühlstapsig unser Kurogane-chan bereits geworden ist, wird es wohl nicht mehr lange dauern." Mit diesen Worten ließ es der Italiener dabei bewenden und schlug zufrieden die Beine übereinander. Was du mir vor dreizehn Jahren nicht freiwillig sagen wolltest, presse ich dir jetzt silbenweise zwischen den Rippen hervor. Lass dir Zeit, ich werde auf dich warten. Es war später Nachmittag geworden. Graue, ungemütlich wirkende Schneewolken verdeckten die dünnen Strahlen der dahinschwächelnden Wintersonne. Die schickte sich bereits wieder zum Untergehen an, als wäre auch ihr das Wetter zuwider. Auf den weit ausladenden Kurven der Serpentinenstraße, die zum Hippieviertel hochführte, fuhr ein einsamer Schneepflug seine Runde und räumte den über Mittag gefallenen Schnee zur Seite. Es war eine lange Schicht für seinen bedauernswerten Fahrer, da das Hippieviertel ziemlich abgelegen vom Rest der Stadt lag, beinahe wie ein eigenes kleines Dorf. Der Fahrer schlief vor Langeweile beinahe über dem Steuer ein und schenkte dem schwarzen Jaguar, der auf einmal neben ihm auftauchte und ihn kompromisslos überholte, nicht einmal ein Wimpernzucken. Gedankenverloren starrte Fye durch die Heckscheibe dem Pflug nach. "Der arme Mann." "Selbst schuld", knurrte Kurogane mit kaum verhülltem Desinteresse. Seit sich die beiden Männer vom Krankenhaus auf den Rückweg gemacht hatten, hatten sie kaum miteinander geredet. Weder über Claires- und nun auch Kyles- weiteres Schicksal, noch über ihre unbekannten Verfolger. Als Fye das Schweigen mit der Zeit auf die Ohren drückte, seufzte er und musterte seinen Kompagnon mit einem nachdenklichen Seitenblick. Man konnte zwar förmlich beobachten, wie Kurogane die Müdigkeit aus den Augen kroch, dennoch wirkte er, als wäre er nur mal eben bei der Post gewesen. Er schien Verfolger mehr als gewöhnt zu sein. "Kurogane?" "Hmmmmhhn?" "Danke." "Wofür denn nun schon wieder?" Der Blondling zuckte die Achseln. "Dafür, dass du mitgeholfen hast, Claire ins Krankenhaus zu bringen, schätze ich. Alleine hätte ich's wohl nicht geschafft. Und Kyle sicher auch nicht." "Das Baby, ist es-... ?" "Keine Sorge, dem Baby geht's gut. Bei der Entbindung ist es ohne Probleme durchgerutscht." "Warst du etwa dabei?" "Nein, wie hätte ich den Ärzten denn schon helfen können? Ich bin rein, nachdem es ausgestanden war, und hab Kyle guten Tag gesagt. Er wird dir gefallen, er ist richtig niedlich. Soooo runde Backen und ganz kleine Händchen!" "Im Ernst? Hat er nicht-... gebrüllt oder so?" "Natürlich nicht! Er hat geschlafen. Er hatte winzige Handschühchen an, damit er sich nicht kratzen konnte. Claire hat ihn im Arm gehalten. Und wenn man ihm den Finger gegeben hat, hat er sofort sein Fäustchen drum geschlossen!" Kurogane starrte Fye mit nur mühsam verhohlenem Erstaunen an. Der Blondling grinste verschmitzt. "Hey, was seh ich denn da? Wird der marode Mafia-Mann etwa schüchtern, wenn's um Babies geht?" "Von wegen!!", schnauzte der Killer sofort mit knallrotem Kopf, "Erstens bin ich nicht bei der Mafia, und zweitens hab ich kein Problem mit Babies, kapiert?! Ich hab nicht das geringste Problem mit Babies! Ich sehe jeden Tag Babies!" "Hi hi, du bist ja ein richtiger Wonneproppen, Kuro-mune!" "Bin ich gar nicht!!" "Dooooch!", maunzte Fye und bearbeitete seine rechte Schulter