Chrysalis Soul von -Soul_Diver- (Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]) ================================================================================ Kapitel 4: Concrete Identity ---------------------------- -"Jeder Name birgt sowohl den Geist der Eltern als auch den des Trägers. Er birgt einen Teil seiner Seele.-" (P. Stamitz) ~~ "... Ja, und dann sag ich zu ihr: aber nein, Missis Robinson, das ist doch nicht nötig, beim Backen müssen Sie immer Ihr Kreuz so anstrengen, und dann sagt sie zu mir: den nehmen Sie aber jetzt, ich hab meine ganze Liebe und Sorgfalt dafür aufgebracht, ich bin vielleicht keine Meisterbäckerin, aber trotzdem, und dann sag ich zu ihr: aber Missis Robinson!, und dann sagt sie zu mir: ..." Kurogane fletschte die Zähne. Eine feine, stetig schwellende Ader auf seiner Stirn war bereits seit einiger Zeit am heftigsten Pulsieren. Um genauer zu sein: Seit acht gottverfluchten Stunden. Seit acht Uhr morgens bis jetzt. Ich dreh jetzt nicht durch. Nein, ich dreh jetzt nicht durch. Mit aller Macht unterdrückte der hochgewachsene, schwarzhaarige Killer den Drang, in trommelfellzerfetzendes Gebrüll auszubrechen und diese nervtötende, ewig quatschende Gesichtsbarracke auf irgendeine blutige, menschenunwürdige Art und Weise niederzumetzeln und dann im nächstbesten Schneehaufen zu verscharren. Von denen gab es am Johannesplatz jedenfalls mehr als genug- schon seit drei Stunden schneite es, diesmal in großen, wässrigen Flocken, und die schwächelnde Sonne, halb verborgen hinter grauen Wolken, schickte sich bereits wieder zum Untergehen an. Blödes Teil. Aber nur halb so blöd wie dieser blonde Affe da neben mir. Soeben hielt jener blonde Affe in seinen umfangreichen Ausführungen über sein Leben als guter Nachbar inne und fixierte sein älteres Gegenüber, das schon seit längerer Zeit den Mörderblick im Gesicht hatte- will heißen: einen noch schlimmeren Mörderblick als sowieso schon- und dabei aussah, als wolle er vor unterdrücktem Zorn jede Sekunde entweder implodieren oder explodieren. Obwohl, explodieren war wohl die wahrscheinlichere Variante. Ein wenig seltsam wäre es ja schon gewesen, wenn der hochgewachsene Schwarzhaarige neben ihm plötzlich zu einem faustgroßen Materieklumpen zusammengeschrumpft wäre. "Was ist denn?", fragte Fye erstaunt. "Fragen Sie gefälligst nicht so saublöd, zum Teufel nochmal!!", bellte der Schwarze als einzige Antwort. "Soll ich intelligenter fragen? Auf intelligentere Weise, meine ich?" "Sie? Sie und Intelligenz?! Das ist ein Paradoxon im Superlativ!!" "Wie fies! Sie benutzen gebildete Wörter, um mich zu verwirren und auszustechen!", stellte der Blondling schmollend fest. "Ich würde Sie lieber AB- als ausstechen." Hartnäckig ignorierte Kurogane den beleidigten Gesichtsausdruck des Jüngeren und starrte auf die andere Straßenseite, Richtung "Jardin D'Hiver", wobei er versuchte, das nach wie vor auf ihn einprasselnde Gequatsche zu überhören. Offenbar quasselte der Konditorlehrling einfach nur raus, was ihm gerade durch sein hohles Hirn geisterte. Die verkalkte Schnepfe mit der roten Perücke, die mal wieder an ihrem Stammplatz saß, schien ebenfalls ein wenig überfragt. Unschlüssig sah sie sich nach allen Seiten um, offensichtlich verwundert, wo Navras heute blieb. Tja, Alte. So schnell