Chrysalis Soul von -Soul_Diver- (Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]) ================================================================================ Kapitel 7: Interlude: Blackout / Toxic -------------------------------------- -"Was kommt es darauf an, was unseren Kopf oder unsere Börse bedroht? Denken wir nur an das, was unsere Seele bedroht!"- (Victor Hugo) ~~ Regen. Rauschender Regen. In feinen, kaum mit den Augen auszumachenden Tropfen schlug er sich an den Häuserwänden nieder. Ein nass glänzender Film überzog alles und jeden wie eine zweite Haut. In ewig strömenden, glucksenden, plätschernden Rinnsalen rann das Wasser an den Dachrinnen des alten, heruntergekommenen Lagerhauses herunter und tropfte unablässig durch die Ritzen der gesplitterten Fensterscheiben. Ein kalter Wind fegte durch die Straßen. Wirbelte vertrocknetes Laub auf, spielte mit ihm. Es zog fürchterlich in dem riesigen, leeren Lagerraum, und es war klirrend kalt. Nackter, grauer Beton und alte, teils schon vor sich hinschimmelnde Holzkisten, so weit das Auge reichte. Die einzigen Geräusche, die man hörte, waren das Regenrauschen und das unerbittliche Heulen des Herbstwindes. Wirklich die einzigen? Nein. Aus der finstersten, schmutzigsten Ecke des langgestreckten Raums, hinter einem hohen Stapel völlig verwitterter Lattenkisten, halb verloren in Dunkelheit, Dreck und Kälte, drangen eigenartige, kaum hörbare Laute hervor. Wimmern. Winseln. Schluchzen. Stöhnen. Die kleine, blonde Gestalt kauerte sich in seinem kalten, verdreckten Schlupfwinkel zusammen wie ein in die Enge getriebenes Tier und presste beide Hände auf seine glasigen, hellblauen Augen, in denen in endloser Abfolge Tränen aufstiegen und seine bleichen, zerkratzten Wangen hinunterrollten. In seinem Kopf, in seinem Arm und vor allem in seiner linken Schulter pochte schon, seit er an diesem gottverlassenen Ort aus einer bleischwarzen Ohnmacht aufgewacht war, ein stechend heißer, bohrender Schmerz, und machte ihn fast wahnsinnig. So weh. Alles tat ihm so weh. Und kein Mensch war hier. Niemand. Lange verharrte er so in der Schwärze. Weinend, zusammengekrümmt und unsichtbar für jeden. Bis er plötzlich ein Geräusch hörte. Ein Hallen. Von den Wänden widerhallende Schritte. Sie kam von der anderen Seite des großen Lagerraums. Wild fuhr er aus seiner Starre hoch und suchte mit tränenbrennenden Augen die Umgebung ab. Nichts. Die Schritte waren allerdings immer noch da. Und sie kamen immer näher. Sein Herz hämmerte vor Angst wie ein Presslufthammer in seiner Brust. Verzweifelt rollte er sich in seinem finsteren Winkel zusammen und machte sich so klein wie möglich. Überseht mich. Bitte überseht mich. Bitte... Alles, was er jetzt noch hörte, war das Regenrauschen und das flatternde Pochen seines Herzens. Stille. Schwärze. Kälte. Bis plötzlich ein langgestreckter, schwarzer Schatten um die Ecke gekrochen kam. Drohend fiel über seine wehrlose Gestalt wie ein finsteres, staksendes Ungetüm. Ohne jede Vorwarnung schoss eine eiskalte Hand mit langen, dünnen Fingern nach vorne und packte ihn unsanft bei den zerzausten blonden Haaren. Vor Angst stieß er einen kleinen, heiseren Schrei aus und krümmte sich wie ein Wurm am Haken. Sein Atem ging schwach und unregelmäßig, als er spürte, wie sich diese kalten, fremden Finger unerbittlich in sein Haar vergruben und seinen Kopf langsam nach oben zwangen. "Mach die Augen auf." Die Stimme, die das sagte, ließ sein Herz schwirren wie ein riesiges