Chrysalis Soul von -Soul_Diver- (Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]) ================================================================================ Kapitel 9: Across The Volcano ----------------------------- -"Die Entbehrung erzeugt Macht der Seele und des Geistes."- (Victor Hugo) ~~ Der Gestank war widerwärtig. Als der Gerichtsmediziner Dr. Robert Johansen die Plastikplane lüftete, stieg der faulige Dunst von verwesendem Fleisch in die Nasen der anwesenden Polizisten wie Aladins Geist aus der Lampe. Ein kollektives Aufstöhnen ging durch die Runde, und die etwas zarter Besaiteten pressten sich hustend entweder ihre Hand oder ein Taschentuch vor den Mund. Der schlanke, ein wenig spillerig wirkende junge Mann neben Johansen räusperte sich dezent und rückte seine Brille zurecht. "Ist ja ekelig." Johansen schüttelte verständnislos den Kopf. "Was denn, Tsukishiro? Sind doch nur zwei Leichen, du meine Güte aber auch! Jetzt sind Sie schon ein Jahr unter meinen Fittichen und vertragen diesen apettitanregenden Duft immer noch nicht? Stellen Sie sich einfach vor, Sie sitzen im Restaurant!" Yukito Tsukishiro hob skeptisch die Augenbrauen. "Na lecker. Der Küchenchef empfiehlt heute: totes Ehepaar im Gemüsebett. Und die rote Soße gibt es gratis dazu." Bei diesen Worten schaute er auf den tadellos mit Blut besprenkelten Wohnzimmerboden. Johansen, der wie üblich nur mit halbem Ohr zuhörte, vernahm die immer noch andauernden angewiderten Laute vonseiten der Polizisten hinter seinem Rücken, und verdrehte die Augen wie ein Kindergärtner, dessen Schützlinge mal wieder gar nichts kapierten. "Sehen Sie, das haben Sie jetzt davon. Typisch Polizisten! Erst unbedingt die Leichen sehen wollen und dann gleich wegen nichts und wieder nichts 'nen Kotzanfall kriegen. Die Toilette ist übrigens dort drüben." Die einzige Antwort, die der hagere Frühfünfziger mit dem ausrangierten Bürstenhaarschnitt bekam, waren übermüdete, genervte Bullenblicke aus rotgeriebenen Bullenaugen. Okay, das mit dem übermüdet konnte er zumindest nachvollziehen- dienstags, um fünf Uhr morgens, bei einer Temperatur, bei der einem der Arsch am Autositz festfror und mit Aspirin plus Automatenkaffee als Frühstück konnte man von Durchschnittsbullen keine Luftsprünge erwarten. Und wenn man's doch tat, war man hinterher selbst schuld. "Leute! Kameraden! Brüder!", sagte der Pathologe schließlich genervt, "Wie wäre es mal mit ein paar Informationen für den schrulligen Gerichtsmediziner und seinen durchgeknallten Handlanger? Wieso sind Sie überhaupt noch hier?" Einer der Detectives wollte schon den Mund aufmachen, als vom Eingang her plötzlich eine energetische Stimme laut wurde. "Um den Tatort abzusichern, Johansen! Und um auf mich zu warten. Also stecken Sie ihre Häme für einen Moment zurück!" Sämtliche Polizisten am Ort nebst Yukito und Johansen fuhren herum und blickten dem Kommissar ins Gesicht, der mit langen Schritten und allen Anzeichen eines arbeitsneurotischen Polizeibeamten ins blutverzierte Wohnzimmer gehastet kam. "Also, was haben wir?" "Noch nicht viel, Chef", meldete sich einer der Detectives zu Wort, "Die anderen Räume zeigen nichts Verdächtiges. Anscheinend hat sich alles im Wohnzimmer abgespielt." "Vortrefflich, das schränkt wenigstens den Untersuchungsbereich ein. Ich hoffe, Sie haben nichts angedatscht? Fullright und die Typen von der Spusi kommen erst gegen Nachmittag, die wühlen noch am Navras-Tatort in allen Ecken nach Hinweisen." "Keine Sorge, Chef, alles unberührt." "Guter Mann. Ich würde sagen, Sie kontrollieren das Gebiet noch, bis die Spusi kommt und gehen dann zurück aufs Revier." "Wird gemacht." Johansen, der dieser Unterhaltung bis jetzt ohne Zwischenkommentar gelauscht hatte, musste grinsen. "Typisch Kinomoto. Fünf Uhr morgens, und unser Bullenboss hat wie immer nur die Arbeit vor Augen." "Jaja, Johansen, Sie mich auch. Sagen Sie mir lieber, was Sie beide rausgefunden haben." Mit einem ernsten Ausdruck in den tiefblauen Augen ging Toya Kinomoto vor den zwei Leichen in die Hocke und musterte die tiefen Wunden an beiden Körpern, die sich wie hässliche, blutverkrustete Blitze über Brustkorb und Arme zogen. Madeleine und Ludwig Delnatte. Verheiratet. Organspender. Zumindest stand das so in der Akte. Die Bibel aller Polizeibeamten. "Also? Yukito?" "Also", begann der bebrillte junge Mann, "Hier haben wir's mit einem K.O zu tun. Irgendetwas Langes, Scharfkantiges hat eine größere Anzahl tiefer Schnitte an einigen heiklen Körperzonen angebracht, zum Beispiel Schlagaderzentren, Brustbein, Halspartie." "Meiner Meinung nach war das allerdings Absicht", ergänzte Johansen, "Die Stöße sind total sauber geführt, soweit ich das jetzt erkennen kann. Und die Einschneidespuren gehen sehr tief, das erkennt man an diesen Blutrinnseln. Offenbar war der Angreifer unseren beiden weit überlegen. Zumindest, was körperliche Kraft und Ausdauer anbelangt." "Wie lange hat es gedauert, bis sie tot waren?", fragte Toya weiter. "Genau kann man das jetzt noch nicht sagen. Aber lange hat's auf jeden Fall nicht gedauert. Der Mörder wusste offenbar, wie er die Hiebe anbringen musste, damit beide sofort ihr Lichtlein ausknipsen." "Heilige Scheiße", murmelte der Kommissar, bevor er sich schließlich wieder vom Boden erhob. In seinen Augen flackerte es. "Kommissar? Denken Sie, wir haben es hier mit einem Serienkiller zu tun?", fragte Yukito. "Sicher mit einem dieser Psychos", meldete sich