braucht Navras keinen Koffeinkick mehr. Zu dumm nur, dass er jetzt weiterhin hier rumstehen und observieren musste- weil ebenjene verkalkte Schnepfe sein nächstes Opfer war. Madeleine Delnatte. Fünfundfünfzig Jahre alt. Organspenderin. Im Betriebsrat des Konzerns "Ovid Kunsthandel", wo auch die Yamazawa gewesen war. Er hätte aus gewissen Gründen liebend, liebend gern den Standpunkt gewechselt, aber von einem näheren Platz aus hätte sie ihn wohl bemerkt, und das war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. "Hey? Hey, darf ich Sie was fragen?" "Das fragen Sie mich jetzt schon zum zwanzigtausendsten Mal." "Stimmt, aber ich bin abgeschweift. Ich wollte Sie schon die ganze Zeit fragen: was haben Sie da in Ihrer Tasche?" Der Blondling nickte in Richtung der schwarz glänzenden Tasche, die schon den ganzen Morgen neben den Füßen des schwarzhaarigen Fremdlings stand. "Eine Atombombe, mit der ich Ihnen das Maul stopfe, wenn Sie nicht gleich verschwinden", fauchte der Killer zurück, in der vergeblichen Hoffnung, sich so von seinem lästigen Gesprächspartner zu befreien. Dieser lächelte jedoch strahlend und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. "Sagen Sie's mir doch einfach. Ich werde schon nicht Ihr ganzes Dasein davon abhängig machen, hm?" Kurogane warf dem Blondling einen bitterbösen Blick zu und knurrte irgendetwas unverständliches, doch Fye hörte ein paar Silben heraus, die fast wie "Training" und "Fitness-Studio" klangen. "Waaas, Sie gehen echt ins Fitness-Studio? Ist ja der Hammer! In welches?" "MedX." "Wooow, in dieses superprofessionelle?" "Wer will das schon wissen", grollte der Schwarzhaarige. Fye lächelte. "Ich will's wissen! Zufällig geh ich nämlich auch dorthin, wissen Sie? Zum Sportmachen!" Kuroganes Augen weiteten sich. NEIN. BITTE, BITTE NICHT. "WAS?!! Seit wann das denn?!!" "Schon eeeewig!", erläuterte der Hilfswichtel fröhlich, "Fast jeden dritten Tag! Ich brauch das einfach! Sport ist meine Droge! Soll ja auch sehr gesund sein!" Geringschätzig hob der Schwarze die Augenbrauen und musterte sein schlaksiges, spindeldürres Gegenüber kritisch. Alles, was er sah, waren Haut und Knochen, und der Rest war vermutlich Luft oder eher Blödheit. "Ach ja?" Mit einem Grinsen drehte sich der Blondling einmal um dreihundertsechzig Grad wie ein Brummkreisel. "Naja, bei mir sieht man's zwar nicht, aber an mir ist mehr dran, als man vermutet! Das sagt mein Physiotherapeut auch immer! Veborgene Kraft! Finde dein inneres Zentrum! Es gibt nur noch die Maschine und dich! Lass dich vom Wahnsinnsrausch deiner schweißströmenden Muskelkraft überrollen!" Er hielt in seinen Ausführungen inne und musterte Kurogane genau, der ihn mittlerweile anstarrte, als ob er völlig gaga wäre. "Bei Ihnen sieht man's allerdings, aber hallo! Warum verstecken Sie Ihre Muskeln unter diesem dicken Mantel?" "Weil Winter ist, Sie Flachbanane." "Oh, stimmt ja- hab ich vergessen. Wie kommt das? Haben Sie Ihr inneres Zentrum schon gefunden? "Muskeln haben mit so 'nem Tratschtantenzeug nicht das geringste am Hut." "Achso. Ähm-... darf ich Sie was fragen?" "Nein." Der Blondling grinste und wirkte auf possierliche Weise ein wenig verlegen, wie ein Schulbube, der nach der Uhrzeit fragte. "Ja? Also: wie wär's, wenn wir gemeinsam hingehen? Zu MedX, meine