Gummiband. Solch eine Stimme hatte er noch nie in seinem Leben gehört. Sie klang wie das Murmeln von Wasser, das aus einer tiefen, schwarzen Grotte kam. Wie ein jäher, kühler Windstoß, der sanft durch seine Haare strich. Eiskalt und zugleich unbeschreiblich angenehm. "I-... ich--" "Tu, was ich dir sage." Sein Puls flatterte wie eine verwundete Libelle, als er sich zwang, seine tränennassen, verschwollenen Lider zu heben. Ah-... Seine Augen weiteten sich. Vor ihm kniete eine hochgewachsene, dunkle Gestalt mit langen Haaren und starrte ihn an. Ein Mann. Man erkannte nicht sofort, dass es ein Mann war, denn seine kühlen, forschen Züge hatten etwas seltsam Androgynes. An seinen ebenmäßigen, hellhäutigen Wangen und seinem Hals wanden sich lange, schwarz glänzende Haarsträhnen entlang wie zahllose, dunkle Wasseradern und fielen weich über seine Schultern. Der Blick seiner gelblichen Katzenaugen war bewegungslos und berechnend. Seine Finger in seinem Haar fühlten sich kälter als Eis an. Er spürte, dass er vor Furcht und Erwartung zu zittern begonnen hatte wie Espenlaub. Unwillkürlich verkrampfte er sich noch ein wenig mehr und verschränkte seine bleichen, bebenden Hände vor der Brust. "Bitte-... b-bitte--" "Keine Angst. Ich tu dir nichts", sagte der Fremde, als ob er Gedanken lesen könnte und nahm die Hand wieder aus seinem Haar. Er schluckte und ließ seine verkrampften Fäuste sinken. "Wie kommst du hierher?", fragte der schwarzhaarige Mann nach einer Weile des Schweigens. "Und wie heißt du?" Er starrte den Fremdling verwirrt an. Seltsam, darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Und als er anfing, darüber nachzudenken, merkte er voller Bestürzung, dass er nichts mehr wusste. Gar nichts mehr. Weder, wie er hierher gekommen war, noch woher er überhaupt kam. Wo er vorher gewesen war. Wer er war. Ein steinharter Knoten setzte sich in seiner Kehle fest. Sein Herz setzte für zwei Schläge aus. Wer bin ich? Mit glasigen Augen hob er seine bleichen, zerkratzten Handflächen und starrte sie an. Er blickte auf zwei fremde Hände. Schmale Handgelenke. Lange, schlanke Finger. Auf seinem rechten Handgelenk prangte eine winzige, kreisrunde Wunde, als ob er sich an etwas aufgestochen hätte. Und je länger er fiebrig in seinem Gedächtnis nach einer Antwort wühlte, desto schmerzhafter wurde ihm klar, dass alles weg war. Bis auf eins. Das einzige. Schwach wie ein dünner Nebelschleier schwebte es in seinem schmerzenden Kopf. "I-ich... ich heiße Fye... de Flourite." Die gelben Katzenaugen bekamen einen lauernden Ausdruck. "Soso, du heißt also Fye de Flourite. Und mehr weißt du nicht?" Sein Herz pochte so heftig gegen seine Rippen, dass es schmerzte. "N-nein." "Und ist Fye de Flourite auch dein wirklicher Name?" "Ich... denke schon. Warum?" Der Fremde lächelte ein wenig. Sein Lächeln war ebenso zwiespältig wie seine Stimme. "Du solltest deinen echten Namen nur denjenigen sagen, denen du vertrauen willst. Willst du mir vertrauen? Einem Fremden, den du erst seit zwei Minuten kennst?" Fye schluckte schwer. "Sch-schon." "Ach? Bist du dir auch sicher? Ich könnte dich zum Beispiel hier und jetzt erwürgen oder niederstechen." "Sie haben mir nichts angetan, Sir." Der junge Mann wirkte äußerst amüsiert. "Stimmt, das habe ich nicht. Seinen Namen sagen ohne zu lügen und gutgläubig sein, hm?" Schon wesentlich interessierter beugte er sich zu der zusammengekauerten, blonden Gestalt zu seinen Füßen hinab. "Seltsam. Du siehst kaum älter aus