einer der Detectives vom anderen Ende des Raums, "So 'n kranker, asozialer Spinner, der sich im Blut seiner Feinde herumsuhlen muss, um glücklich zu sein." Zustimmendes Gemurmel ertönte unter den anderen Beamten- Toya jedoch schüttelte entschieden den Kopf. "Nein! Nein, auf keinen Fall. Jemanden ermorden, das kann jeder Depp. Und gerade diese "Spinner", wie Sie's so schön formuliert haben, würden es sicher nicht bei so wenigen Schnitten bewenden lassen. Psychisch beeinträchtigte Mörder töten, um zu existieren. Dieser Killer hier wusste ganz genau, was er tat. Jedenfalls genauer als ein kleiner Psycho, der nur mal auf den Putz hauen wollte." Eine Weile lang sagte niemand etwas. Jeder versuchte sich vorzustellen, wie es war, von einem kleinen Psycho abgestochen zu werden. Kein allzu berauschender Gedanke. "Ich will, dass hier jeder Quadratmillimeter auf Hinweise untersucht wird!", brach der Kommissar schließlich das Schweigen, "Machen Sie sich an die Arbeit! Schaffen Sie Zeugen ran! Befragen Sie die ganze Nachbarschaft auf verdächtige Vorkommnisse, stellen Sie fest, wo die Delnattes gearbeitet haben, suchen Sie nach Familienangehörigen, prüfen Sie, ob es irgendwelche Feindschaften in ihrem Leben gab, horchen Sie ihr soziales Umfeld aus! Stellen Sie alles unter polizeiliche Untersuchung, was Sie zu fassen kriegen! Ich will Ergebnisse! Johansen, Yukito", wandte er sich schließlich an die beiden Gerichtsmediziner, "Von Ihnen verlange ich, dass Sie alles über den Tod von Mister und Missis Delnatte herausfinden. Alles, verstanden?" "Alles?", fragte Johansen mit einem ziemlich obszönen Grinsen. "Ja, alles! Von mir aus auch, wie oft sie gepoppt haben, bevor sie umgelegt wurden!" "Aye, mi Käpt'n. Dazu müssten wir unser schmuckes Pärchen allerdings in die Pathologie einladen." "Von allein werden die wohl kaum mitkommen." "Dann stecken wir sie halt ins Auto und kutschieren sie. Sind eben zu faul zum Aufstehen." "Das riecht man." "Sie Scherzkeks. Also gut, dann nehmen wir sie ins Institut mit." "Wie sieht's mit diesen Geschäftsleuten aus? Yamazawa und Navras, oder wie die auch hießen?" "Sind schon vor Ort. Aufgespießt wie Sardellen. Tsukishiro, bei Fuß! Holen Sie die Bahre und sagen Sie dem Fahrer bescheid!" "Geht klar, Chef. Bis dann, Kommiss-- eh, ich meine, Toya!" Die beiden Arbeitstiere sahen dem jungen Handlanger nach, wie er den Hausflur verließ und die Auffahrt des kostspieligen Grundstücks hinunterrannte. "Ich dachte, Sie hätten Yukito diesen Floskelzwang abgewöhnt, Johansen?" "Warum denn immer ich? Mich muss er berufshalber Johansen nennen!" "Wir sind Freunde. Mir wurde beigebracht, dass sich Freunde mit Vornamen anreden." "Hm. Gar nicht so unlogisch, der Gedanke. Ihre Mutter muss ein heller Kopf gewesen sein." "Bitte, Johansen. Keine Privatgespräche." Der Pathologe zuckte die Achseln. Das war auch ein typisches Merkmal seines Chefs- immer, wenn die Rede auf privatere Themen wie Familie oder Freunde kam, blockte er sofort ab. Naja. Hatte vielleicht 'ne unglückliche Liebschaft gehabt oder so. "Denken Sie, wir fassen diesen Scheißkerl?", fragte er schließlich. "Gute Frage. Aber man kann schon anhand der Leichen erkennen, dass er offenbar weiß, wo er dran ist. Es würde mich nicht wundern, wenn zwischen diesen Toten und den beiden letzten ein gewisser Zusammenhang besteht. Das waren sicher nicht die letzten Morde. Könnte sich unter einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu 'ner längeren Geschichte entwickeln." Lähmende Stille breitete sich in dem Wohnzimmer aus. Johansen schluckte. Wenn der Kommissar seine Jargonvokabel "unter einer gewissen Wahrscheinlichkeit" benutzte, dann kam es hundertprozentig so, wie er es sagte. Und da er ein eingefleischter Pessimist war, bedeutete das selten etwas Gutes. Nie, um genau zu sein. Wenn das mal gutging. ~~ Das Telefon in der Zentrale schellte in einer Tour. In regelmäßigen Abständen schepperte das antike Drehding so heftig, dass der Hörer jedesmal nachzitterte. Sergeant Dick Burns zollte diesem Fakt ungefähr so viel Interesse wie ein Sack voller Runkelrüben. Mit der Ruhe eines Stoikers tat er einfach weiterhin das, was er schon den ganzen Morgen über gemacht hatte- Stuhlkippeln. Das Telefon ließ sich seinerseits ebenfalls nicht beirren. Seufzend spürte Burns, wie sich hinter seinen Schläfen schon wieder dieser Schmerz zu melden begann, der ihn bereits die ganze letzte Woche über geplagt hatte. Die stoische Ruhe ging so schnell, wie sie gekommen war. Bitte nicht schon wieder. "JOE!! Geh endlich ans Telefon, ich krieg noch die Krätze hier!!", brüllte der Sergeant schließlich am Ende seiner Nerven nach draußen auf den Gang, wo gerade sein Kollege Joe Prader mit einer Riesenkiste voller Lamettaband im Schlepptau vorbeitappte. "Jesus, geh doch einfach selbst! Ich muss den Eingangsschalter dekorieren!" "Verdammter Lamettapisser! Wofür wirst du eigentlich bezahlt?!" "Heute fürs Schalterdekorieren! Herrgott nochmal, es wird dich ja wohl nicht umbringen, wenn ausnahmsweise du gehst!" Burns stieß ein Stöhnen aus wie eine gebärende Seekuh und griff nach dem Telefonhörer. "Feuerwehrzentrale Kingstonville, Bezirk zwanzig bis dreißig, Sergeant Dick Burns am Apparat, kann ich Ihnen behilflich sein?", leierte er angeödet den Spruch runter, den er schon seit zehn Jahren jedesmal herbeten musste, wenn er einen Anruf aufnahm. "Seien Sie mir gegrüßt, Dick. Na, alles frisch? Wie geht's der Familie?" Burns