ich? Ich war nämlich schon länger nicht mehr dort." Kurogane erlitt fast einen Herzinfarkt, noch bevor sein Hirn die Frage vollständig verarbeitet hatte. "WAS?!! Ooooh nein! Nicht mit mir! Suchen Sie sich einen anderen Affen, der Ihr hirnloses Geschwätz erträgt!" "Ich würde aber lieber mit einem Menschen reden als mit einem Affen." "Vergessen Sie's!" "Ach, kommen Sie schon, wir kennen uns doch schon seit zwei Tagen!" "Das sind genau zwei Tage zuviel!! Und außerdem haben Sie verdammt nochmal zu arbeiten!" "Die Konditorei schließt heute sowieso früher! Und Sie haben Ihr Zeug schon dabei! Kommen Sie schon! BITTEEEE!!" "NAIEN!!" "Ohh, bittebittebittebittebittebittebitte-" "MAUL HALTEN!!" "-tebittebittebittebittebittebittebitte--" "NUR ÜBER MEINE LEICHE!!" "-ittebittebittebittebittebittebittebittebittebitte--" "ICH GEHE!! HÖREN SIE MICH?!!" "Ihhhiich--... k-komm mihihit!", keuchte der Blondling und japste wild nach Luft, die ihm während seiner Hardcore-Betteltour verständlicherweise abhanden gekommen war. "Bleiben Sie, wo Sie sind!! Stehengeblieben!! KEINEN SCHRITT WEITER!" Fye legte, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, verwundert seinen Kopf schief und betrachtete den Killer, der vor ihm stand, als wolle er einen rasenden, genmanipulierten Urwaldaffen davon abhalten, den Planeten zu zerstören. "Was haben Sie bloß? Ich werde Sie schon nicht fressen! Und ich will nicht an Ihnen herummeckern! Ich will einfach nur mitkommen! Laufen ist nicht gleich fertigmachen bis aufs Letzte, oder?" Für wenige Sekundenbruchteile stahl sich so etwas wie Verwirrung in diese flammenden, zinnoberroten Augen. "Hören Sie zu!", fauchte er schließlich und drohte seinem Gegenüber mit dem Zeigefinger wie einem unartigen Kind. "Ich mache das, was ich will. Und ich mache alles allein, was ich machen will! Und schreiben Sie sich das jetzt gut hinter Ihre blöden Löffel, damit Sie's nicht vergessen: Sie. Werden. Nicht. Mitkommen. Nur über meine Leiche, kapiert?! NUR- ÜBER- MEINE- LEICHE!!!" Der Blondling machte nur große Augen und legte den Kopf abermals schief. "Ach jaaaa?" "Guten Tag, und herzlich willkommen beim MedX-Filiale von Kingstonville", sagte das hübsche Empfangsfräulein mit einem ebenso hübschen Lächeln zu den beiden von oben bis unten mit Schnee bepuderten Gestalten vor dem Thresen. "Mein Name ist Natsu. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?" "Wir würden heute gerne beide unser übliches Trainingsprogramm absolvieren, Fräulein Natsu!", erwiderte Fye strahlend, während Kurogane nur mit einem zornbrodelnden Blick in eine andere Richtung starrte. "Aber gern! Dann bräuchte ich zunächst Ihre Namen für unsere heutige Kundenliste." "Ray", antwortete Fye wie aus der Pistole geschossen, "Ray Flückiger." "Kurogane", tönte es dumpf knurrend hinter Fyes Rücken. Flink huschten die Finger des Empfangsfräuleins über die Tastatur des Registriercomputers. "Kurogane und Ray Flückiger. Wunderbar. Wie ich sehe, waren Sie schon länger nicht mehr hier, Mr. Flückiger?" Fye strahlte. "Familiäre Gründe. Mein Kragen war ziemlich eng geschnürt, wissen Sie." "Das erklärt natürlich alles. Entschuldigen Sie meine Indiskretion. Dann bräuchte ich von Ihnen noch die Mitgliedskarte." "Ich überlasse Ihnen den Vortritt", sagte Fye mit einem galanten Lächeln zu