als fünfzehn Jahre, Fye. Bist du verletzt? Hast du gerade Schmerzen?" "J-ja. Sir. In der Schulter und am Arm." "Aha..." Ein Schweigen verging. Der Fremde schien zu über irgendetwas nachzudenken. "Sir...?", getraute sich Fye schließlich zu fragen. "Wissen-... wissen Sie vielleicht, woher ich komme?" Über das Gesicht seines älteren Gegenübers huschte ein leichtes Zucken. "Nein. Ich weiß genauso wenig wie du. Vielleicht hattest du einen Gedächtnisverlust. Wenn es so ist, wird das, was du vergessen hast, irgendwann wiederkommen..." "Aber wie, Sir?" "Meistens durch Zahlen. Hast du gerade Zahlen im Kopf, Fye? Irgendeine Zahlenreihe? Erinnerst du dich da an etwas?" In den gelben Katzenaugen funkelte es jäh auf, als er das sagte. Oder bildete Fye sich das nur sein? "... N-nein, Sir. Tut mir leid." Ein seltsamer Ausdruck breitete sich in dem Gesicht des Fremden aus. Bevor Fye jedoch weiter darüber nachdenken konnte, redete er weiter. "Also schön. Hör mir jetzt gut zu, Fye, ich mach dir ein faires Angebot- ich nehm dich mit. Wenn du mit mir mitkommst, kriegst du einen Platz zum Schlafen, was zu essen, und wenn du älter bist, einen Job." Fyes Augen weiteten sich. Sein Herz setzte für zwei Schläge aus. Ich soll-... ? "M-... mit Ihnen mitkommen? Aber warum?" Der schwarzhaarige junge Mann starrte ihn abwartend an. "Na, warum wohl? Willst du etwa hier verrecken?" "N-nein... aber dafür verlangen Sie doch sicher auch etwas von mir- oder?" Der Fremdling sah abermals sehr amüsiert aus. "Du bist nicht auf den Kopf gefallen. Ja, allerdings, ich erwarte eine Gegenleistung von dir- es ist aber ganz leicht. Du musst lediglich versuchen, dich zu erinnern." "Erinnern... ?" "Ja, an alles, was du vergessen hast. Dann können meine Freunde und ich dir sicher viel eher helfen. Na, worauf wartest du noch? Mach schon! Steh auf!" Fye sah mit einem unschlüssigen Blick zu der Hand empor, die der Fremde ihm anbot. Meine Freunde und ich können dir sicher helfen. "Okay." Unsicher erhob er sich auf die zerkratzten, wundgescheuerten Füße und legte seine kalte Hand in die des jungen Mannes. Sein ganzer Körper rebellierte mit stechendem Schmerz auf seine Bewegungen, doch diesmal ignorierte er es. "Komm mit. Das wird schon." Fye nickte schwach. Neue Tränen wollten in seine Augen steigen, seine Kehle schmerzte, als hätte er glühende Kohlen verschluckt. War es Dankbarkeit? "Und,-... und wie heißen Sie, Sir?" Der Fremde wandte sich zu ihm um. Draußen am regengepeitschten Himmel flammte ein gezackter Blitz auf. "Mein Name ist Ashura." "Ihr Echter?" Der junge Mann nickte. Fyes Kehle verkrampfte sich noch mehr, seine Füße zitterten wie Espenlaub. Diesmal weinte er wirklich. "Vielen Dank, Ashura." Ashura blickte belustigt auf das blasse Gesicht seines neuen Schützlings hinab. "Bedank dich lieber nicht. Wer weiß, was die Zukunft noch bringt?" Fye nickte. Er konnte nur noch nicken. Eine trübe, diffuse Schwere erfüllte seinen Kopf, als er Ashura durch das Lagerhaus nach draußen folgte und der peitschende Regen sie beide verschlang. Vielleicht würde er verletzt werden. Vielleicht würde er geschlagen werden, missbraucht, verhöhnt, geschunden, getreten--... Doch auch diese Gedanken drängte der Blondling entschieden beiseite. Was sollte ihm denn jetzt noch Schlimmes passieren? Er hatte nichts zu verlieren außer seinem Leben. ~~ Nicken. Nicken. Lächeln. Oder eher Mundwinkelzucken. "... und man hat mir gesagt, McSanderson bildet nur die Besten der Besten bei sich aus... nicht wahr?" "Das kam mir auch schon zu Ohren! In unserer Position hört man immer allerlei, wissen Sie; aber stimmt es denn?" Nicken. Mundwinkelzucken. "Oh, wie aufregend! Also, was ich nicht dafür gäbe, dass mein Sohn auch mal so ein Training absolviert! Dem würden einige Muskelpakete mehr als gut zu Gesichte stehen- 'Philipp, du solltest mehr Sport treiben', sag ich, aber nein, auf mich hört er nicht--" "Ich sag es doch jedes Mal aufs Neue: das ist nur etwas für die wirklich harten Jungs. Hab ich nicht Recht?" Nicken. Mundwinkelzucken. Hab's wohl doch verlernt. "Auf jeden Fall kann ich mich nur wiederholen: willkommen an Bord, Kurogane!" "Ganz meine Rede, jetzt geht es endlich wieder bergauf. Sie hätten mal den letzten führenden Einsatzleiter sehen sollen- eine Katastrophe, völlig verweichlicht! Mit Ihnen sind die Aussichten weit besser, wenn Sie mir dieses Kompliment gestatten." Der junge, dunkelblonde Ministerialrat an seiner Seite strahlte zwar, als würden sämtliche Komplimente, die bis jetzt gefallen waren, ihm gelten und nicht seinem kostbaren neuen Schützling- aber als er den Gesichtsausdruck ebenjenes Schützlings bemerkte, hielt er es für besser, die Tratschrunde, in der sie beide schon seit zwanzig Minuten feststeckten, aufzulösen. "Entschuldigen Sie, Stefanie, falls das jetzt ein wenig plötzlich kommt, aber Mr.Pantoliano erwartet uns; habe ihm nämlich versprochen, spätestens in fünf Minuten bei ihm reinzuschneien, und jetzt sind wir schon zwanzig Minuten überfällig... das geht doch in Ordnung? Bob? Pameroy?" Salbungsvolle Lächelgrimassen von allen Seiten. "Gehen Sie nur, Joshua. Wir wollen ja nicht, dass unser Neuling schon am ersten Tag zu spät kommt, hmm?" "Haben Sie vielen Dank. Gehen wir, Kurogane." Wieder ein Nicken, wobei er sich alle Mühe geben musste, um nicht allzu erleichtert auszusehen. "Nett, Sie getroffen zu haben!", schallte es ihm noch hinterher. "Sie können stolz auf sich sein, Kurogane, verdammt stolz!" "Viel Erfolg noch! Sie werden ein großartiger führender Einsatzleiter sein, alter Junge!" Nicken. Mundwinkelzucken. Diesmal im Laufen. Innerlich ließ ihn all dieses künstliche Wohlwollen jedoch verdammt kalt. Sein neuer direkter Vorgesetzter, der sich ihm vor etwa zwei Stunden als Joshua O'Connor vorgestellt hatte, schien diesen Fakt allerdings nicht zu bemerken- kumpelig klopfte er dem großen Schwarzhaarigen auf die Schulter und lächelte dazu. "Na? Hab ich's dir nicht gesagt, Kurogane? Lauter tolle Leute, lauter wunderbare Menschen mit Kompetenz und Sinn für Humor! Und alle sind sie gekommen, um deinen Amtsantritt hier im Dezernat zu feiern! Du kannst dich glücklich schätzen!" "Das freut mich durchaus, Mr.O'Connor." Kurogane hob die Augenbrauen und sah sich ein wenig in dem Raum um, um O'Connors forschenden Blicken zu entkommen. Knappe eineinhalb Stunden hatte er bereits damit verbracht, hier im weitläufigen Empfangssaal des Dezernats rumzuhängen- roter Kokosläufer, riesige Fenster, Kronleuchter, das übliche Geplänkel eben- und tausend fremden Leuten die Hände zu schütteln, tausend fremden Leuten ins Gesicht zu lügen, dass er ja so entsetzlich froh war, ab heute hier arbeiten zu dürfen, und sich von tausend fremden Leuten schleimiges Rumgequake anzuhören und sein Amen dazu zu geben. Und offenbar erwartete dieser Joshua O'Connor, dass er- er, Kurogane!