Chrysalis Soul von -Soul_Diver- (Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]) ================================================================================ Prolog: Same Ol' Thing ---------------------- Chrysalis Soul Diese FF widme ich allen, die mir je Gutes getan haben und mir Freunde waren! Ein riesiges Dankeschön an Flyinglamb, Osaka-sama und BabyTunNinjaDrac für die unvergesslichen gemeinsamen Schreib- und Lachorgien, und an -Nightstalker- und Karen_Kasumi für ihre unersetzbaren Momente der Zweisamkeit und ihre wunderbare Freundschaft! Disclaimer: Die Charaktere, die ich für meine Fanfiction benutze, gehören nicht mir, sondern Clamp. Ich leihe sie mir lediglich für meine Geschichte und verdiene auch kein Geld hiermit. -"Was ist unsere Seele? Wo ist sie? Wann entsteht sie? Schlüpft sie in den Menschen, wenn er geboren wird? Ist sie bereits ein Teil seines sterblichen Fleisches, wenn er auf die Welt kommt? Ist die Seele gesund und wird erst im Laufe eines Lebens krank? Ist die Seele schon blass oder schwach, wenn sie mit einem Menschen geboren wird? Unsere Seele ist wie eine Schmetterlingspuppe. Sie ist eine einzige Entwicklung, eine Wanderung, eine Reise. In ihr ist alles enthalten, was uns ausmacht. Sie bindet sich an denjenigen, der sie stützt und ihr Schutz gewährt. Sie stirbt, wenn man sie verwundet. Unsere Seele, und der Weg, den sie geht, ist eines unser letzten großen Geheimnisse. Wir erforschen sie, sezieren und analysieren sie, doch werden wir uns all der wunderbaren, schrecklichen, unvergleichlichen Dinge, zu denen sie uns Menschen animiert, niemals völlig bewusst werden."- (Victor Hugo) ~~ "Nein-... NEIN, BITTE NICHT!! GEHEN SIE WEG!!" Mit ohrenbetäubendem Krachen fiel eine Tür ins Schloss. Schritte. Dumpf und hart hallten sie in der finsteren Halle wider. Pulsierend. Gehetzt. Gehetzt wie ein vor nackter Angst halb wahnsinniges Tier, das vor einer Feuersbrunst floh. Vor einer Feuersbrunst, die sich schon längst an seinen Fersen festgesetzt hatte und sich nun langsam, quälend langsam seinen Körper hochfraß und seine Haut, sein Fleisch und seine Knochen rücksichtslos verschlang... Verheerend wie entferntes Donnergegroll verlor sich das Echo der Schritte zwischen den Wänden. Vor Angst mehr stolpernd als rennend hastete die junge Frau durch den Salon. Ihre Atem donnerte in harten, keuchenden Stößen durch ihre Lungen. Obwohl ihr Gesicht im spärlich hereinfallenden Mondlicht weiß wie ein Bettlaken wirkte, war es aufgedunsen und schweißüberströmt. Ihre Beine zitterten so stark, dass sie einfach umzufallen drohte. Verzweifelt, fast schon hysterisch, kam sie am Nordflügel des Salons an. Wie besessen drehte und wendete sie sich nach allen Seiten, als fürchtete sie, dass ein unbekanntes Etwas sie plötzlich aus dem Schatten der Wände heraus anspringen und ihr die Kehle durchbeißen würde. Ihre angstgeweiteten Augen sprangen fiebrig umher, irrten ziellos über die Möbelstücke, die im Nachtschatten ruhig wie alte Freunde an den Wänden standen. Die Hoffnung auf eine Flucht war aussichtslos. Die einzige Möglichkeit, die ihr jetzt noch blieb, war sich zu verstecken. Wo sollte sie jetzt bloß hin? Gab es denn wirklich keinen Platz mehr, an dem er sie nicht finden würde? Ein leichtes Geräusch hinter ihrem Rücken ließ die junge Frau aus ihren Gedanken aufschrecken. Wild fuhr sie herum. Nichts. Niemand. Oder doch-...? Waren das Schritte, die da näherkamen? Atemzüge? Das Klirren einer Waffe? Unruhig wich die junge Frau immer weiter vor diesen ominösen Geräuschen zurück, die sich langsam im Südflügel des Salons auszubreiten begannen. Ihr Herz zappelte in ihrer Brust wie ein