seinem unfreiwilligen Begleiter. Dieser trat nur wortlos vor und knallte Fräulein Natsu seine Mitgliedskarte vor die Nase. "Äh, ähh-- das übliche Programm, der Herr?", stammelte diese mit puterroten Wangen, offenbar war sie Kurogane sehr zugetan. "Was denn sonst", war die gereizte Antwort. "Geben Sie mir endlich den verdammten Kabinenschlüssel." "Hi-hier--" Ohne noch eine weitere Silbe zu verschwenden, riss der Schwarzhaarige dem Mädchen den Schlüssel aus der Hand und stampfte von dannen, Richtung Umkleidekabinen. Einige Leute sahen ihm verwundert nach. Fräulein Natsu seufzte und versuchte, den roten Schleier von ihren Wangen zu vertreiben. "Du meine Güte." "Ganz meine Rede, Fräulein", meinte Fye gutmütig und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Anmeldethresen. "Er heißt also Kurogane, hm? Kommt er denn öfter her?" "Fast jeden zweiten Tag", legte das Empfangsfräulein sofort los,"Einer unserer Stammkunden! Er absolviert fast als einziger das schwerste Programm, das wir zu bieten haben, und das mühelos! Und, ähh-... der Erfolg, der... ehhm..." "... der lässt sich sehen, wie?", ergänzte Fye grinsend, und Fräulein Natsu nickte mit feuerrotem Gesicht. "Leider ist er kein sehr erzählfreudiger Mensch." "Stimmt", seufzte das kupferfarben beschopfte Empfangsmädchen, "Er ist gerademal so gesprächig wie ein toter Hering. Kennen Sie ihn denn schon länger? Er ist noch nie in Begleitung hier erschienen." "Nein", erklärte Fye mit einem Lächeln, "Es hat sich einfach so ergeben, wissen Sie." "Einfach so?" "Einfach so. Wir haben uns gesehen, und uns sofort ganz prächtig verstanden." "Gut zu wissen. Manchmal kann man nämlich glatt denken, er geht zum Lachen in den Keller." Fräulein Natsu senkte ihre Stimme zu einem vertrauensvollen Flüstern. "Und, mal ganz unter uns, ab und zu kommt mir sogar der Gedanke, dass er in seiner Freizeit Menschen kaltblütig umlegt, um Geld zu verdienen." Fye lachte hell auf. "Du liebe Zeit! Was für eine Idee!" "Nicht wahr? Völlig absurd." Der Blondling zwinkerte. "So spielt das Leben, was? Ich muss Ihnen sowieso noch eine Frage stellen, bevor wir das mit der Karte abwickeln, Fräulein..." "Nur zu, Mr.Flückiger. Ich bin ganz Ohr." Fünf Minuten punktgenau. Die Stoppuhr piepte. Mit einem lautlosen Ächzen stellte Kurogane die Hanteln ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er spürte deutlich, wie gut ihm das Training nach fast drei Tagen Auszeit tat. Bei sich zuhause hatte er zwar auch einiges an Gerätschaften herumstehen, aber hier hatte er noch am meisten das Gefühl, dass es ihm etwas brachte. Bei seinem Job musste in Sachen Muskelmasse eben alles stimmen. Und außerdem bereitete es ihm eine gewisse Genugtuung, all das schlaffe, gewöhnliche Ungeziefer um sich herum zu beobachten, wie es sich an den Maschinen und Übungen abzappelte. Hilflose, kleine Menschlein, denen schon beim Sechzig-Pfund-Gewicht fast die Augen aus dem Kopf fielen. Ach herrjeh, wie anstrengend, wie anstrengend, das schaff ich ja nie! Mit einem gehässigen Grinsen auf dem Gesicht warf sich Kurogane sein schwarzes Handtuch über die Schulter und begab sich zum Klimmzug. Trotz seiner schlichten Garderobe- ein schwarzes Shirt, eine schwarze Jogginghose und schwarze Nikeschuhe- war er in diesem Studio ein beliebtes Ziel von weiblichen