Jura Tripper 1 1/2 over von abgemeldet (~I'll find my day, maybe far and away... far and away~) ================================================================================ Kapitel 10: XXVIII. Unter Freunden * XXIX. Du hättest tot sein können * XXX. Theater ------------------------------------------------------------------------------------ XXVIII. UNTER FREUNDEN * XXIX. DU HÄTTEST TOT SEIN KÖNNEN * XXX. THEATER XXVIII. Unter Freunden Gerade als sie begannen, zu überlegen, ob sie nicht zurückgehen sollten, waren in den Büschen schnelle Schritte zu vernehmen und kurz darauf tauchten Young Lady und Crybaby auf. Obwohl sie nicht gerannt waren, wirkten sie doch beunruhigt, und als Crybaby den Mund aufmachte, wurde Sive klar, woran das lag. "Es sieht so aus, als wäre die Armee wieder in der Nähe. Boss und Tiger haben am Waldrand ein paar Berittene gesehen." Und Young Lady ergänzte: "Er sagt zwar, dass sie uns anscheinend noch nicht aufgespürt haben, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Wir müssen wieder weg." "A-ach so. Kommt ihr deshalb?" fragte Nerd. Für Sive war es einmal mehr unbegreiflich, wie sich die Stimme eines Menschen innerhalb weniger Sekunden so verändern konnte. "Ja..." erwiderte Young Lady zögernd, erst jetzt schien sie Sives verheultes Gesicht zu bemerken: "Sive, was ist denn?" Besorgt kam sie heran und beugte sich über das jüngere Mädchen. "Du musst doch nicht weinen! Nerd hat dir doch bestimmt verziehen, oder?" Freundlich lächelte Young Lady die beiden an und Sive sah mit neuen Augen, dass Nerd rot wurde. "Ja, schon," murmelte sie vage, gab sich dann einen Schubs und hängte Young Lady zuliebe ein etwas aufschlußreicheres: "Ja, doch," und ein Lächeln an. Irgendwie war es schwer, garstig zu sein, wenn so nett mit einem geredet wurde. Young Lady war ein liebes Mädchen, älter als sie, aber trotzdem noch ein Kind, wie sie und Nerd und Crybaby. Ja, ganz genau wie sie, Liam, Neesan und Sheerla. Seltsam, dass ihr das erst jetzt auffiel. Vielleicht war es ihr langsam doch langweilig geworden, sie alle blöd zu finden? "Seid ihr so weit oder sollen wir noch einen Moment warten?" erkundigte sich nun auch Crybaby, Boss' rücksichtsvoller Bruder, und dabei fiel Sive ein, dass er ebenfalls mit Liam verwandt war. Sie wechselte einen Blick mit Nerd. Wie schon sein veränderter Tonfall hieß er ?Ja, wir können gehen.' Also erhoben sie sich aus dem Gras und gingen zügig zum Fahrzeug zurück, denn obwohl noch keine direkte Gefahr bestand, war es doch ganz gut, nicht zu trödeln. In Gedanken jedoch war Sive die Armee herzlich egal, sie war mit ganz anderen Dingen beschäftigt. "Schön, dass ihr euch wieder vertragen habt," hatte Young Lady gesagt, aber über den Grund des ?Streits', wenn man es denn so nennen konnte, hatten weder sie noch Crybaby Worte verloren. Aber das, was Sive zuvor so taktlos und unachtsam herausgerufen hatte, hatten alle gehört. Und da sie sich wahrscheinlich - oder hoffentlich! - keinen Reim darauf machen konnten, würden sie es wissen wollen, oder? Bald, demnächst. Aber bis jetzt nicht, bis jetzt waren da nur zwei freundliche, zurückhaltende, taktvolle Kinder - nein, drei. Sich selbst allerdings konnte Sive nicht dazurechnen. Nach dem Eintrudeln von Sive, Nerd, Young Lady und Crybaby war alles weitere nur noch Routine gewesen, etwas, was sich in den letzten Tagen einfach zu oft abgespielt hatte: rein ins Auto, Gas gegeben und