junger Vogel. Und als draußen am regenverhangenen Himmel ein jäher Blitz aufflammte und das Innere des Salons für wenige Sekunden in gleißendes Licht getaucht wurde, sah sie ihn. Er war direkt vor ihr. Groß und drohend überragte er ihre armselige, zitternde Gestalt. Verheerend. Unüberwindlich. Und er kam immer weiter auf sie zu. Es war wie ein Albtraum. Hilflos von ihrer Angst überflutet wie von einer Welle eiskalter Gischt, sank die junge Frau mit einem erstickten Aufschluchzen auf dem Parkettboden in sich zusammen. "Bitte-... bitte, tun Sie's nicht... bitte, ich--" Etwas Kaltes, Spitzes, das sich plötzlich unmerklich auf ihre Kehle legte, ließ sie in ihrem Angstgewimmer innehalten. Ihr Herz machte einen Satz. Mit zitternden Lippen ließ sie den Blick ihrer hellgrünen Augen nach unten schweifen. Es war eine Schwertspitze. Kühl und rasiermesserscharf funkelte sie im hereinfallenden Mondlicht. Langsam wurde ihr Kopf angehoben, und sie blickte in ein Paar harter, zinnoberfarbener Augen. "So", hörte sie eine raue, heisere Stimme aus der Dunkelheit heraus wie das Grollen einer Raubkatze. "Genug Fangi gespielt." Die Schwerspitze bohrte sich ein wenig fester in ihre Kehle. Die Kälte fraß sich unaufhaltsam in ihre weiche Haut. "Nein-- nicht!", stieß die junge Frau schwach hervor, während sie spürte, dass ihr bereits die Tränen in die Augen stiegen. "Bitte-... bitte, tun Sie's nicht! Gehen Sie weg, ich flehe Sie an, gehen Sie weg, bitte--" Ein missbilligendes Seufzen. "Mein Gott, das sagen Sie jetzt schon den ganzen Abend. Fällt Ihnen nicht langsam mal was anderes ein?" Die einzige Antwort, die er von seinem Opfer bekam, war ein keuchendes Schluchzen. Sie wusste, dass für sie jetzt Schicht im Schacht war, und gab sich ganz dem Kollaps hin. Tränen stiegen in ihre geröteten, angstgeweiteten Augen und rannen in immer rascherer Folge ihre leichenblassen Wangen hinunter. Ihre Hände, Beine und Füße zitterten wie von einem Krampf durchzogen. Ihr wirres, fuchsbraunes Haar hing ihr in verschwitzten Strähnen in die ebenso verschwitzte Stirn. Wie eine schmutziges Etwas kniete sie am Boden. Eben auch nur ein Mensch. Eben auch nur wie die unzähligen anderen vor ihr. Stellte man ihm den Tod in Aussicht, war der Mensch nicht mehr als ein Tier. Sogar noch viel weniger. Nur um seine nackte Existenz besorgt, weil er nicht wusste, was danach kam. Hässlich. Kriecherisch. Elend. "Warum..." Ein plötzliches, heiseres Wispern vonseiten seines Opfers ließ ihn aufmerken. "Was?" "Warum tun Sie nur so etwas Abscheuliches", flüsterte die junge Frau und starrte ihn an. Als Antwort drückte sich die Klinge seines Katana nur etwas fester gegen ihre Haut und hinterließ eine dünne, blutende Linie. Sie schnappte unwillkürlich nach Luft. Die Todesangst, die sich immer tiefer in ihren Verstand hineinwühlte wie eine Zecke in das Fleisch ihres Wirts, ließ ihre Augen ziellos in ihrem Gesicht auf- und abhüpfen. Man konnte ihr förmlich ansehen, dass sich ihr ganzer Organismus unter der Angst vor dem Ungewissen in den Wahnsinn verlor. Er hob geringschätzig die Augenbrauen. "Sie verdienen Ihr Geld, indem Sie tagsüber versuchen, die verdammte Politik voranzubringen und sich nachts von Kerlen vögeln lassen. Ich verdiene mein Geld, indem ich Sie jetzt kaltmache." Vielleicht war es die nüchterne Feststellung, dass sie genaugenommen nicht viel mehr war als eine billige Nutte, vielleicht war es die unangenehm klare Formulierung, dass sie heute nacht unter einer gewissen Garantie abkratzen würde, die ihr plötzlich wieder Kraft verlieh. Ihr Körper bebte. Ein durchdringender, pfeifender Schrei stieg langsam in ihr empor wie eine Lokomotive, die