Blicken, was ihm wie üblich die Laune rasch wieder vergällte. Verdammte Weiber! Was glotzten sie ihn so an, war er Arnold Schwarzenegger oder Jesus oder Allah, oder was? " 'ne neue Frisur würde Ihnen nicht schaden", sagte er im Vorbeigehen zu einer bereits etwas reiferen Dame, die ihn schon, seit er hier im Türrahmen erschienen war, mit perversen Blicken bombardiert hatte. Als ob er je was von so einer breitärschigen alten Wachtel wollen würde. Gerade wollte sich der Killer auf den Klimmzug schwingen, um seine vierzig Stützen abzuarbeiten, als ihm plötzlich etwas einfiel. Misstrauisch ließ er seinen glutäutigen Blick durch das Studio schweifen. Wo war dieser Bill, oder Ray, oder wie er auch hieß, abgeblieben? Nicht, dass es ihn interessierte. Es wäre ihm sogar viel rechter gewesen, wenn dieser Schwachmat sein doofes Gesicht nie wieder gezeigt hätte und einfach vom Erdboden verschwunden wäre. Aber innerlich hegte Kurogane schon die grauenvolle Vision, dass dieser unerträgliche Kerl mit seinem noch unerträglicheren Gefasel die Inhaber dieser MedX-Filiale um den Verstand brachte und soweit trieb, dass sie sich in einem wilden Anfall von Verzweiflung hundert Tonnen Dynamit besorgten und den gesamten Laden in die Luft sprengten, bevor sie anschließend Selbstmord begingen. Lieber ging er ihn suchen, oder stellte zumindest klar, wo er sich aufhielt, um die drohende Katastrophe abzuwenden. "He!", hielt er den Erstbesten an, der an ihm vorbeiwollte, "Ich such einen blonden Idioten. Haben Sie einen gesehen?" "Gucken Sie doch einfach bei EBay", war die ungehaltene Antwort seines Ansprechpartners, bevor dieser weiterlief. In Gedanken schickte Kurogane diesem elenden Individuum tausend gotteslästerliche Flüche nach. So ein Arschkopf! Am besten machte er sich selbst auf die Suche. Gesagt, getan. Diesem Teil des Studios war die Abteilung "Musikalische Allround-Gymnastik" am nächsten. Der Killer hasste diesen Ort, weil hier stets irgendwelche geschmacklose Dance-Musik lief, zu der alte, schwabbelbeinige Omas ihre verkalkten Hüften kreisen ließen, um ihren Tod um ein paar Stunden hinauszuzögern. Trotzdem steckte er seinen Kopf durch den Türspalt. "Ich such einen blonden Kerl, der ständig grinst", hielt er sein nächstes Opfer- eine jener schwabbelbeinigen Omas- an. Diese überlegte für einen Moment, wobei sie den groben Tons ihres Gegenübers großzügigerweise überging. "Hmm... ein blonder Kerl, sagen Sie? Naja, wir haben einen blonden Physiotherapeuten hier, aber ich weiß nicht, ob--" "WAS?! WO IST ER?!!" "Ehh- zwei Räume weiter--" Ohne sich ein weiteres Wort der Erklärung anzuhören, sprintete der Schwarzhaarige los, das Desaster bereits vor Augen, geradewegs bis zum Gymnastikraum 3A, kam schnaufend davor zum Stehen, riss die Tür auf-- und erstarrte. Bei dem Anblick, der sich ihm hier bot, wich ihm alles Blut aus dem Gesicht. "Sooo, und jetzt kommen wir zum dritten Teil unserer Übung! Ich will Ihre Beine oben sehen, Ladies and Gentlemen! Eins-zwei, eins-zwei, zwo-drei-vier-fünf! Hoch das Bein, und hoch damit! Lassen Sie mich Ihre Energie fühlen! Und vergessen Sie den Kampfruf nicht! Yeah! Shake ya legs!!" Zwanzig restlos begeisterte Frührentner stemmten synchron die Fäuste in die Hüften, ließen die Becken im Takt zur Musik kreisen, und warfen immer wieder