munter mit dem Zeigefinger. "NAIEN!! Und wenn du mich nicht gleich in Ruhe lässt, fahr ich uns in den Straßengraben!!" "Überleg dir das lieber. Jetzt wäre vielleicht der ungünstige Zeitpunkt." Die unerwartet sachliche Antwort ließ den Zorn des Schwarzhaarigen verrauchen. Skeptisch runzelte er die Stirn. "Ach ja? Und wieso, wenn ich fragen darf?" "Weil wir gebraucht werden. Ich nehme mal an, dir ist klar, dass wir für Claire jetzt die Väter des Babies sind?" Kurogane fielen fast die Augen aus dem Kopf. "Was?!!" Fye zuckte die Achseln und blickte geistesabwesend Richtung Windschutzscheibe. "Claire hat das gleiche Problem wie fast alle in diesem Viertel- sie hat eine Menge durchgemacht, und das, ohne auf Hilfe hoffen zu können. Ihr Freund ist abgehauen, als sie schwanger wurde, und ihre Eltern wollten keinen Enkelsohn, nachdem sie ihre Kinder endlich alle großgezogen hatten, aber Claire wollte das Baby behalten. Und wir beide haben heute mittag letztlich nur das getan, was jeder gute Vater getan hätte- seine Frau ins Krankenhaus bringen, wenn sie ein Baby bekommt. So scheint sie es jedenfalls zu sehen." "Hast du mit ihr geredet?" "Wie man's nimmt. Wir hatten eine lange Unterredung, wie es jetzt weitergehen soll. Viel ist noch nicht dabei rausgekommen, weil sie ja sowieso noch ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben muss. Aber fest steht schon mal, dass sie unsere Hilfe braucht, Kurogane. Sie ist alleinstehend und arbeitet den halben Tag als Serviererin, um durchzukommen. Und das Baby sollte nicht jetzt schon vernachlässigt werden, findest du nicht auch?" Kurogane verdrehte die Augen und seufzte wie ein unseliger Geist. "Und was sollen wir dann deiner Meinung nach tun?", erkundigte er sich schließlich, "Zwei Zentner Pampers und einen Riesenschnuller kaufen? Ich hoffe ja, dass du ihr nicht gleich das Blaue vom Himmel runterversprochen hast!" "Muss ich wohl doch getan haben, der Himmel ist grau", bemerkte Fye. "Ach verdammt, du weißt doch, was ich meine! Raus mit der Sprache, was hast du ihr gesagt?" "Ich hab ihr angeboten, dass sie bei uns einzieht." "HÄH?!!" "Ich hab ihr angeboten, dass sie bei uns einzieht", wiederholte der Blonde geduldig, "Unser Haus ist kein Palast, aber für eine alleinerziehende Mutter und ihr Baby wird es doch wohl reichen! Wenn sie gerade arbeiten muss, ist immer einer da, der sich für sie um Kyle kümmern kann! Und mit der Konditorei verdienen wir genug Geld, um die nötigen Sachen zu kaufen!" "Wie in Gottesnamen stellst du dir das bloß vor?", stöhnte Kurogane entnervt, "Hast du etwa Ahnung von Babies?" "Ich hab ebenso wenig Ahnung von Babies wie du. Aber zumindest einen Versuch ist es doch wert!" Fye lächelte ihn an. "Und wer weiß, vielleicht ist unser väterlicher Instinkt ja stärker, als wir denken." "Wenn ich kein Atheist wäre, würde ich sagen, du hast Gottes den Schaden!" "Wieso Atheist? Glauben ist doch was Gutes!" "Ja, aber nicht, wenn man von ihm die Lösung all seiner Probleme erwartet." Wie auf Kommando klappte Fye den Mund zu und schwieg. Unverzüglich nutzte Kurogane diese Chance. "Versteh mich nicht falsch, wenn du hier nicht meine Zustimmung findest, aber konntest du nicht einmal dein Hirn benutzen? Warst du bei dieser verdammten Verfolgungsjagd etwa nur körperlich anwesend? Wenn wir