aus einem Tunnel kam. Mit einem wilden Satz sprang sie auf die Füße und riss die Hände hoch, um auf ihn einzuschlagen. "NEIIIIIIIN!!!" Es war zwecklos. Er kannte solche Fälle schon. Manche Menschen reagierten auf ihren baldigen Tod wie ein in die Enge getriebenes Stück Vieh- sie drehten total durch, verfielen in Raserei und versuchten sprichwörtlich, sich frei zu boxen. Doch er war nicht umsonst an der Spitze seiner Einheit. Mühelos schaffte er es, sein Opfer bei den Händen zu packen und zu bändigen. "Keine Angst. Es geht ganz schnell." "Was--" Sie wollte etwas erwidern, sie wollte aufschreien, ihm das Gesicht zerkratzen, sie wollte sich losreißen, ihn zu Boden stoßen und wegrennen, nur noch wegrennen- aber er war schneller. Kalt blitzte das Katana im hereinfallenden Mondlicht auf. Das Letzte, was die junge Frau in ihrem Leben noch spürte, war ein harter, glühend heißer Ruck, der sich von der Brust ausgehend durch ihren ganzen Körper zu bohren schien- und sie sah ihr Blut. In einem langen Erguss spritzte es mit einem widerwärtigen Laut am Boden auseinander. Warm und dunkelrot rann es aus dem faustgroßen Einschlag in ihrer Brust, in der bis vor wenigen Sekunden noch ihr Herz bis zum Explodieren gehämmert hatte, und in dem nun das Katana steckte wie ein riesiges, stählernes, hässliches Etwas. In dicken Bächen rann das Blut ihr helles Hemd und ihren Faltenrock hinunter und tropfte auf den Boden. Die junge Frau blickte nur noch einige Sekunden lang verwundert an sich hinunter, bevor ihr Blick langsam glasig wurde. Wie in Zeitlupe fiel sie der Länge nach vornüber, schlug hart auf dem Boden auf und fühlte nichts mehr. Nie mehr. Schwarzes, pechschwarzes Schweigen breitete sich über dem Salon aus, stinkend und lautlos wie die Pest. Mit einem teilnahmslosen Blick starrte der Mörder lange auf sein leblos am Boden ausgestrecktes Opfer. Lauschte dem monotonen Regen, dem grimmigen Donnergegroll von draußen. Lange, lange, lange. Bis er sich schließlich wieder regte. Seelenruhig griff er in die rechte Tasche seines knielangen, schwarzen Mantels und zog ein ebenso schwarzes Handy hervor. Kurzerhand drückte er die Wahltaste. Er hatte noch nie eine andere Nummer mit diesem Ding angerufen. Zwei- Gartenzaun. Tut. Tut. Tut. "Am Apparat." Er blieb still. Denn allein schon durch sein Schweigen wusste sein Auftraggeber am anderen Ende der Leitung, dass er es war. Und so brauchte er nicht mehr viel zu sagen. "Fertig." Mittwoch, elf Uhr morgens. In der Nacht hatte es heftig gewittert und geregnet, und an diesem Morgen war der Raureif auf den Dächern und Fenstern sogar noch dichter als sonst. Seltsam, dabei hatte der Wetterfritze doch Schnee angekündigt? Anscheinend gab's heutzutage immer weniger Leute, die was von ihrem Fach verstanden. Der Gedanke war ihm auch letzte Nacht gekommen, als sein Nachbar auf der Straße einen Herzinfarkt erlitten hatte, und der Heini vom Rettungsdienst den armen Opi mit seinen Wiederbelebungsversuchen endgültig über den Jordan geschickt hatte, anstatt ihn zu retten. Ein Italiener. Hatte vor der Beatmung wohl zuviel Pizza Marinara gegessen. "Murmelmurmelmurmelmurmelmurmel, blablablablablablaaa..." Die Frau des Opis hatte sich vor lauter Frust über soviel Blödheit gleich auch den Lebensfaden abgezwackt, indem sie sich mit dem alten Karabiner ihres Manns den Schädel zu Rübenschnitzel verballert hatte. Nutten, Herzinfarkt, Pizza, verrücktgewordene Oldies- über so eine Scheißnacht hatte er gleich neun Cognac kippen müssen und war mit einem Brummschädel und Ohrensausen aufgewacht. Seine Gemütsverfassung sah dementsprechend aus. Gedankenverloren starrte Kurogane zum Fenster