riss die Augen auf und wurde binnen weniger Sekunden kreidebleich, als er die Stimme am anderen Ende der Leitung wiedererkannte. Dann stand er hastig auf, warf einen Blick auf den Gang und schloss vorsorglich die Tür zu seinem Büro, bevor er sich wieder auf seinen Stuhl fallenließ. Plötzlich fühlte er sich um mindestens zehn Kilo schwerer. "Ahm-... g-guten Tag, Sir. Mir geht's gut. Der Familie auch." "Das hört man gern. Doch nun zum Geschäftlichen. Hören Sie, Dick, es gibt Arbeit für Sie." "G-gern. Es freut mich jedesmal, mit Ihnen zusammen zu arbeiten, Sir. Ich-... i-ich nehme doch an, dass alles legal ist?" "Aber Dick, ich würde doch niemals etwas von Ihnen verlangen, das nicht vollkommen legitim wäre. Und darüber hinaus wird das Honorar gewiss Ihren Vorstellungen entsprechen." Burns versuchte vergeblich, den steinernen Kloß in seiner Kehle runterzuwürgen. Du selbstverliebter, kommerzgeiler alter Arsch. Ich mach das schließlich nur wegen des Geldes! "Und was genau müsste ich tun, Sir?" Die Stimme am anderen Ende der Leitung ließ ein amüsiertes Kichern hören. "Oh, heute geht es nicht um etwas, das Sie tun müssen, sondern um etwas, das Sie nicht tun müssen. Passen Sie auf..." Während der Sergeant seinem Auftraggeber lauschte, verfärbte sich sein Gesicht nach und nach immer mehr ins Weiße. Verdammte Scheiße nochmal. Das kann der nicht von mir verlangen! "A-aha. Aber-... wissen Sie, es besteht die Gefahr, dass andere aus meiner Sparte oder die Polizei-..." Wieder kicherte es an seinem Ohr. "Keine Sorge, diese Stümper Kinomoto und Fullright haben wir ganz fest im Griff. Niemand wird Ihnen etwas nachweisen können. Also, denken Sie, Sie könnten das für uns einrichten? Wir wären Ihnen mehr als dankbar." Burns wischte sich den kalten Schweiß von den Stirn, obwohl er gar nicht schwitzte. Oh Allmächtiger. "A-also... also schön. In Ordnung. Ich kümmere mich drum." "Ausgezeichnet. Sie sind ein guter Junge, Dick." Klick. Stille. Mit einem Gefühl, als ob er mit einem Schlag um zwanzig Jahre gealtert wäre, starrte Burns das Telefon an. Eine Mischung aus Ärger und Hilflosigkeit überkam ihn, und ehe er sich versah, knallte er den Hörer so heftig wieder auf die Gabel, als wolle er etwas Widerwärtiges, Beschmutztes von seinen Händen schütteln. Mieses Italienerschwein. Zehn Uhr in der Früh. Ein neuer Morgen brach an. Draußen auf den Straßen erwachte das Leben, wie es das jeden Tag aufs Neue tat- und ebenso bewies sich wieder, dass es sogar im Hippieviertel von Kingstonville sowas wie einen Alltag gab, wenn auch nur auf seine eigene Art. Eine Handvoll Kinder spielte auf dem Bürgersteig der Beethovenstraße johlend Ball. Missis Robinson und ihr Mann versuchten vergeblich, ihr altersschwaches Auto zu reparieren, das wohl nur noch durch eine göttliche Fügung des Schicksals zusammengehalten wurde. Im Badezimmer von Haus Nummer dreiunddreißig starrte Shaolan unwillig auf das randvoll gefüllte Waschbecken. "Muss ich wirklich, Mann?" "Jetzt stell dich doch nicht so an, Shaolan!", trällerte Fye fröhlich, während er seinen klitschnassen Nacken ein wenig per Ein-Hand-Massage zu entspannen versuchte, "Denk doch an, an-... an Benjamin Blümchen! Der musste seinen Heldenmut auch mal beweisen, indem er ins kalte Wasser gesprungen ist!" "Ich mag den aber nicht, Mann", erklärte der Teenager ohne große Umschweife, "Dieser elende Zuckerstückchen-Vergewaltiger!" "Gottchen, hast du 'ne Elefantenphobie? Und wie in aller Welt vergewaltigt man ein Zuckerstückchen?" "Indem man es isst", erklärte Sakura von der Badewanne aus, bevor sie ein wenig heißes Wasser nachlaufen ließ. "Dann tötet man es doch! Hast du schon mal 'nen Vergewaltiger gesehen, der sein Opfer aufisst?" "Ja, in Vendetta Bitch, Teil drei. Der Hauptdarsteller verspeist seine Geliebte noch während dem Sex. Stimmt's, Shaolan?" "Jepp. Nach dem Film musste ich fast kotzen. Also ein guter Vergleich zu Benjamin Blümchen." "Dann schauen wir uns eben mal einen intelligenteren Film an! Zum Beispiel King Kong oder Godzilla! Oder Rambo!", schlug Fye emsig vor, während er seine Halssehnen knacken ließ, "Kurogane hat gesagt, dass man nach Rambofilmen gut einschlafen kann! Ich hab ihn übrigens gestern abend gefragt, ob er uns nicht mal besuchen kommen will!" Sakura drehte den Wasserhahn ab und warf Shaolan einen fragenden Blick zu, der als Antwort nur die Achseln zuckte. "Hör mal, Fye-San... was ist dieser Kurogane eigentlich für ein Mensch, dass du fast nur noch von ihm redest?" "Er ist total lustig!", legte der Blondling sofort los, "Er ist ungewöhnlich! Er hat ein Cut-... äh, Katana! Und er will mich ständig töten! Das ist richtig spannend, im Ernst jetzt! Er würde euch ganz bestimmt gefallen!" "Wie sieht er aus? Hat er Muckis? Ist er ein Sweetie oder sexy?" "Mann, Sakura!", rief Shaolan empört. "Er ist hoch gewachsen und schwarzhaarig", erklärte Fye fröhlich, "Und er kommt aus Japan, auch wenn man's ihm kaum ansieht. Ich würde ihn ja eher unter sexy einstufen, aber er hasst es, sexy zu sein. Er will nie heiraten, hat er mir mal erzählt." "Okay, Fye-San, wenn er Muckis hat und sexy ist, kann er ruhig mal zu Besuch kommen." "EY!! Mensch!!", maulte Shaolan und warf ein Badelaken nach seiner Freundin. "Mann, Shaolan, krieg dich ein", lachte Sakura, "Ich würd ihm schon nichts weggucken! Oder soll ich wieder Karaoke zu Der Mann in meinem Leben singen, damit du mir glaubst?" "Schon okay, ich glaub dir doch alles", seufzte der