Claire und das Baby zu uns nehmen, sind auch sie in unmittelbarer Gefahr! Und ich glaube ja wohl, dass sterben etwas schlimmer ist als vernachlässigt zu werden!" Fye antwortete nicht. Offenbar hatte er einen sehr empfindlichen Nerv getroffen. Als er den Kopf senkte und auf seine Knie starrte, wirkte sein gesamter Körper auf einmal schlaff wie ein ausgehendes Kerzenlicht. "Sterben oder von seinen Eltern vernachlässtigt werden?", fragte er leise, "Ich würde sterben nehmen." Sein Kompagnon starrte ihn skeptisch von der Seite an. Schon wieder flackerte für wenige Momente diese kindliche Scheue in den fein geformten Zügen seines Gegenübers auf. Und so langsam verstand er, warum Fye diesem Baby und seiner Mutter so bedingungslos helfen wollte. Kein Wunder, wenn man aus Erfahrung spricht. Er seufzte. "Es tut mir leid, okay? Ich wollte dich nicht-... ich meine, ich hatte nicht vor, dich zu-..." "Schon gut", winkte der Blondling tonlos ab, "Aber ich will ganz einfach nicht, dass die beiden sich da ganz allein durchkämpfen müssen. Wir hatten in letzter Zeit auch Hilfe, wenn wir sie gebraucht haben. Es wäre ganz einfach ungerecht." "Das weiß ich doch", erwiderte Kurogane müde, "Aber glaubst du denn, dass es auf der Welt immer nur gerecht zugeht? Wir beide sind doch das beste Beispiel dafür, dass das nicht so ist!" Die hellen Hände des Blondlings krampften sich um den Gurt. Ein langes, unangenehmes Schweigen verging. "Seit ich dich kenne, Kurogane", sagte er dann mit dünner, kaum hörbarer Stimme, "Löschst du jede Nacht Leben aus. Aber heute hast du jemandem geholfen, überhaupt erst in dieses Leben zu finden. Denk mal darüber nach." Kurogane stutzte. Für den Bruchteil weniger Sekunden stahl sich so etwas wie Verwirrung in die zinnoberfarbenen Augen. Seine Hände am Lenkrad fühlten sich klamm und verkrampft an. "Hat sie-... ich meine, hat sie überhaupt schon-..." "Ja, sie hat schon längst eingewilligt", erwiderte Fye verärgert, "Sie hat sich fast die Augen aus dem Kopf geweint vor Freude darüber, dass ich ihr angeboten habe, zu uns zu kommen. Sie wusste weder ein noch aus, wo sie jetzt mit Kyle hinsollte, und sie hat gesagt, dass sie sich schon darauf freut, bei vier so wunderbaren Menschen einzuziehen. Und wenn sie 'vier' gesagt hat, Kurogane, dann hat sie wohl auch dich gemeint, oder? Sie war nie unfreundlich zu dir. Wir schulden ihr und dem Baby etwas." Der Schwarzhaarige schluckte schwer. Als er in den Rückspiegel sah, konnte er kein fremdes Auto hinter ihnen erkennen. "Wohin guckst du?" "Auf die Straße. Wir scheinen die Typen los zu sein." "Als du das Ablenkungsmanöver gefahren bist, ist da-... ?" "Es ist alles glatt gegangen. Und ich lebe noch, wie du siehst, also hör auf, dir Sorgen zu machen." "Also, dürfen Claire und Kyle nun bei uns einziehen? Ich verspreche nur ungern Dinge, die ich nicht halten kann." Mittlerweile am Ende seiner Nerven angelangt knirschte Kurogane mit den Zähnen. Dem Dickschädel dieses Kerls war einfach nicht beizukommen. "Ich weiß nicht-..." "Würdest du es für mich tun?", fragte Fye leise. Als der Killer verwirrt zurückstarrte, sahen ihn diese eisblauen Augen so weich an, dass ihm augenblicklich das Blut in die Wangen schoss. Kaum zu glauben, jetzt war er auch noch beeinflussbar geworden. Zögerlich warf er noch einen