hinaus. "Murmelmurmelmurmelmurmel, blablablablabla..." Auf den schneebeladenen Zweigen vor dem Fenster hockten einige dick aufgeplusterte Kohlmeisen wie an Fäden aufgezogene Marshmallows, nur sehr zaghaft zwitschernd, als wüssten sie nicht so recht, ob sie solch einen grauen, verschneiten Tag besingen sollten. Auf der Straße fuhren nur einige wenige Autos vorbei. Es war sehr ruhig. Eine Seltenheit für eine Großstadt wie Kingstonville. Hundertfünfundzwanzigtausend Köpfe. Alltäglich kamen welche dazu. Und allnächtlich rollten welche von dannen. Als ob er das nicht besser wüsste. "Murmelmurmelmurmel, blaablaaabla-- bla?BLA!!" "Hey-- HEY, HALLO!! Ja sagen Sie mal, hören Sie mir überhaupt zu?!" Oh nein, nicht der schon wieder. Träge wandte Kurogane seinen Kopf vom Fenster ab und sah mit einem verschlafenen Blick dem vor Wut zu doppeltem Umfang aufgeblähten Psychotherapeuten ins Gesicht, der ihm gegenüber hinter seinem stattlichen Schreibtisch hockte wie eine belgische Leberwurst unter Hochdampf. Versuchte wohl schon seit längerer Zeit, mit ihm zu reden. Seit einer knappen Stunde also. "Eh?" "Erstens heißt das nicht "eh", sondern wie bitte ", keifte Dr. med. Fitzgerald A. Delauney, eine männliche Schönheit mit der zierlichen Statur eines Schweineschinkens, "Und zweitens: dürfte ich Sie nun endlich um Ihre vielgeschätzte Aufmerksamkeit bitten?? Ich versuche schon die ganze Zeit, ein halbwegs vernünftiges zwischenmenschliches Gespräch mit Ihnen zu führen! Was ist dort draußen nur so schrecklich interessant? Ist Pamela Anderson gerade vom Mond geplumpst und führt jetzt vor dem Fenster einen Striptease auf?" "Nein", gab der schwarzhaarige Riese auf dem Patientenstuhl gähnend zurück, "Ich denke nur gerade an gestern Nacht. Mein Nachbar ist einem Herzinfarkt verreckt, die Frau meines Nachbars hat sich kurz darauf die Kugel gegeben, und ich mir zum Schluss die Kante. Das war vielleicht was." "Oh!" Wie auf Knopfdruck wandelte sich das hysterisch-weibische Geifern des Doktors zu einem salbungsvollen, fast kameradschaftlichen Ton, als hätte er jetzt den vielversprechenden Leitfanden zu Kuroganes bekloppter- oho!- Psyche gefunden. Diese Quacksalber waren echt allesamt wie geklont. "Wollen Sie vielleicht darüber reden? Das war sicher ein unangenehmes Erlebnis für Sie, habe ich Recht?" "Sie haben Recht. Für den Cognac ist mein halbes Monatsgehalt draufgegangen, und ich Blödmann versauf ihn einfach wegen nichts und wieder nichts." Stille. Dr. Delauneys Kinnlade sackte runter. Für den beknacktesten Gesichtsausdruck der Welt hätte der Fettsack in just diesem Moment zweifellos die Lorbeeren eingesackt. "W-... WAS?!" Mit einem missbilligenden Funkeln in den zinnoberfarbenen Augen wandte Kurogane seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster zu. "Mein Gott, Delauney, Sie kapieren aber auch gar nichts, oder? Der Cognac. Das war nicht nur irgendeine von solchen billigen Zahnspülungen, wie sie bei Ihnen im Regal stehen. Exquisit. Schabbli Prömmiär Gröö, oder wie man das auch ausspricht..." Wieder Stille. Dieser Tubipp war anscheinend einer der Sorte, die alles erst zwanzigmal hören mussten, bevor sie's kapierten. "Sie wollen mir also damit sagen", begann der Psychotherapeut schließlich langsam, "Dass Ihnen dieses, dieses-- Gesöff wichtiger war als Ihre beiden verstorbenen Nachbarn?" Die zinnoberfarbenen Augen blickten angeödet. "Es hat also endlich Klick gemacht, was, Professorchen?" Dem Doktor, dessen Gesicht langsam die Farbe einer frisch abgekochten Languste annahm, fühlte sich zusehends unwohler in seiner Haut. Diese Präsenz, die da auf dem Patientenstuhl saß und offenbar mehr Interesse an dem Fenster