die krampfaderdurchzogenen Beine in die Luft, als ob sie versuchten Cancan zu tanzen. "Yeah! Yeah Baby! Hit me, come on!", riefen sie dazu im Chor wie eine Versammlung von katholischen Priestern. "Und jetzt nehmen wir die Arme dazu! Rhytmisch im Takt, Monkey-Dance, mit Schwung! Was will ich von Ihnen hören?" "We will dance like crazy monkeys!" "Genau! Sie sind agil, Sie sind geschmeidig! Nichts kann Sie aufhalten! Und ab geht die Post!" Fye schien ebenso in seiner Aktivität aufzugehen wie seine zwanzig Schützlinge. Völlig losgelöst, in furios-gymnastischen Bewegungen frönte er seiner Beschäftigung als Vorreiter, wobei das weite, taubenblaue Hemd und die weiße Jogginghose, die er trug, wie leere Säcke um seine schlanken Gliedmaßen schlackerten. Ein wenig wirkte er wie eine Fetzenpuppe. Er hielt in seinen Übungen inne, als er Kurogane im Türrahmen bemerkte, der mittlerweile Augen wie Spiegeleier machte. "Hey! Hi! Wollen Sie auch beim allround-gymnastischen Monkey-Dance mitmachen?" "Was, was-- was-- WAS TUN SIE DA?!!" "Na, sieht man das nicht? Ich bin hier Physiotherapeut! Der Monkey-Dance stammt von mir! Wollen Sie's auch mal probieren?" "NEIN!!" "Echt nicht?" "NAIEN!!" "Na gut! Dann macht jetzt jeder noch seine Übungen fertig, und später treffen wir uns in der Dusche, okay?" "WAA-- ach, rutschen Sie mir doch den Buckel hinunter!!" "Lieber nicht. Das wäre ziemlich ungesund für den Rücken." "AAAARRRGH!!" Mit einem Wutschrei schlug Kurogane die Tür zu und stampfte so schnell er konnte wieder ins Studio zurück. Dieser Idiot war Physiotherapeut. Ein verdammter Physiotherapeut. Ich glaub das nicht. Ich glaub das einfach nicht. Halb sieben am Abend. Die Tür des Haupteingangs schwang auf und schlug mit solcher Wucht wieder zu, dass sie fast aus den Angeln gefallen wäre. Fye, der abgeduscht, geföhnt und in seinen hellen Wintermantel eingemummelt etwa zehn Minuten gewartet hatte, drehte sich mit einem Lächeln zu dem miesgelaunten Schwarzhaarigen um, der mit seiner Tasche im Schlepptau auf die Straße gestapft kam. "Da sind Sie ja!" "Nein, wirklich?!" Ohne den Blonden eines einzigen Blickes zu würdigen, marschierte der Killer einfach drauflos, sodass ihm sein Begleiter wohl oder übel nachjappeln musste. "Warum so schlecht drauf? Das war doch total erfrischend!" "Für Sie vielleicht, Mr. Flückiger, aber zufällig hatte ich besseres zu tun als diesen bescheuerten Affentanz zu machen, und--" "Hey... kommen Sie. Schalten Sie 'nen Gang runter", meinte der Konditorlehrling nur mit einem gutmütigen Lächeln, "Es ist Abend, und wir können uns Zeit lassen. Morgen ist auch noch ein Tag." Ein längeres Schweigen verging. Auf der Straße fuhren einige Autos vorbei. Es hatte mittlerweile aufgehört zu schneien. Am wolkenbesetzten Himmel schimmerte manchmal die bleiche Scheibe des Halbmonds auf. "Übrigens", begann der Blonde plötzlich unvermutet, diesmal etwas leiser, sodass Kurogane wohl oder übel langsamer laufen musste, um ihn weiterhin zu verstehen, "Ich heiß nicht Flückiger. Ich heiß Fye. Fye De Flourite." Geringschätzig wandte der Killer den Kopf um und starrte Fye an. "So? Ist ja entzückend. Wie kommt's, dass Sie anderswo Mr. Flückiger heißen?" Misstrauisch beobachtete Kurogane, wie sein Gegenüber offenbar verlegen den Blick senkte. "Naja. Kleine Macke von