Blick in den Rückspiegel. Kein Auto weit und breit. Wozu hatte der Mensch ein Gewissen? Schieb's beiseite. Komm schon. Einfach beiseite damit. "Also schön, wenn's denn gar nicht anders geht", brummte er schließlich entnervt und zuckte schicksalsergeben mit den Achseln, "Aber nur, wenn es nachher was Extravagantes zum Abendessen gibt." "Saltimbocca alla romana, dazu eine Tagliatelle mit Pilzen, und zum Nachtisch Vanillekrem, wäre das dem Herrn angenehm?" "Deal", willigte Kurogane ein und schlug in die angebotene Hand ein, "Bei so einem Zuwachs an Mitbewohnern brauche ich einfach ein wenig Nervennahrung." "Du bist wundervoll", entgegnete Fye und sah ihn warm an, "Hab vielen Dank." Der Schwarzhaarige riss die Augen auf. "Ja also-...", stieß er wie aus der Kanone geschossen hervor, um ja nicht unbeholfen zu wirken, während schon die Auffahrt von Nummer dreiunddreißig am Straßenrand in Sicht kam, "Ja also-... ja! Ja! Also, eindeutig eben!" "Eindeutig eben! Hervorragend!", sagte der Blondling fröhlich und löste seinen Gurt, nachdem sein Kompagnon unfallfrei geparkt hatte, "Ich kann's kaum erwarten, das Shaolan-kun und Sakura-chan zu sagen, die platzen sicher schon vor Neugier!" "Dann geh schon mal vor und sag's ihnen", meinte Kurogane, "Ich glaub, bei der Hetzjagd hat der Wagen ein paar Macken abgekriegt, ich seh hier nur mal eben nach dem Rechten." "Okay, dann bis gleich! Wir bringen schon mal Leben in die Küche!" Sprach's, und schon war er Richtung Haustür abgezischt. Geistesabwesend starrte der Killer ihm nach. "Du bist wundervoll." "Man kann's auch übertreiben", knurrte er halblaut in sich hinein. Dann schloss er die Augen und lehnte sich zurück. Nachdem er sich halbwegs wieder auf den Teppich zurückgebracht hatte, griff er in seine Manteltasche und zog einen zweimal zusammengefalteten Zettel hervor. Die Liste. Sollte Fye ruhig denken, dass er nach dem Auto sah. Er konnte diese Diskussionen über Leben und Tod, über Moral und Mord und Jesus und Moses im Moment einfach nicht gebrauchen. Stirnrunzelnd musterte er die Namen der drei, die er bereits ausgeschaltet hatte. Chardonnay, Grant, Laroche. Grant und Laroche waren zwei Vorsitzende einer größeren Unterhaltungsgesellschaft gewesen, die an einer von Pantolianos Konkurrenzfirmen Aktienanteile gehabt hatte, und Chardonnay deren Anwalt. Drei in den Himmel geschickt, drei standen noch aus. Heute nacht würde er wieder losziehen. Doch als er den Namen seines nächsten Opfers las, erstarrte dieser letzte Satz in seinem Kopf wie eine Kette aus Eiszapfen. Alles verschwamm vor seinen Augen. Bis auf den schwarz gedruckten Namen auf der Liste. Kazuki Eishaki. Die Küche von Haus Nummer dreiunddreißig war von durchdringendem Plappern und Töpfeklappern erfüllt. Fye wartete schon mit dem Kochlöffel auf ihn. "Ah, Kuro-ron, da bist du ja endlich!" "Hey, Kurogane-san!" "Willkommen zurück!" "Hey", sagte Kurogane tonlos und hängte seine Jacke in den Eingang, bevor er auch in die Küche kam. "Komm schon, hilf auch mit! Die Pilze müssen noch geschnippelt werden, die Salbei-Garnitur für die Saltimbocca ist auch noch nicht gesteckt, die Vanilleschoten sind noch im Keller-..." Der Blondling hielt in seiner Aufzählung inne, als er das müde Gesicht seines Gegenübers näher beäugte. "Alles in Ordnung? Du bist ja ganz