fand als an seinen verzweifelten Versuchen, endlich ein Gespräch mit ihm zu beginnen, erinnerte weniger an einen Menschen als an Raubtier. Teilnahmslos und apathisch kauerte es in seiner Höhle, blind, taub und stumm- jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, in dem es seine Beute in Aussicht bekam. Und spätestens dann gab es jede Zurückhaltung auf, stürzte sich auf sein wehrloses Opfer und biss ihm mitleidlos die Kehle durch. Oder riss ihm gleich den Kopf ab. Delauney konnte zwar durchaus von sich behaupten, während seinen zwanzig Jahren als Diplomtherapeut ein einigermaßen stabiles Nervenkostüm erworben zu haben, aber just dieses wollte ihm in diesem Moment abhanden kommen. So einen verstockten Fall hatte er noch nie gehabt. Er wäre schon froh gewesen, wenn ihm dieser ungehobelte Kerl wenigstens seinen Nachnamen genannt hätte, wenn er denn einen besaß. Mit einer Kaskade von Räusperern versuchte der beleibte Mann mit dem kastanienfarbenen Toupet auf der Glatze erfolglos, sich zur inneren Ruhe zu zwingen. "Das ist ja interessant! Sie haben wirklich das innere Leben eines Philisters! Ich denke, so langsam durchschaue ich die Problematik, die bei Ihnen vorliegt, Kurogane!" Die zinnoberfarbenen Augen bekamen einen geringschätzigen Ausdruck. "Kein Schwein durchschaut meine Problematik. Weil es da nämlich keine gibt." "Oh doch, mein Lieber, Sie wollen es sich lediglich nicht eingestehen!", trumpfte Delauney erregt auf, "Sie schleppen einen ganzen Mount Everbest an Problemen mit sich herum!" Er musste ihn knacken. Er musste. Er musste. Er musste. Kurogane gähnte unübersehbar. Das war ja schon fast wie in einem schlechten Psycho-Thriller. "Es heißt ja eigentlich Everest und nicht Everbest", erwiderte er schließlich nüchtern. "Und ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie von mir wollen, Delauney. Ich kann keine Problematik bei mir erkennen. Aber eins erkenne ich, und zwar, dass ich offenbar Perlen vor die Säue geworfen habe, als ich hierher kam." Das war zuviel für den Stolz des Therapeuten. Sein Gesicht nahm eine Färbung an, die ihn aussehen ließ wie ein ungekochtes Würstchen, das man ihn ein Netz gezwängt hatte. "WAS?!! Ich glaube, ich höre nicht recht! Sie sind doch aus eigenem Antrieb hier!! Was für ein Mensch sind Sie, dass Sie es wagen, mich derartig zu--" "Ich bin nicht aus eigenem Antrieb hier. Ehrlich gesagt wurde ich kollegial gezwungen." "ACH JA?!!" Schon längst nicht mehr Herr seines Tuns, sprang der Doktor von seinem Stuhl auf und stützte sich mit beiden vor Zorn bebenden Händen auf dem Schreibtisch ab. Sein stets rebelliender "Problempatient" hatte ihn mal wieder soweit gebracht. "Wissen Sie was, dann hauen Sie doch ab! Sie sind ein hoffnungsloser Fall! Auf Sie kann ich mit Handkuss verzichten! Na los, verschwinden Sie schon!" "Mit größtem Vergnügen. Auf Nimmerwiedersehen." Der Riese erhob sich. Die Sprechzimmertür schwang auf und schlug mit solcher Wucht wieder zu, dass ein wenig Mörtel und Verputz von der Decke des Sprechzimmers rieselte. Eine besonders fette, eklig schwarze Spinne purzelte ebenfalls herunter, genau auf die Patientenakte des Doktors. Mit einem hysterischen Kreischen eliminierte Delauney das bedauernswerte Geschöpf mittels eines Faustschlages, sodass ihr einziges weltliches Vermächtnis nur in Form eines hässlichen Flecks auf dem sauberen, weißen Papier zurückblieb. Schließlich sank der ebenso bedauernswerte Doktor auf seinem gepolsterten Stuhl in sich zusammen wie von einem Vorschlaghammer in Extra-Large getroffen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Und er hatte sich noch vorgenommen, Würde und Räson zu