mir. Ich bin eben ziemlich schüchtern." Nach einer Pause fügte er erwartungsvoll hinzu: "Und wie heißen Sie?" "Das wissen Sie doch schon längst", war die unwillige Antwort. Der junge Mann legte mit einem Lächeln den Kopf schief. "Ich würde es aber gerne nochmal von Ihnen hören. Weil es Ihr Name ist." Stille. Als der schwarzhaarige Riese zu sprechen anfing, war es kaum mehr als ein Murmeln. Doch Fye hörte ihn klar und deutlich. "Kurogane." Wieder Stille. "Kurogane also? Ihr Vorname, nehme ich an? Und Ihr Nachname?" "Halten Sie die Klappe." "Oh. Tut mir Leid. Ich war nur neugierig." Irritiert wandte der Killer seinen Kopf zu seinem Kompagnon um. "Sie machen einen Rückzieher?" "Klar, wieso nicht? Wenn Sie nicht darüber reden wollen, ist das okay. Es ist Ihr Name, und ich habe keine Rechte drauf." Kurogane starrte ihn an wie einen komplett Geistesgestörten. "Namen sind was Besonderes! Wem man seinen Namen verrät und wem nicht, ist die Entscheidung von einem selbst, finden Sie das denn nicht?", fragte Fye verwundert. "Nein." "Warum nicht?" "Namen sind 'ne schlichte Lüge. Ein guter Vergleich sind Haustiere. Sie nennen Ihre Katze Lenny, aber was hat die Katze dann davon? Sie bleibt die gleiche Katze wie vorher, und wenn sie stirbt, nützt ihr der Name auch nichts." "Hat der Mensch denn bei Ihnen den Stellenwert einer Katze?" "Tsss." Als Kurogane den Blick hob, sahen die Augen des Blondlings wie Glas aus. Bleiches Milchglas. "Was ist?!!" "Ach, nichts. Sie erinnern mich so an jemanden Bekannten." Wieder Stille. "Ich denke", begann Fye schließlich wieder, "Wenn man seine Katze Lenny nennt, bezweckt man doch irgendetwas damit. Ich weiß nicht, warum mich meine Eltern Fye genannt haben... aber, wer weiß? Vielleicht haben sie mir durch diesen Namen eine gute Eigenschaft gewünscht, die ich besitzen soll? Vielleicht haben sie mir mit meinem Namen etwas mitgegeben? Unmöglich ist nichts. Vielleicht sagen Namen ein winziges bisschen darüber aus, wer wir wirklich sind." Kurogane stöhnte. "Mein Gott, was sind Sie bloß für ein Schwachmat- Sie machen Monkeydance, schwafeln von Paris und Träumen und Namen und tapezieren Ihr Zimmer mit blauer Tapete! Das werde ich wohl bis an mein Lebensende niema--" Der Killer hielt verwirrt in seinem nicht gerade netten Auswurf inne, als er das Lächeln seines Begleiters sah. "Warum grinsen Sie jetzt schon wieder?!!" Fye zwinkerte. "Sie sind lustig. Sie bringen mich zum Lächeln." Ein langes Schweigen verstrich, in dem Kurogane Fye nur aus verständnislosen, zinnoberroten Augen musterte. Es war mittlerweile so kalt, dass ihr Atem in Form von Dunstwolken über ihren Köpfen aufstieg. Dem Schwarzhaarigen fiel beim besten Willen nichts ein, was er jetzt noch sagen konnte. Verdutzt bemerkte er, dass er während ihrer Unterhaltung einfach auf dem Fußweg stehengeblieben war. Der Blondling schien das auch just zu realisieren, er grinste jedoch nur. Immer noch Stille. "Kurogane?" Der Killer hatte allmählich wirklich genug für heute, und hob nur die Augenbrauen zum Zeichen, dass er hörte. "Ich muss gehen. Ist 'n ziemlicher weiter Weg von hier bis zu meinem Haus." "Ah. Wie interessant. Worauf warten Sie dann? Hauen Sie schon ab!" Fye strahlte. "Alles klar! Dann-... ... dann bis dann irgendwann." "Jaja, Sie mich auch." Der Konditorlehrling