Teenager, "Machen wir lieber hinne, es ist schon fast viertel nach zehn." "Hey, chill mal! Miss Garfield ist doch viel zu idealistisch, um einen Schüler zu töten!" "Hey, vergiss nicht: tote Menschen, Folge: steigende Petroleumpreise, hat sie doch gesagt!" "Im Ernst?", lachte Fye und gab es auf, diesen stechenden Schmerz aus seinem Hinterkopf wegkneten zu wollen, der ihn mal wieder die ganze Nacht hindurch geplagt hatte, "Na, dann gehe ich schon mal runter und setze den Tee auf, damit die Petroleumpreise niedrig bleiben, okay?" "Das wär super, Fye-San! Und vergiss nicht, diesen Kurogane mal einzuladen." "Keine Sorge, irgendwann überrede ich ihn schon noch!" Der Blondling verabschiedete sich noch mit einem Lächeln und zog die Tür hinter sich zu. Kaum, dass er draußen war, klammerte er sich an der Klinke fest und holte tief Luft, während der Schmerz immer noch wie tausende zuckende, glühende Blitze durch seinen Hinterkopf schoss. Seine Knie zitterten. "Sie verkraften nicht viel, kann das sein?" Fye lächelte schief und musste all seine inneren Selbstüberredungskünste aufbringen, um die Klinke loszulassen und in unbeholfenen Schritten durch den Flur in Richtung Treppe zu stolpern. Hoffentlich würde er es schaffen, ohne kotzen zu müssen. Wenigstens heute. Mann, was war er doch für ein Weichei. Schätze, Sie hatten Recht, Kurogane. Halb fünf Uhr am Nachmittag. Die vermummte Gestalt hatte sich hinter einem schweren Geländewagen versteckt, der wohl nur einem dieser reichen Oberfutzis gehören konnte. Naja, reiche Oberfutzis wuchsen in diesem Viertel ohnehin auf den Bäumen. Argwöhnisch schielte die Gestalt um die Motorhaube herum und beobachtete den Fußweg, der ihn noch von seinem Ziel trennte. Die Luft war rein. In einem lautlosen Sprint überquerte sie die Straße, sprang behende über den Zaun, der das Grundstück des Hauses Nummer fünf säumte und verschwand im Hinterhof. Mit einem lautlosen Ächzen stellte sie die beiden enormen Tanks ab, die sie bis jetzt mit sich herumgeschleppt hatte. Na dann mal los. Wenige Minuten nach fünf Uhr. Fye trällerte gut gelaunt den Refrain des Liedes aus dem Radio mit, während er Zucker, Butter und Sahne in einer großen Plastikschüssel verrührte. Er hatte ewig keine Sahnekaramellen mehr gemacht und wollte schon mal für Weihnachten üben. Sein Hinterkopf schmerzte zwar immer noch, aber immerhin nicht mehr so unerträglich wie heute morgen. Munter summte der Blondling noch die letzten Töne des populären italienischen Schlagers gemeinsam mit dem Sänger. "... sooo, und das war Dipinto Felice mit 'Viva Viva'! Auch heute ist dieses nette kleine Stückchen Musik im ganzen Land beliebt, und das nicht nur bei unseren Itakern! Doch bevor wir mit dem nächsten Hit weitermachen, kommen wir noch rasch zu den Blitznachrichten! Lass uns hören, Tom! Was geht heute so in Kingstonville ab?" "Oh, einiges, Aidan. Vor wenigen Minuten ist ein ganz ungewöhnlicher Anruf bei uns eingegangen: im Reichenviertel ist offenbar ein Vesuv am Ausbrechen, und zwar in der Schillerstraße! Mensch Leute, ruft einfach doch den Notdienst an, damit wäre doch alles--..." Noch bevor der Radiosprecher zu Ende berichtet hatte, fiel die Schüssel. Fyes Augen weiteten sich. "Kurogane", flüsterte er und stürzte Hals über Kopf zur Garderobe. "Äh, entschuldigen Sie, Sir, würden Sie mich bitte durchlassen? Es ist dringend!" Der hochgewachsene Schwarzhaarige würdigte das magere, rothaarige Männlein keines einzigen Blickes. "Gehen Sie um mich rum. Da ist genug Platz." "Aber ich muss--" "GEH UM MICH RUM, NATZKOPF!!" Der leicht eingetrocknet wirkende Rotschopf in den Sechzigern schien für einige Sekunden nicht genau zu wissen, wie er reagieren sollte- empört darüber, wegen nichts und wieder nichts derartig angekeift zu werden, oder verwirrt über dieses seltsame Schimpfwort. Schließlich entschied er sich ungefährlichsten Zwischenweg und lief um das schwarzhaarige Ungeheuer herum, um in einem meisterhaften Sprint die Straße hinunter zu spurten und zwischen den Wohnblocks und Villen zu verschwinden. Kopfschüttelnd sah Kurogane ihm hinterher. Was war denn heute bloß wieder los? Das war jetzt schon dritte gewesen, der auf seinem Weg durchs Reichenviertel an ihm vorbeigefußelt war wie eine Sau auf der Flucht vor dem Schlachtmesser, Normalerweise hätte er sich spätestens jetzt darüber aufregen müssen, nicht einmal auf seinem Heimweg in Ruhe gelassen zu werden; die erwartete Wut jedoch wollte und wollte sich nicht einstellen. Naja, kein Wunder eigentlich. Er war eh den ganzen Tag über völlig längs der Kappe gewesen. Schon seit er an diesem Morgen aus komatösem Schlaf erwacht war wie ein Untoter aus seinem Grab, hatte er sich seltsam unstet gefühlt, beinahe schon leblos, wie einer dieser Tiefkühlpizza fressenden Zombies aus der Werbung. Stundenlang war er in seinem Haus umhergewandert, um sich wieder auf die Beine zu bringen. Hatte den Telefonhörer abgenommen und wieder aufgelegt. Hatte gedankenverloren mit seinem Katana herumgespielt. Hatte seine Hände angestarrt, seine japanischen Hände. Unschlüssig. Ratlos. Als würde er nach etwas suchen. Aber nach was? Was diesen blonden Volldepp betraf, nach dem sehnte er sich nun wirklich nicht- er hatte jeden Winkel der Küche durchkämmt, um auch wirklich sicher zu gehen, dass sich sein ungebetener Gast nicht etwa über Nacht in seinem Küchenschrank eingenistet hatte. Aber er war längst weg gewesen. Vermutlich schon seit gestern Nacht. Trotzdem, seltsam