blass!" "Mir geht's gut", entgegnete Kurogane schlicht und krempelte die Ärmel hoch, "Ich fall nur gleich um vor Hunger." Sein Mitbewohner lachte fröhlich. "Leute, habt ihr das gehört? Dann lasst uns mal in den Pfannen rühren!" Gesagt, getan. Binnen weniger Minuten herrschte in der Küche der Betrieb eines Großrestaurants. "Ist das mit Claire nicht einfach klasse?", erwärmte sich Sakura, während sie mit dem Schwarzhaarigen die Pilze für die Tagliatelle klein schnitt, "Dass sie zu uns zieht, meine ich! Mit Kyle! Ich liebe Babies! Wie sieht er aus, Fye-san?" "Süß", erklärte Fye, "Er hat die ganze Zeit geschlafen." "Am Anfang verpennen Babies ja auch noch das meiste", grinste Shaolan und schüttete eine Packung Tagliatelle in den Kochtopf, "Kein Wunder, dass man vom Beginn seines Lebens nur noch so wenig weiß!" "Dann kann sich Claire ja morgens um das Baby kümmern, Shaolan und ich mittags, und du und Kurogane-san abends!" "Wieso abends? Abends muss man doch die Windeln wechseln!", sagte Kurogane hastig. "Wir könnte uns ja eine Plastikpuppe kaufen. Zum Üben!", schlug Fye vor. "Und wir haben in unserem Biobuch auch ein Kapitel über Babies!" "Da steht doch nur drin, woher die Babies kommen, und nicht, wie man ihnen die Windeln wechselt..." "Dann fragen wir Miss Garfield, die hat doch auch gerade ein Baby! Vielleicht borgt sie uns ein paar ihrer Sachen!" "Genau! Mann, das wird sicher geilo! Das ist dann, als ob wir auch die Eltern wären!" "Eben", strahlte Sakura, "Hey, und wenn wir schon bei 'sicher' sind: die Versicherung hat heute mittag angerufen!" "Ja?", fragte Fye sofort, "Und, gibt's Neuigkeiten?" "Ja, sie haben gesagt, weil der Täter noch nicht gefunden wurde, übernimmt sie die Schäden, die bei dem Brand entstanden sind. Ach, und Eishaki-san hat auch noch angerufen!" "Eeeeecht?", freute sich der Blondling, "Und? Wie geht's ihm? Was hat er gesagt?" "Er hat gesagt, seine Suche nach Rechtsfällen war erfolgreich, und er bringt sie uns demnächst vorbei. Er wollte immer schon mal sehen, wo wir wohnen. Und er hat geraten, uns einen Anwalt zu suchen. Müssen wir doch sowieso, oder?" "Keine Sorge, ich habe da schon so eine Ahnung, wen wir nehmen könnten." "Wen?", fragte Kurogane Fye misstrauisch, doch der grinste nur. "Die Vanilleschoten sind immer noch im Keller!", verkündete er dann mit dramatischer Geste, "Und ihre Schreie dringen von unten herauf! Kuro-chiimu, hilfst du mir dabei? Shaolan-kun, Sakura-chan, übernehmt ihr dann solange hier?" "Aber klar!" "Prima! Na komm schon, Kuro-asango!" "Schon unterwegs", ächzte Kurogane und erhob sich mühsam von seinem Stuhl, um sich von seinem beflissenen Kompagnon am Handgelenk aus der Küche schleifen zu lassen. Mit einem Lächeln sah Sakura ihnen nach. "Muss Liebe schön sein", sagte sie fröhlich und verfrachtete eine neue Ladung Pilze in den Kochtopf. "Japp", bestätigte Shaolan und legte ihr einen Arm um die Schulter, "Das muss es wirklich." "Ummpf-..." Langsam erwachte Kurogane aus tiefstem Schlaf. Es dauerte seine Zeit, bis er beide bleischweren Lider lange genug offenhalten konnte, um sich ein Bild seiner Umgebung machen zu können. Verwirrt bemerkte er, dass er auf dem Sofa im Wohnzimmer saß. Auf der Mattscheibe des altersschwachen Fernsehers lief gerade der Abspann eines alten Ballerstreifens. Mit einem