grinste und ließ noch einen belustigten Blick zurück, bevor er sich auf den Weg machte. Kurogane setzte sich- endlos erleichtert- ebenfalls in Bewegung. Er wollte schon um die Ecke biegen, als er merkte, dass ihm sein Kompagnon noch etwas nachrief. Völlig entnervt drehte er sich um. "WAS?!!" Das Grinsen des Hilfswichtels war so breit, dass man es sogar noch sehen konnte, wenn man zwanzig Meter weiter weg stand. "Eine Frage noch! Hätten Sie Ihre Katze denn wirklich Lenny genannt, wenn Sie eine hätten?" Kurogane schnaubte durch die Nase. Dieser Idiot konnte vielleicht Fragen stellen. Schließlich tippte er sich mit einem Zeigefinger an die Stirn. "Blöde Frage! Ich hätte sie natürlich Mr. Flückiger genannt!" "Leute! HEY!! LEUTE!!" RUMMS. Mit einem Krachen flog die Eingangstür der Wohnung im Hippie-Viertel auf. Hastig schleuderte Fye seine Winterstiefel von den Füßen, wühlte sich aus seinem Mantel und rannte ins Wohnzimmer. Dort saß einer seiner beiden Mitbewohner- Shaolan- der offenbar gerade beim Lernen gewesen war, und erschrocken aufmerkte, als sein Mitbewohner Hals über Kopf ins Zimmer getaumelt kam, sich auf den erstbesten Sessel sinken ließ und in lautes, hemmungsloses Gelächter ausbrach. "WAHAHAHAHA! Hihihihi- buahahahah!!" Der schlaksige Teenager mit dem kastanienfarbenen Schopf blickte drein, als hätte er ein Ei im Ganzen verschluckt. "Ähh-... Fye-San? Wo bist du gewesen? Es ist halb zehn! Ist alles in Ordnung?" "Jaja, schon, Shaolan, es-... PUAHAHAH!! Es ist nur so lustig!! Rate mal, wo ich heute war, rate mal!" "Im Untergrundshop für Ecstasy?" "Nein! Ich war heute im Fitness-Studio!" "WAS?! Aber Fye-San-- du warst doch noch nie in deinem Leben in einem Fitness-Studio!" "Eben! War das vielleicht gigantomatisch! Und ich bin mit Kurogane hingegangen!" "Kurogane? Ist das der Name von diesem komischen Typ, von dem du schon seit zwei Tagen redest?" "Ja! Und stell dir vor: ich war sogar Physiotherapeut! " "WIE bitte? Was hast du denn nur wieder angestellt, Fye-San??" "Ich hab mich angemeldet, und hab mich ein bisschen umgesehen, und weil so 'ner Rentner-Truppe gerade der Therapeut gefehlt hat, hab ich ihn eben ersetzt! Wow! War das vielleicht cool! Hab ich dir eigentlich schon meinen Monkey-Dance gezeigt?" Shaolan schüttelte den Kopf. Fye warf sich stolz in die Brust. "Hab ich mir heute ausgedacht! Ich sag dir, das hat irre Spaß gemacht! Sowas müsste man öfter machen! Haaafuuuuuuh!" Mit einem theatralischen Seufzer beruhigte er sich schließlich wieder. "Aber dieser Kurogane ist wirklich lustig. Wir hatten ein interessantes Gespräch über Namen. Vielleicht seh ich ihn ja wieder." Mit einem nachdenklichen Lächeln warf Fye einen Blick zum Wohnzimmerfenster hinaus. "Es ist nur so seltsam, Shaolan. Heut abend hab ich irgendwie-- gelebt. Glaube ich zumindest. Das ist so seltsam, dass es fast schon wieder lustig ist!" Da sein Mitbewohner ihn nur verwundert anstarrte, besann sich der Blondling- wie jeden Abend- auf das Übliche. "Naja, dann genug davon. Es ist schon spät. Komm, wollen wir einen Kuchen zu Abend backen?" "Ähh, okay." Fye lächelte und lotste seinen jugendlichen Mitbewohner in die Küche. Der Abend war gerettet. Jedenfalls vorerst. Bis die Nacht kommen würde. Hosted by Animexx e.V. 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