- hier jetzt vor Freude durchdrehte wie ein Dackel, der endlich sein heißersehntes Leckerli bekam. Diesen Gefallen hatte er ihm bis jetzt nicht getan, und er hatte es auch für den Rest dieser verdammten Feier nicht vor. Lass dich nicht ablenken. Vergiss nicht, warum du hier bist. "Wenn dich all das hier noch ein wenig überfordert, Kurogane, kannst du es ruhig sagen!", brach der Ministerialrat schließlich reichlich unbeholfen das unangenehme, um nicht zu sagen eisige Schweigen. "Jeder ist zuerst mal überwältigt von allem, was hier täglich vonstatten geht- hier wird eben die wahre Machtpolitik ausgetragen, mein Freund, die wahre Machtpolitik!- aber keine Sorge, du wirst dich auch noch eingewöhnen. Und ich muss sagen, du machst einen ziemlich guten Eindruck auf die Leute!" Ein Nicken. Sein neuer Vorgesetzter seufzte. Das mit dem Eindruck war eine glatte Lüge gewesen- viele der Angestellten, die zu der Feier geladen waren, hatten meist kaum zwanzig Worte direkt mit dem hochgewachsenen, schwarzhaarigen jungen Mann gewechselt, und hatten schnell angefangen, sich über seinen Kopf hinweg mit O'Connor zu unterhalten. Was hatte dieser ungehobelte Kerl eigentlich für ein Problem? Schon seit er ihn am Hauptportal in Empfang genommen und in den Saal geführt hatte, zeigte er diesen seltsamen Gesichtsausdruck- weder war es direkte Feindseligkeit, noch war es direkte Toleranz. Es war eher wie eine Wand. Eine unsichtbare, jedoch felsenharte Barriere des Schweigens. Doch es war eigenartig- es war nicht dieses hohle, dümmliche Schweigen, das bei einem Menschen von mangelnder Sprachgewandtheit zeugte; nein, seltsamerweise kam man bei ihm nicht im Entferntesten auf die Idee, dass er es möglicherweise mehr in den Muskeln als im Hirn hatte. Es war ein abpassendes, ja nahezu wohlerwogenes Schweigen. O'Connor war zwar kein großartiger Verhaltensforscher, doch auf eine seltsame Art und Weise spürte er, dass dieser Kerl, der ihn um fast zwei Köpfe überragte und die ganze Zeit nur ruhig geradeaus sah, auf irgendetwas zu warten schien. Er wartete nicht nur auf etwas- er gierte nach etwas. Aber wonach? "Wieviel Zeit haben wir noch? Wollte Mr.Pantoliano nicht etwas mit uns besprechen?" O'Connor schluckte. Aha. Danach also. "Ja, in der Tat. Keine Sorge, er muss hier irgendwo sein. Komm." Schon deutlich reaktionsfreudiger setzte sich Kurogane in Trab und folgte O'Connor durch den weitläufigen Empfangssaal des Dezernats, wobei er zum wiederholten Mal seine dezente schwarze Krawatte zurechtrückte. Endlich. Drei Jahre hab ich gewartet. Er spürte deutlich, wie sich sein Bewusstsein schärfte, sich ballte und immer kälter und härter wurde, bis es einem völligen Vakuum der Konzentration wich. Er sah, fühlte und hörte nichts mehr- er nahm nur noch das wahr, was nun auf ihn zukam. Auf diese Weise bemerkte er auch die ganzen Blicke in seinem Nacken nicht mehr; denn nicht wenige der zahllosen Gäste wandten sich interessiert nach dem hochgewachsenen, schwarzhaarigen jungen Mann um, und das nicht nur, weil sich die heutige Antrittsfeier ganz um ihn drehte. Denn wenn er in diesem Zustand der absoluten Anspannung schwebte, schien er jedesmal einen seltsamen Effekt auf die Leute um sich herum zu haben; viele wussten allerdings nicht wirklich, was sie von diesem Mann denken sollten, dessen harten, offenbar über viele Stunden hinweg trainierten Körperbau man trotz dem schlichten schwarzen Sakko und der schwarzen Satinhose sehr gut erahnen konnte. Von seinen markanten, männlichen Gesichtszügen ging etwas aus, von dem die meisten nicht sagen konnten, was genau es war. Auf eine eigenartige, unterschwellige