bewahren! Felsenfest sogar! Aber nein, dieser unverschämte Kerl hatte ihn wieder aus der Reserve gelockt, ohne dabei auch nur einen Finger zu krümmen. Dabei logiere ich erst seinem Jahr in dieser Stadt! Warum ich, warum ausgerechnet ich? Eine lange Stille verging. Mit sichtlichem Ekel musterte Delauney die von der toten Spinne verunzierte Akte. Schließlich fasste er sie mit Daumen und Zeigefinger an einer Ecke und schmiss sie mit krausgezogener Nase in den Papierkorb. Die Akte würde er ohnehin nie mehr brauchen. Mit diesem schwarzhaarigen Schwein war er fertig. Es dauerte seine Zeit, bevor sich Delauney endgültig wieder aufraffte und sich den Schweiß vom Gesicht tupfte. Nur ruhig bleiben, Fitzgerald, ruhig bleiben. Das war noch lange nicht dein letzter Patient für heute. Besser kommst du wieder auf den Teppich, bevor du den nächsten auch noch davonjagst. Wird schon noch werden, wird alles schon noch werden... Der Doktor streifte die spinnenverschmierte Akte im Papierkorb mit einem misstrauischen Blick. Er wusste nicht, warum- aber irgendwie genügte das, um ihm eine Schauer über den Rücken zu jagen. Verdammt nochmal! Dieses Arschloch! Dreckskerl! Bastard! Innerlich kochend vor Unmut stampfte Kurogane den Korridor der psychotherapeutischen Praxis von Dr. med. Fitzgerald A. Delauney entlang, wobei er zielstrebig die Richtung zur Eingangstür anpeilte und sich dabei innerlich in Schimpftiraden erging, die hier unmöglich wiedergegeben werden können. Hier würde er sich garantiert nicht nochmal herverirren! Wie in aller Welt war sein Auftraggeber nur auf die Schnapsidee gekommen, ihn zu einem Psychotherapeuten zu schicken? Dem wuchs das Geld anscheinend auch schon beim Arsch raus! Erst Theaterabende, dann Opern, dann Nutten und jetzt dieser unerträgliche Delauney! Fragte sich nur, was als nächstes kommen würde, ein Wanderzirkus vielleicht? Er hätte diesen breitärschigen Möchtegern-Psychoheini liebend gern einmal so richtig durch die Mangel gedreht. Wie er ihn angestarrt hatte! Als ob er ein Irrer wäre, der jeden Moment seine Kettensäge auspacken und auf ihn losgehen würde! Dabei fehlte ihm doch gar nichts! Da würde er ja noch ein gehöriges Hühnchen mit seinem Boss zu rupfen haben. Der Zorn verlieh Kurogane sowohl unglaubliche Kreativität als auch unglaubliche Geschwindigkeit. Doch leider schien ebenjener Zorn ihn auch blind zu machen, denn so sah er in seinem furiosen Abgang die Gestalt nicht, die gerade auf den Aufruf des Doktors hin vom Wartezimmer auf den Flur gekommen war. WAMM. Der Schwarze hörte nur noch einen Knall, spürte, wie er gegen etwas Zausiges, schlaksig Dürres prallte und von der Wucht des Zusammenstoßes mehrere Schritte zurückstolpern musste. Es war, als hätte man einem Stier das rote Tuch gezeigt. Verdammter Dösbaddel!! Wie blöd sind die Menschen von heute eigentlich?! "Aus dem Weg!! Tomaten auf den Augen, was?!", bellte er deswegen, ohne den Jemand, gegen den er geprallt war, genauer zu fixieren und beförderte ihn mit einem groben Stoß schlicht gegen die gegenüberliegende Garderobe, bevor dieser etwas erwidern konnte, und verließ die Szene, stampfend wie ein zweiter Godzilla. Einige der Wartenden fragten sich innerlich, ob das Haus unter den Schritten dieses Wahnsinnigen nicht bald in sich zusammenbrechen würde. Die wenigstens hatten ihr Testament schon gemacht. Zwei oder drei reckten neugierig die Hälse und blickten dem schwarzen Ungetüm nach, wie es die Allee vor der Praxis hinuntertrompetete, fluchend und trampelnd, als hätte es vor, die Welt unter sich zu Schutt und Asche zu zertreten. Man hatte den Eindruck, dass seine Mundwinkel jeden Moment mit dem Erdboden Bekanntschaft machen würden. Ein paar schüttelten den Kopf. Kaum zu fassen, das. Doch etwas Gutes hatte es: sie wussten immerhin, dass es ihnen weitaus- weitaus!