war es trotz allem gewesen. Dieses Gefühl, als ob ihm plötzlich irgendetwas abhanden gekommen wäre. Und weil ihm die totengleiche Stille in seinem Haus zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gehörig auf die Nieren gegangen war, und er zudem auch keine rechte Lust gehabt hatte, seinen Mantel schon wieder mit dem Blut eines Opfers zu besudeln, hatte er sein Äußeres auf ein halbwegs gesellschaftsfähiges Niveau gebracht und war in die Innenstadt abgewandert, um sich in die erstbeste Bar zu hocken, in der die Drinks noch zu Preisen angeboten wurden, die das Portemonnaie nicht beleidigten. Tja, und dann hatte er gesoffen, und das stundenlang. Unter den verwirrten Blicken des Barkeepers hatte er Glas um Glas, Whisky um Whisky und Gin um Gin gestürzt- bis hin zu jenem Punkt, an dem er immer begann, sich elend zu fühlen. Elend wie ein Lumpensack, elend wie ein Opa, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte und jetzt doch ohne Rente klarkommen musste. So elend war ihm schon ewig nicht mehr zumute gewesen. Allerdings war das auch nicht verwunderlich- denn während er in dieser Bar gesessen war, war ihm seit langer Zeit wieder klargeworden, was für ein armer Tropf er doch eigentlich war. Ja, das war's. Ein armer Tropf. Der Witz der Woche. Ein Japsenwitz für die Bild am Sonntag. Was macht ein Japaner, wenn er sich gottverlassen fühlt und es sich nicht eingestehen will? -Er geht sich besaufen! Schade nur, dass er nicht besoffen war. Jedenfalls nicht wirklich. Verdammt nochmal, nicht einmal ordentlich besaufen konnte er sich! War das denn so schwer? "Entschuldigen Sie, Sir--?" Zwei weitere Passanten ließ den Schwarzhaarigen aus seinen Gedanken hochschrecken. Er knurrte. "Lassen Sie mich raten, Sie wollen an mir vorbei, was?" Die beiden Orgelpfeifen nickten. Kurogane hob geringschätzig die Augenbrauen. "Darf ich dann zunächst fragen, was sich schon wieder in diesem verdammten Viertel abspielt, dass hier eine derartige Völkerwanderung im Gange ist? Verteilt die Caritas heute Gratis-Gehirne?" Mit dieser rhetorischen Frage hatte er gar nicht so Unrecht- es waren für diese Tageszeit verdächtig viele Leute unterwegs, und alle liefen sie in die gleiche Richtung, fast wie eine Schar von Lemmingen. Die beiden Orgelpfeifen tauschten einen Blick aus. "Haben Sie's noch nicht in den Kurznachrichten gehört? Dort vorne soll irgendwo etwas gewaltig am Kochen sein!" "Am Kochen? Werden Sie doch bitte deutlicher, bei diesen bekloppten Standard-Floskeln versteht ja kein Mensch--..." "Dort", sagte Orgelpfeife eins und deutete unter heftigem Nicken von Orgelpfeife zwei nach vorne. Argwöhnisch hob der Killer den Blick. "Wo dort? Ich sehe kein--..." Doch noch während des Redens versagte Kuroganes Stimme ihm plötzlich den Dienst. Automatisch blieb er mitten auf dem Gehweg stehen. Seine Augen weiteten sich. Entgeistert blickte er nach oben, Richtung Himmel. Und sein Herz setzte unwillkürlich für einige Schläge aus, als er den Rauch sah. Schwarzer Rauch. Ein Himmel voll schwerem, pechschwarzen Rauch. In kaum vierzig Metern Entfernung kroch er langsam zwischen den Wohnblocks zu den Wolken empor. "Was zum-... was--..." Die zwei Orgelpfeifen warfen sich abermals einen Blick zu, diesmal deutlich beunruhigter. "Sir-... ? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?" Der Schwarzhaarige rührte sich nicht. Als Orgelpfeife eins ihm jedoch auf die Schulter tippte, fuhr er wild herum, packte ihn am Kragen und riss ihn in die Luft, sodass diesem ein fassungsloses Würgen entwich. "WAS IST DORT LOS?!!", brüllte Kurogane sein heftig nach Atem ringendes Gegenüber an. "D-... dort hat jemand-... ein, -... ein Haus-..." "EIN HAUS WAS?!!" "E-... ein Haus-... bitte, hören Sie auf, Sie tun mir ja weh!" Gerade wollte der Killer ausholen und seinem Opfer den vermutlich gesalzensten Faustschlag ins Gesicht verpassen, den er je in seinem Leben abbekommen hatte-- als plötzlich ein seltsames Geräusch hinter ihnen laut wurde. Es klang wie das Wimmern und Keuchen eines schmerzgequälten Tiers, das von regelmäßigem Scheppern unterbrochen wurde. Allen dreien blieb glatt der Mund offenstehen, als sie sahen, was es war. Es war ein Auto- oder besser gesagt, kaum mehr als das altersschwache Gerippe eines Autos-, das unter rasselndem Hulchen und Ächzen um die Ecke gedonnert kam und eine hysterisch kreischende Vollbremsung mitten auf der Straße einlegte, wobei es zwei seiner rostigen Radkappen verlor. Unter ekligem Knacken wurde die Fahrertür aufgestoßen, und aus seinem Innenraum stieg-- "Kurogane!", rief Fye schon von weitem und rannte wie vom Teufel gejagt auf ihn zu, "Kurogane, kommen Sie, schnell!" Da wurde Kurogane mit einem Schlag bewusst, was geschehen war. Ohne ein weiteres Wort wirbelte er herum und rannte los. NEIN. Nein, das darf nicht wahr sein!! Rennen, rennen, rennen, Kreuzung, Fußgängerweg, Häuserblock--... "Warten Sie auf mich!", keuchte Fye, der ihm sofort auf seinem Weg gefolgt war und mehr schlecht als recht versuchte, mit ihm Schritt zu halten, "Ich kann nicht so schnell--" "HALTEN SIE DEN MUND!!" Mit einem Gefühl, als müsste sein Herz jede Sekunde einfach zu schlagen aufhören, rannte der Schwarzhaarige weiter, ohne sein Tempo zu drosseln- bis er auf die Straße kam, in der er wohnte. Wild wühlte er sich in die vielköpfige Schar der anderen Anwohner hinein, die von Meter zu Meter dichter wurde, kämpfte sich verbissen zwischen zahllosen störenden, lästigen Gaffern hindurch, wobei er sich nicht scheute, auch von seinen Ellenbogen Gebrauch zu machen, spurtete den Weg zu seinem Haus hinunter-- und blieb augenblicklich stehen. Alles in ihm wurde starr. Das Blut schoss ihm in Wangen und Ohren wie gärendes Gift. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Denn nun sah er das Feuer. Das Feuer, das sein Haus in einem tödlichen Klammergriff umschlungen hielt. Ungestüm. Verheerend. Unter ohrenbetäubendem Krachen und Fauchen loderte es in den Himmel hinein, verschlang und vernichtete alles, was es zu fassen bekam. Rings um seine Wohnung war die gesamte Erde verglüht und kohlrabenschwarz, blutrotes Licht flackerte, wirbelte und tanzte auf dem wenigen Schnee in der Nähe, der noch nicht geschmolzen war. Fassungslos blieb Kurogane stehen und ließ den Kopf langsam in den Nacken sinken. Ein Himmel voller Flammen offenbarte sich ihm, eine Straße, ein Himmel, eine Welt voller Flammen. Flammen. Bei diesem Wort schien sich ein seltsamer Mechanismus in seinem Kopf in Gang zu setzen. "Wenn wir sterben, gehen wir mit den Flammen." "Willst du sie aufbewahren oder ausstreuen?" Blindlings stieß der Schwarzhaarige seinen Vordermann zur Seite und wollte auf sein Grundstück zurennen-- "Kurogane! HALT!!" Eine helle Hand schoss hervor wie aus dem Nichts und krallte sich in seinen Ärmel, riss ihn in die aufgehetzte Masse zurück. "Lassen Sie mich los!!" Fyes Gesicht war blass wie der Tod, aber seine Finger vergruben sich so fest in den Ärmel des Killers, als wolle er ihn abreißen. "Sind Sie verrückt? Wieso wollen Sie dort rein?" Der Killer blinzelte irritiert. Sein Herz hämmerte wie ein Presslufthammer in seiner Brust. "Na, weil-... weil--..." Es wollte ihm nicht einfallen. Waren sie nicht noch im Feuer? Nein. Nicht die beiden. Es ist etwas anderes. Ja! Einen einzigen Gegenstand gab es noch in seinem Haus, der es wert war, vor den Flammen gerettet zu werden, bevor es von ihnen verschlungen und zerfressen wurde--... einen, einen einzigen Gegenstand--... Mein-... mein Kata-... Augenblicklich verkrampfte sich Kuroganes gesamtes Inneres wie von einem Peitschenhieb getroffen. Ein Schmerz, wie er ihn noch nie in seinem Leben gespürt hatte, schoss seine Wirbelsäule hinauf wie glühende Lava, raste durch seine Venen, in seinen Kopf hinauf, und schien dort tausend tiefe Wunden zu reißen. "NEIIIIIN!!!" Ein nackter Irrsinn flammte in seinen Augen auf, und wie von Todesangst getrieben rannte er los. Preschte auf sein Grundstück zu, zu den Flammen, zum Inferno, rannte, rannte, rannte-- Nicht du. NICHT DU!! Er überquerte die Straße und setzte über seinen Gartenzaun hinweg. Es war soweit. Das Tor zur Hölle wurde ihm aufgestoßen, hinter weit geöffneten Pforten peitschte ihm das Inferno entgegen, groß und glühend heiß wie die Sonne, die Flammen wollten ihn verschlingen, fressen, vertilgen-- "HALT!!" Noch während der Killer auf sein Haus zugestürmt war, war eine helle, schlanke Gestalt aus der Gafferschar hervorgeschossen wie ein Blitz. In riesigen Sätzen spurtete sie hinter ihm her, warf sich mit aller Gewalt, die ihrem Körper innewohnte, nach vorne und umschlang sein linkes Knie mit beiden Armen. "Tun Sie's nicht, Kurogane!! HÖREN SIE AUF!!" Doch es war vergeblich. Der Killer reagierte in keinster Weise auf diesen verzweifelten Rettungsversuch- mit der Kraft eines Wahnsinnigen riss er den jungen Mann auf seinem Weg mit und schleifte ihn mit sich durch den schwarz verfärbten Schnee wie einen kraftlosen Lumpensack. "Kurogane, bleiben Sie stehen! Sie werden sich verletzen, wenn Sie da reingehen! BITTE!!" "LASSEN SIE MICH LOS!!", brüllte Kurogane mit sich überschlagender Stimme, während er vergeblich versuchte, dieses lästige blonde Etwas wieder von seinem Knie wegzuschütteln, "ODER ICH BRING SIE UM!!" "Das ist mir egal!", rief Fye verzweifelt und umschlang sein Knie so fest, dass es ihn in beiden Armen schmerzte, "Sie gehen da nicht rein! Und wenn, dann gehe ich mit Ihnen!" "SIE WERDEN GAR NICHTS TUN!! ICH HOLE MEIN KATANA ALLEIN!" Die Augen des Blondlings weiteten sich. "Ihr Katana-... ?" Ohne eine weitere Sekunde der Verzögerung ließ er das Knie des Killers los, sodass dieser durch diese plötzliche Befreiung unwillkürlich mehrere Meter nach vorne schoss, rappelte sich auf, stürmte die wenigen Meter, die ihn noch von der Feuersbrunst trennte, auf das Haus zu- und warf sich geradewegs in die tosenden Flammen hinein. "Was-... WAS TUN SIE DA?!!" "Kommen Sie!", rief der Hilfswicht nur und schlug sich die Kaputze seines Wintermantels über den Kopf, damit ihm keine der wild umherstiebenden Feuerzungen ins Gesicht peitschen konnten, "Vielleicht schaffen wir es noch!" Schnell zog sich der Schwarzhaarige ebenfalls seinen Mantel über den Nacken und stolperte blindlings auf das Feuer zu und ließ sich von ihm verschlingen. Das Flammenmeer schlug wild nach ihm aus, wollte ihn packen und in seine Arme reißen, in seine todbringende Umarmung. Mit ohrenbetäubendem Getöse donnerte die Fassade der Nordwand zu Boden und zermalmte alles unter sich. In blinder Hast packte Kurogane das erstbeste Trümmerstück, das er zu fassen bekam und riss es nach oben, wühlte sich mit der Kraft des Verzweifelten durch das versprengte, brennende Feld hindurch, das einst seine Wohnung gewesen war, suchte das Katana, sein Katana, der einzige Gegenstand, der es noch wert war, suchte es, suchte es-... Wo bist du, wo bist du nur hin, wo, wo, wo, wo, wo-- Ein plötzlicher Ruf ließ ihn aus seiner kalten Angst hochschrecken. "Kurogane!! Schnell-... schnell, kommen Sie! Hier drüben! Ich glaube, dort drüben ist es!" Die Silhouette des blonden jungen Manns wirkte beinahe wie eine dämonische Erscheinung- Flammen umkränzten seine schon zur Hälfte geschmolzenen Schuhe, sein Gesicht war schwarz von der Asche, er hustete rasselnd- doch einer seiner rußverschmierten Finger zeigte nach vorne. Und dort war es tatsächlich. Unnatürlich aufrecht stand sein Katana mitten in der Feuersbrunst in den verbrannten Boden gespießt, als hätte es jemand eigens in diese Position gebracht, und schien auf ihn zu warten. Ein eigenartiges Klingen durchzuckte seinen Kopf. Sein Soldatensinn schaltete sich ein. Noch eine Minute bis zur endgültigen Detonation. Ein Feuer dieses Ausmaßes bewirkt immer eine Explosion. Ihnen bleiben, den Fluchtweg nicht mit eingerechnet, noch knappe dreißig Sekunden. In einem gewaltigen Satz warf sich Fye zur Seite, als Kurogane Anlauf nahm und mitten durch das Flammenmeer preschte wie eine Raubkatze im Sprung-- Das Schwert kam näher, es kam zu ihm, wie in einem Alptraum geisterte es auf ihn zu, drei Meter, zwei Meter, ein Meter,--... JA! "LOS, RAUS HIER!!", brüllte der Killer, nachdem er es mit einem heftigen Ruck geschafft hatte, sein Katana aus dem Boden zu lösen und es an sich zu reißen. Der Ledergriff war völlig verkohlt, und das Heft fühlte sich glühend heiß an. Die beiden verschwendeten keine einzige Sekunde. Hinter ihnen schien die Erde aufzureißen und regelrecht in die Luft zu gehen, während sie hintereinander zu der Flammenwand rannten, die sie von der Außenwelt trennte. In einem letzten, verzweifelten Satz warfen sie sich in den Garten des Grundstücks, und Kurogane schaffte es gerade noch, den blond beschopften Kopf des Jüngeren in den Schnee zu drücken, bevor das Haus hinter ihnen unter trommelfellzerfetzendem Dröhnen endgültig in sich kollabierte. Ein rasch abschwächelndes, träge tänzelndes Meer aus kleinen, zuckenden Feuerzungen blieb zurück. In seinen letzten Zügen griff es mit unzähligen, dünnen Fingerchen nach etwas, das es noch umklammern konnte, schwächer und schwächer mit jeder Sekunde. Die Masse der anderen Anwohner war nun endgültig in Hysterie verfallen, man schrie nach einem Krankenwagen, man schrie nach der Feuerwehr, man schrie nach der Polizei, man schrie nach Gott. Kuroganes Gesicht fühlte sich an wie mit heißem Wachs übergossen, seine Augenbrauen waren versengt, sein Herz polterte in seiner Brust, als müsse es jede Sekunde explodieren, und der blonde Hilfswichtel neben ihm gab merkwürdige Geräusche von sich, als würde er sich gerade übergeben-- Doch alles, was er in diesem Moment noch spürte, war der Griff seines Katanas zwischen seinen rußgeschwärzten Händen. Sein Katana. Gerettet. Um ein Haar verbrannt. Verbrannt im Inferno. Verbrannt, so wie-... Nicht sentimental werden, dachte der Killer und biss die Zähne zusammen, weil ihm der Griff seines Schwertes glühend in die Hände schnitt und sich wie eine Zecke in seine Haut verbiss. Nicht jetzt, wo ich tot bin. Nicht jetzt. Und auf einmal wusste er, warum er sich schon den ganzen Morgen so seltsam gefühlt hatte. Er war gebrochen worden. Heute, genau heute an seinem Jahrestag, war etwas in ihm gestorben. Und es würde nie wieder zurückkehren. Nie wieder. Nacht. Ein fahlsilbriger Halbmond stand am sternenklaren Himmel. Mit seinem bleichen, unirdischen Schein verwandelte er die Welt unter sich in eine bizarre Landschaft aus gespenstischen Licht- und Schattensilhouetten. Doch hier unten auf der Erde war alles war schwarz. Schwarz, schwarz, soweit sein Auge nur reichte. Ein Geschmack von vertrocknetem Blut erfüllte seinen Mund. Sein Kopf schmerzte. Es stank nach Asche und verbranntem Holz. Mit unsicheren Schritten stolperte Fye durch die Dunkelheit, wobei er sich mit einer rußverschmierten Hand an den kärglichen Resten der Nordwand abstützte, um nicht plötzlich einfach umfallen zu müssen. Vor einigen Stunden war das Feuer endgültig erstorben. Kein einziger der Anwohner hatte sich auch nur im Ansatz dazu aufraffen können, in irgendeiner Weise zu helfen. Sie waren regelrecht in ihre Häuser geflüchtet, als die Flammen sich endlich geduckt hatten und verraucht waren, und von Kuroganes Haus nur noch ein teerschwarzes, qualmendes Gerippe übrig geblieben war. Doch Kurogane selbst schien das egal gewesen zu sein. Mittlerweile war ihm wohl alles egal, so wie er sich in den letzten Stunden verhalten hatte. Der Blondling seufzte und blieb mit zittrigen Knien stehen, als er am gänzlich niedergebrannten Hauseingang zum Stehen kam. Eine mächtige Gestalt, die auf unheimliche Weise mit den pechschwarzen Schatten der Nacht zu verschmelzen schien, kauerte völlig in sich zusammengesunken auf den Stufen- oder besser gesagt auf dem Wenigen, das noch von den Stufen übrig war- und starrte mit glasigem Blick auf den rußgeschwärzten, totgebrannten Boden. "Kurogane?" Keine Antwort. Fyes Kehle verkrampfte sich, und er ließ sich mit einem unterdrückten Seufzen einige Meter von der schwarzen Gestalt entfernt auf einem Trümmerstück nieder. "Kurogane, ich- ich wollte--..." Hilflos brach der Blondling abermals ab. Es hatte keinen Sinn- die Worte wollten ihm einfach nicht nahtlos über die Lippen kommen. Seine Eingeweide fühlten sich an, als ob er lebende Schlangen verschluckt hätte. Gequält biss der Blondling die Zähne zusammen. Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt. Er wusste mittlerweile nicht mehr, was er noch tun sollte. Seit das Feuer erloschen war, saß Kurogane auf den Stufen, starrte ins Nichts und reagierte auf keinen seiner Versuche, ein Gespräch zu beginnen. Er wirkte völlig in sich zurückgezogen. Verkapselt und verschollen im eigenen Ich. "Hören Sie, ich-...", stotterte Fye wieder unbeholfen drauflos, "Ich hab mich vorhin bei einigen der anderen Anwohner erkundigt, was diesen, diesen-- diesen Vorfall anbelangt. Sie haben gesagt, dass sie die Feuerwehrzentrale, die für diesen Bezirk zuständig ist, sogar mehrmals angerufen hätten, aber es habe niemand abgenommen. Und weil das nicht geklappt hat, hätten sie nach fünf Versuchen schließlich die Zentrale in der Vorstadt benachrichtigt, aber die Leute dort hätten nur gesagt, dass dieses Viertel hier schon außerhalb ihres Rettungsbereiches liegt, und ihnen die Befugnis fehlen würde, hier einzugreifen, und-... und deswegen--..." Wieder versagte ihm die Stimme. Wieder kam keine Antwort. Die einzige Reaktion vonseiten des schwarzhaarigen Riesen war, dass er den Griff des Schwerts, an dem er sich schon seit über zwei Stunden festgehalten hatte wie ein Ertrinkender an einem Stück Treibholz, nur noch fester umklammerte. Hilflos starrte Fye auf die markanten Gesichtszüge seines älteren Gegenübers. Es lag ein seltsamer Ausdruck in diesen zinnoberroten Augen. Als ob an diesem Abend irgendetwas in ihm auf schmerzhafte Weise zersplittert wäre. Gebrochen. Kraftlos. "Kurogane, bitte--..." "Es ist sinnlos." Der Blondling zuckte leicht zusammen. Ein schmerzhafter Stich schoss durch seinen Hinterkopf. "Siehst du es denn nicht ein? Du bist völlig unfähig! Du kannst gar nichts!" Fast schon reflexartig stand der junge Mann auf und griff sich mit verkrampften Fingern an den Nacken. "Ich--.. Kurogane, ich, ich--..." "Bei deinem Anblick weiß ich nicht, ob ich kotzen oder heulen soll." "Was ist schon wieder los?", meldete sich plötzlich eine heisere, tonlose Stimme zu Wort, die klang, als käme sie geradewegs aus der Unterwelt. Nervös schreckte Fye hoch. "Ich-... ich werde-..." "Du bist völlig unfähig. Du kannst gar nichts." Verzweifelt presste Fye die Augenlider zusammen. "Kurogane-... ich werde Ihnen helfen!", stieß er schließlich hervor und starrte den Killer aus großen, glasigen Augen an, "Ich mein's ernst! Es tut mir leid, dass Ihnen so etwas passiert ist, und ich weiß, dass Ihnen Unrecht getan wurde! Ich werd Ihnen helfen! Ich mache mich nützlich! Ich versprech's Ihnen!" "Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können", kam die mehr gekrächzte als gesprochene Antwort. "Ich will es aber versprechen!" Stille. Langsam, unendlich langsam, kam Bewegung in die dunkle Gestalt des hochgewachsenen Mannes. Zwei starre, dunkelrote Augen hoben ihren Blick vom kohlschwarzen Boden und fixierten bewegungslos das schneeweiße, unsichere Gesicht über sich. "Woher wollen Sie das eigentlich wissen?" "Ich weiß es ganz einfach! Ich bin der einzige, der Ihnen helfen kann!" "Mir kann keiner helfen." Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck wandte der blonde Hilfswicht den Kopf ab und starrte auf die Straße hinaus, von der sich selbst die hartnäckigsten Gaffer schon längst verzogen hatten. Als er wieder zu reden begann, klang seine Stimme, als käme sie von weit her. "Wissen Sie--... vorhin im Feuer, als-... als Sie Ihr Schwert aus den Trümmern rausgeholt haben, und wir nach draußen gerannt sind-... da habe ich gemerkt dass Sie leben wollen." "Na und?", kam es verbittert zurück. "Nein, es ist nur so, dass ich das bewundere. Ihnen liegt sehr viel an diesem Schwert, nicht? Es gibt nicht mehr viele Leute, denen etwas soviel bedeutet, dass sie sich dem Teufel auf dem Silbertablett servieren würden, nur um es retten zu können." Als Fye sich wieder umdrehte, lächelte er. "Ich werde Ihnen helfen." Kurogane starrte sein jüngeres Gegenüber verständnislos an. "Ach ja?" "Ja! Wir arbeiten zusammen, wir finden den Irren, der Ihr Haus angezündet hat, und wir machen diesen Feuerwehrheinis so gehörig Dampf unterm Hintern, dass sie nicht mehr wissen, wo vorne und hinten ist! Wir schaffen das schon, Kurogane!" Stille. Bis Kurogane einen Seufzer ausstieß. Tiefer, tiefer, tiefer Seufzer. "Nennen Sie mir auch nur einen Grund, warum ich mein Amen dazu geben sollte." Der Blick des jungen Mannes bekam etwas schwer zu Entschlüsselndes. "Ganz einfach, Kurogane. Weil Sie ein Ziel haben. Wollen Sie das etwa einfach aufgeben?" Der Killer brauchte einige Sekunden, um seine Irritation runterzuschlucken. Was-... "Ich..." Gedankenverloren senkte er den Blick und starrte er sein Schwert an. Der Griff fühlte sich rau und hornig unter seinen Handflächen an. Verbrannt. So wie-... Ich habe also ein Ziel. "Sie machen ja eh, was Sie wollen", sagte er schließlich tonlos. Fye strahlte. "Na also! Wir kriegen das hin, Sie werden sehen! Ich bin schließlich nicht unfähig!" Von seinem älteren Gegenüber kam nichts als ein halblautes Brummen. Mit einem Lächeln blickte der Konditorlehrling gen Himmel. Der Mond schien und verteilte sein silbriges Licht am Horizont. Hier unten war immer noch alles schwarz- doch in diesem Moment schien es ihm, als wäre die Umgebung um sie beide herum ein winziges bisschen heller geworden. Ein winzig kleines bisschen. Behutsam lehnte sich der junge Mann gegen die verstümmelte Wand. Langsam schwanden ihm die Sinne. Filmriss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)