Weise wurde einem bewusst, dass in den Augen dieses Mannes eine Bestie lauerte; ja, so war es, er konnte nichts anderes sein als ein Ausbund an tödlichem Gift, ein unbezähmbares Biest, dem man schwere Ketten anlegen musste, um es zu bändigen; und doch umgab er sich mit einer Art kühlen, gelassenen Distanz, die die Gewalt, das Toxische seiner Präsenz in eine gewisse Ferne rückte- und genau dadurch aufforderte, sich ihm zu nähern, und sich bereitwillig von ihm vergiften und verschlingen zu lassen. Der Jäger und das Opfer. Es war unheimlich, welche Wirkung dieser auf den ersten Blick so unscheinbare Mann auf sie alle hatte. O'Connor bemerkte es ebenfalls und fühlte sich reichlich unwohl dabei; daher war er mehr als erleichtert, als er endlich den Mann im Menschengewühl erblickte, nach dem er schon die ganze Zeit über Ausschau gehalten hatte. Dieser schien sie just auch wahrzunehmen. "Aaah! Endlich! Hier drüben, Joshua, alter Junge!" "Mr.Pantoliano! Komm, Kurogane!" Die flammenden, zinnoberroten Augen verengten sich und fixierten mit starrer Aufmerksamkeit den Mann, der soeben mit einem salbungsvollen Lächeln auf sie beide zustolziert kam. Er war um einiges kleiner als er selbst, jedoch von aufrechter, selbstbewusster Haltung und stolzem Gang. Er schien die Vierzig bereits überschritten zu haben und besaß glattes, sorgfältig gescheiteltes graues Haar, als Dreingabe ein kleines, eisgraues Kinnbärtchen und aufs Sorgfältigste coiffierte Augenbrauen. An seinen Handgelenken und Fingern hing genug Schmuck, um das State Empire Building zu vergolden. Er trug eine hübsche Portion Studiobräune auf seinen leicht patriotisch wirkenden Zügen. Um seine Mundwinkel kräuselten sich kleine Grübchen, als er sein Lächeln noch um einige Grade verbreiterte. Kurogane erwiderte das Lächeln nicht. "Kurogane. Mein lieber Freund! Wie bin ich froh, dass Sie endlich zu uns stoßen!" "Die Freude ist ganz meinerseits." "Wunderbar, ganz wunderbar! Ich hoffe, Ihnen gefällt die kleine Party, die ich für Sie arrangiert habe?" Zwing mich nicht zu lügen, Alter. "Ich habe Kurogane bereits einigen Leuten aus unserer engsten Crew vorgestellt!", ergänzte O'Connor rasch unter Hinzusetzung eines unterwürfigen Lächelns, mit dem vergeblichen Vorhaben, die Stimmung etwas aufzuhellen, "Stefanie, Bob, Pameroy, Hugh..." Pantoliano lächelte O'Connor an, wie man einen kleinen Jungen anlächelte, der es endlich geschafft hatte, sich die Schuhe allein zuzubinden. Dat hattu aba guuut gemacht... "Ach ja? Vortrefflich, Joshua, ein guter Gedanke, mein Placet haben Sie da stets! Schätzen Sie sich glücklich, Kurogane, nicht vielen ergeht es am Anfang gleich so gut, was die segensreichen Bekanntschaften anbelangt; doch denke ich ebenfalls, dass man bei der Position des führenden Einsatzleisters schon mal ein Auge zudrücken kann, nicht?" "Dieses Umstandes bin ich mir durchaus bewusst, Mr.Pantoliano. Die Ausnahme bestätigt die Regel." Ein gönnerhaftes Zucken huschte über Pantolianos Gesicht. "Soso, Ausnahme, hmm? Nicht schlecht, Kurogane, nicht schlecht- ich muss sagen, Sie sind ein ganz schön helles Köpfchen." "Danke." O'Connor, allmählich immer nervöser, blickte unschlüssig von einem Gesicht zum anderen. Er wusste beim besten Willen nicht, ob das magmarote oder das kleegrüne Augenpaar in diesem Moment nachdrücklicher starrte. "Nun, Sie können sich sicher vorstellen, warum ich noch einmal mit Ihnen sprechen wollte", fuhr Pantoliano schließlich fort, "Wir beiden Hübschen