- besser ging als dem. Weitaus besser. "Auuu! Aua!" Verflixt nochmal, wie das wehtat! Stöhnend befreite sich der verwirrte, zerzauste Jemand aus den Mänteln und Jacken, in die er von diesem rasenden schwarzen Ungeheuer geradewegs hineingeschleudert worden war und rieb seinen von dem Aufprall schmerzenden Kopf. Mann! Was war denn das gewesen, ein Sumoringer auf Rollschuhen? "Mr. De Flourite!", hörte er plötzlich die Stimme des Doktors aus dem Sprechzimmer tönen. "Mr. De Flourite? Worauf warten Sie? Kommen Sie nur herein!" "Gleich, gleich!", rief der Jemand zurück und versuchte hastig, ein wenig Ordnung in seine blonde Sturmfrisur zu bringen, was allerdings aufs Kläglichste misslang. Mann! Hatte dieser Kerl denn keine Augen im Kopf? Er hatte das Gefühl gehabt, von einem Zeppelin gerammt zu werden. So jemand musste doch nicht mehr alle Tassen im Schrank haben! Einen erst anrempeln, dann einfach weiterpflügen wie the Incredible Hulk auf Zerstörungstrip, und dabei auch noch schimpfen wie ein Kesselflicker! Vielleicht hatte der Kerl ja einen Kater gehabt? Oder verdorbenes Chili zum Frühstück? Er hatte mal irgendwo gelesen, dass das das Nervenkostüm strapazieren würde. "Mr. De Flourite!" Oh, der Doktor! Den hatte er fast vergessen. Eilig klopfte der Blondling nochmal sein helles Hemd sauber und stolperte schnellstmöglich ins Sprechzimmer. "Tagchen auch!", sagte er fröhlich und ließ sich in den gepolsterten Patientenstuhl fallen. "Entschuldigen Sie die Verspätung, Doktor. Ich hatte nur einen kleinen... ahem-- Unfall auf dem Flur." "Schon in Ordnung." Mit geübten Fingern blätterte der wohlbeleibte Doktor durch die Akte, die er sich, nachdem er sich von den Schrecken seines vorigen Patienten erholt hatte, aus dem Schrank hinter seinem Schreibtisch gefischt hatte. Fye De Flourite. Ein schon etwas klarerer Fall als der Vorhergehende. Komisch, ständig glaubte er, diesen Namen schon einmal irgendwo gehört zu haben- doch wo? Lieber dachte er gar nicht darüber nach und widmete sich lieber seinem Patienten, der ihn anstrahlte wie hundertprozentiges Uran. "Tja, Mr. De Flourite, dann lassen Sie mal hören. Wie geht es Ihnen heute?" Der schlanke Blondling auf dem weinroten Sessel lächelte herzlich. "Sie werden es nicht glauben, Doktor: aber der Nachrichtensprecher von gestern hat doch tatsächlich Schnee vorausgesagt! Und ob sie's fassen können oder nicht, gestern Nacht fiel kein Schnee! Es hat Katzen und Hunde geregnet, ich hab's selbst gesehen!" "Oh,ähh-- ja. Ich sehe also, dass Sie tatsächlich an ihrem Insomnia-Problem arbeiten--" "Genau! Das ist das Stichwort: arbeiten! Wir haben neu tapeziert, meine Mitbewohner und ich. Wir haben ewig lange gestritten, wissen Sie? Wir sind ja normalerweise totaaaal gechillte Brothers, aber anscheinend kamen wir nicht drum herum. Vom Nachbarhaus ist nämlich ein voller Spaghetti-Teller durchs Fenster zu uns rübergeflogen und hat die ganze Wand versaut. Soll es eine Tapete mit rosa Bärchen oder mit blauen Elefäntchen sein? Oder grüne Giräffchen? Es hat mich ernstlich beschäftigt. Was hätten Sie gesagt, Doktor? Bärchen, Elefäntchen oder Giräffchen?" "Ähh, ahemm-- also, eigentlich habe ich mich ja nach Ihrem Zustand erkundigt-" "Sie haben Recht, das ist doch kein Zustand. Ich war eindeutig für Elefäntchen, aber nein, die wollten unbedingt Bärchen!" Delauney spürte, wie sich sein Magengeschwür zu melden begann. "Ahm... ja also-- darf ich mich dann erkundigen, was die Gruppengespräche mit Ihren Mitbewohnern so machen? Über