Seufzen erinnerte sich der Killer, dass sie nach dem Essen noch zu viert einen Film angesehen hatten. Die Kinder, vollgestopft mit dem köstlichen Abendbrot und hundemüde, waren schon längst in die Betten abgedampft. Mühsam unterdrückte der Killer ein Gähnen und warf einen Blick auf die Uhr am Durchgang zur Küche. Es war fast drei Uhr am Morgen. Draußen war es noch stockdunkel, und im fahlen Licht der Straßenlaternen konnte man erkennen, dass es wieder einmal zu schneien begonnen hatte. Eishaki fiel ihm ein. Kurogane seufzte tief und schloss hilflos die Augen. Okay. Okay. Steh erst mal auf, bevor du hier wieder deine Anwandlungen kriegst. Er atmete kurz durch, um sich auf die mühsame Aufsteh-Orgie vorzubereiten, denn das Sofa war alles andere als sitzfreundlich, und wollte sich schon hochstemmen, als er plötzlich etwas Warmes an seiner Schulter fühlte. Perplex schaute er an sich hinunter, und stellte fest, dass es Fye war. Er schlief tief und fest. Sein Kopf lehnte bewegungslos an Kuroganes Brust. Beide Lider ruhten auf einem Kranz heller Wimpern. Na wunderbar. Hab ich eigentlich gepennt zu dem Zeitpunkt? Mit einem unterschwelligen Brummen löste der Killer seinen linken Arm aus dem schlaff gewordenen Klammergriff des Jüngeren und klopfte ihm ein wenig auf die Schulter. "H-hey-...", sagte er ebenso leise wie unbeholfen, "Hey, ähh... komm. Zeit fürs Bett. Na komm schon." Die einzige Reaktion vonseiten des Jüngeren war, dass er leicht im Schlaf zuckte. "Es ist drei Uhr. Komm schon. Augen auf." Der Appell verhallte unerhört. Der Blondling schlief so tief, als hätte er ganze Wochen und Monate des Schlafs nachzuholen. Kurogane stieß einen bodenlosen Seufzer aus und ließ sich mit geschlossenen Augen wieder nach hinten sinken. "Also schön", murmelte er schließlich mehr zu sich selbst, "Ich schätze, du brauchst Ruhe. Ich bring dich hoch ins Bett... und dann schläfst du erst mal 'ne Runde, hmh? Und dann sehen wir weiter." Die Antwort war nur ein weiterer, ruhiger Atemzug. Der Killer seufzte wieder. Müde starrte er zum Wohnzimmerfenster hinaus, ins lautlose Schneegestöber der Nacht. Nach einer langen, hitzigen Debatte mit seinem inneren Schweinehund kämpfte er sich schließlich stöhnend und ächzend vom Sofa hoch, wobei er höllisch aufpassen musste, um den blonden Klammeraffen an seinem Hals nicht zu wecken. Mit einem bleischweren Gefühl im Magen setzte er Fye auf dem Sofa ab und schob ein Kissen unter seinen Kopf. Mit einem Stirnrunzeln musterte er die schmale, fein gebaute Gestalt des Blondlings. Sein so ungewohnt ruhiges Gesicht, in das Strähnen seines blonden Haares fielen. Seine entspannten, schlankgliedrigen Hände. Seine Kehle wurde eng. "Sag mal, was in aller Welt tust du nur mit mir?", sagte er vorwurfsvoll und breitete eine Decke über Fye aus. Nach fünf endlosen Minuten wandte er sich ab und betrat lautlos den Hausflur, um seinen Mantel anzuziehen. Sein Katana lehnte an der Wand neben der Garderobe und wartete auf ihn. Doch diesmal kam ihm das Warten nicht wie das Warten eines alten Freundes vor. Mit einem steinharten Kloß im Hals nahm Kurogane es an sich, bevor er die Eingangstür aufzog. Wieso muss die Welt nur so verdammt ungerecht sein?, fragte er sich und trat in die Nacht hinaus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)