haben das Vergnügen zwar schon mehrmals gehabt, aber ich bezweifle, dass das bei unserem obersten Dezernatsrat bereits der Fall war! Alles erstklassige Leute, glauben Sie mir; und vor allem, freuen Sie sich! Denn Sie werden heute noch einige begnadete Menschen kennernlernen, darunter auch Ihre zukünftigen Kollegen und Untergebenen im Gefecht." "Wie schön." Stille. Ein seltsames Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Ratspräsidenten aus. "Aaah... vorzüglich. Ich glaube, das ist der Anfang einer wunderbaren Zusammenarbeit, Kurogane. Was meinen Sie?" "Dito." Ein Händeschütteln. O'Connor fürchtete für einen Moment, sein neuer Untergebener könnte seinem Chef plötzlich die Finger brechen und sie anschließend auffressen. Giuseppe Girolamo Pantoliano jedoch lächelte wie ein Märchenonkel. "Fein, fein... darf ich Sie dann darum bitten, einen Moment lang hier zu warten? Joshua und ich schicken schnell nach den Ratsvorsitzenden. Es dauert keine Minute. Seien Sie so frei, setzen Sie sich, trinken Sie! Alles ist für Sie arrangiert worden." "Danke, Sir." Der Ratspräsident und der Ministerialrat entfernten sich in zügigen Schritten von dem schwarzhaarigen Ungetüm, während dieses starr wie eine Salzsäule an der Stelle verharrte, an der sie die ganze Zeit über gestanden war. Neugierig warf O'Connor einen Blick über die Schulter, bevor er seinen Chef fragend musterte. "Und, Sir?" "Was, und?", fragte der Italiener affektiert zurück, "Du meine Güte, der Junge kommt wohl geradewegs aus der Hölle. Na, das war vielleicht ein nettes kleines Déjà Vu." Der blonde junge Mann schluckte. "Sie glauben also, er ist-- ...?" Pantoliano schnaubte geringschätzig. "Du meine Güte, Joshua, haben Sie denn kein Langzeitgedächtnis? Haben Sie nicht gesehen, wie der mich angestarrt hat die ganze Zeit? Haben Sie Ihn nicht gehört? Das hätte sogar der letzte Trottel bemerkt! Er ist es. Rundheraus." "Aber--... aber Sie werden ihm doch nicht--..." Der Italiener in den Vierzigern lächelte. Es war ein völlig anderes Lächeln als das, das er bei seinem neuen Angestellten verwendet hatte. "Und wie ich das tun werde, Joshua. Wäre das nicht eine gelungene Ironie des Schicksals und dazu noch ein amüsanter kleiner Spaß für uns alle? Der Grund, warum er hier ist, wird zu seinem Lebensinhalt- das hätte etwas verdammt poetisches, finden Sie nicht auch?Ich liebe sie, diese simple, hirnlos brutale Poesie des Lebens... Wie lange, denken Sie, wird er brauchen? Wann kommt er auf den Trichter?" "Äh, nun-... ich-... ein Monat vielleicht-..." "Aaah, Joshua, Mathe ist wohl nicht Ihre Stärke! Wie wäre es mit einer kleinen Wette? Ich wette: er wird mindestens drei Jahre brauchen, dann kommt er endgültig auf den Trichter. Dann wird er gebrochen, und das sogar zum zweiten Mal, der arme kleine Haudegen mit dem pechschwarzen Haar... Sie verstehen?" Der Ministerialrat schluckte. "Selbstverständlich, Mr.Pantoliano." "Wunderbar", meinte der Ratspräsident kreuzfidel, "Also: drei Jahre gegen einen Monat. Wir wetten um die übliche Summe, und um keinen Penny weniger. Das wird lustig." Da O'Connor gern weiterhin in der Gunst des Italieners bleiben wollte, nickte er so beflissen als möglich. "Gewiss, Mr.Pantoliano." Pantoliano seufzte genießerisch. Es macht ja solchen Spaß, böse und gemein zu sein. "Jaja, Sie mich auch. Und jetzt lassen Sie uns diese Heinis vom Rat holen. Ich will diese verdammte Feier endlich hinter mich bringen." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)