was unterhalten Sie sich? Nur zu, erzählen Sie es mir." Der schlanke junge Mann stieß- ein Sinnbild des Eifers- den rechten Zeigefinger in die Luft. "Morgens reden wir über Kissen, mittags reden wir über gefüllte Enten, abends reden wir über den Mondkalender und nachts reden wir über Sex. Sonst noch was? Ach ja, seit kurzem sieht die Planung anders aus. Wir reden in letzter Zeit nur noch über Tapeten! Die Situation scheint sich gehörig festzufahren, finden sie nicht auch? Nachts träume ich sogar von Tapeten. In so einem Tapetenhaus wäre Übernachten doch mal schön, was? Und außerdem--" Der Psychotherapeut gebot dem unbremsbaren Erzähltempo seines geschwätzigen Patienten mit einer nervenschwachen Handbewegung nur mühsam Einhalt. "Mr. De Flourite. Hören Sie mir zu. Jedesmal, wenn Sie bei mir erscheinen, möchte ich mit Ihnen über Ihre Probleme sprechen, weil es mein Beruf und mein Wunsch ist, Ihnen zu helfen. Aber ich stelle auch fest, dass Sie jedesmal, wenn Sie bei mir erscheinen, nahezu kontinuierlich vom Thema ablenken, kaum dass Sie mir gegenüber sitzen. Ich frage Sie: hat das einen Grund?" Das Grinsen des Blondlings war so breit, dass mühelos eine Wassermelonenscheibe in seinen Mund gepasst hätte. "Aber nein, Dr.Delauney. Ich erzähle Ihnen lediglich, was mich beschäftigt!" "Aha. Und Sie beschäftigt also Bärchen-Tapete." "Nein, eben nicht Bärchen! Elefäntchen!" Mit einem Stöhnen vergrub der Doktor seinen Kopf in den Händen, sodass sein Toupet leicht verrutschte. "Dann führen Sie doch wenigstens ein wenig die Gesprächsthemen mit Ihren Mitbewohnern aus. Sie reden also nachts über Sex?" Das Grinsen seines Patienten wurde noch ein wenig breiter. "Aber ja, wir sind schließlich aufgeklärte Menschen. Ich meine, wer redet nicht gern über Sex?" "Die wenigsten", antwortete der Doktor vergrätzt seufzend. Sofort musste er für diese Antwort büßen. Der Blondling schüttelte sich kokett und zwinkerte dem Doktor verschwörerisch zu. "Was lassen mich Ihre Worte hier ahnen, Doktor? Hat da etwa jemand ein kleines schmutziges Geheimnis? Ich dachte, Sie wären verheiratet?" "Wawawawawawas?!!", keuchte Delauney mit dem Gefühl, jeden Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sein Patient kicherte. "Kommen Sie schon, Doc, mir können Sie doch alles erzählen! Lassen Sie's raus, Sie kleines Luder!" Doktor Delauneys Gesicht nahm allmählich die Farbe von schlecht mit Joghurt gemischtem Johannisbeereis an. Sein Magengeschwür bohrte ihm gedanklich Löcher in den Bauch. Ihm wurde nahezu schwarz vor Augen. Kaum zu fassen. Rollentausch. Woher kommt mir sein Gesicht nur so bekannt vor? "Sagen Sie, kenne ich Sie von irgendwo her?", fragte er mit schwacher Stimme. Sein Patient sah spielerisch nachdenklich zur Decke. "Sie dürften mich kaum kennen. Ich meine, Sie logieren doch erst seit einem Jahr hier in Kingstonville, nicht?" "Hätte ich Sie etwa besser gekannt, wenn ich vorher hierher gekommen wäre?" Der Blondling lächelte. "Wer weiß, Doc. Ich bin eben sehr beliebt." "Ah, gut. Dann ist ja alles in Ordnung", krächzte Delauney. Mit einem Seufzen nahm er die Akte seines Schützlings erneut zur Hand, um das zu tun, was er immer tat, wenn er nicht weiterwusste: er blätterte nervös darin herum. Oh Mann. Dann würde ihm wohl wieder nichts anders übrig bleiben, als sich auf die alte Weisheit "Kommt Zeit, kommt Rat" zu beschränken. Nur ruhig bleiben, Fitzgerald, ruhig bleiben. Besser kommst du wieder auf den Teppich. Wird schon noch werden, wird alles schon noch werden... Es würde ein langer, langer Tag für ihn werden. Und das wussten sowohl er als auch sein Patient. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)