losgefahren. Armee, Dinos, Zans - das plärrende Vieh, das sich dadurch in seiner Wichtigkeit wieder einmal so gesteigert fühlte, dass es nicht die Klappe halten konnte - und trotzdem ging das alles so an einem vorbei, als wäre man tatsächlich nicht mehr als ein Besucher aus einer anderen Welt. Aber das stimmte auch nicht, sie erlebten hier ihre eigene Geschichte, und die war weniger mit Noah verbunden als mit dem Aufeinandertreffen von zwei Zeiten. Sheerla seufzte und sah nach Neesan, der ihr bei all dem Trubel ein bisschen abhanden gekommen war. Er war am anderen Ende der Bank und ließ sich von einem stolzen Timid oder Blunder - Sheerla hatte sich schon immer dafür geschämt, Zwillinge nicht auseinander halten zu können, obwohl sie selbst einer war - irgendwelches Kruppzeug präsentieren, Muscheln oder so, die er vom Flußufer gesammelt hatte. Neesan sah dabei alles andere als fasziniert aus, aber er blieb geduldig, so war er eben. Auch wenn sie nicht mehr diese Aufpass-Manie für ihren Bruder hatte, war sie doch noch ganz froh zu wissen, wo er gerade steckte. So was ließ sich nicht so einfach ablegen. Tiger schien das zu ahnen, sie lächelte ihrer Tochter wissend zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss, um Boss vorn am Steuer zu helfen. "Na, haben sie dich mal wieder nicht fahren lassen?" stichelte Sheerla gutmütig in Betrachtung des mürrischen Gesichts neben ihr. Zu Eltern von Freunden konnte man so was sagen, zu gemeingefährlichen Spinnern nicht. Auch jetzt antwortete der Nicht-mehr-gemeingefährliche-Spinner bloß mit einer Grimasse, die Sheerla stark an Sives Was-soll-denn-das-Gesicht erinnerte. Apropos, wo war die eigentlich? Sheerla schaute nach links und rechts, aber da saßen nur Liam und God. Normalerweise war Sive dann auch nicht weit, aber dieses Mal entdeckte Sheerla sie erst nach längerem Suchen in einem Winkel am Fenster, in der Nähe des spielenden Nerd. Sie wollte aufstehen und zu ihr hingehen. "Lass sie. Sie wird kommen, wenn sie etwas will." Liams Blick war schwer einzuordnen und auch seine Formulierung hörte sich mehr als ungewohnt an. Sheerla kniff die Augen zusammen. "Das glaube ich nicht." Sie erhob sich und durchquerte das Fahrzeug, während Liam sich auf ihre Worte hin nun doch gezwungen sah, zu folgen. Als sie gerade in der Mitte waren, ging auf einmal ein solcher Ruck durch das Tricelosa, dass sie sich aneinander festhalten mussten, um nicht zu fallen. Bremsenquietschen tönte ohrenbetäubend, ein klatschender Laut vom Fenster verkündete, dass Sive, die einzige, die ebenfalls nicht gesessen hatte, gegen die Scheibe gefallen war. Dann standen sie still. Sheerla warf die Haare in den Nacken. Das letzte Mal, dass Fahren so selbstmörderisch gewesen war, war God am Steuer gesessen, aber jetzt sprang eben dieser von seinem untätigen Platz auf und brüllte genervt: "Verdammt nochmal, was hat dieser Idiot da vorne jetzt schon wieder?" "Die haben uns eingekreist!" tönte es dumpf zurück, "Und überhaupt - mach's erst mal besser!" Ja, selbst eingekreist und durch eine Tür konnten diese zwei Trottel durchaus noch streiten. "Ja was, dann fahr doch, dass du die Reihe durchbrichst!" wetterte God. Jetzt musste er doch nach vorne und da rumzetern, aber auf dem Weg kam er an Sive vorbei und sah, wie sie sich eine violette Stelle an der Stirn rieb. Sie war wirklich voll gegen die Scheibe gekracht. "Du Idiot! Das ist ja gemeingefährlich, was du da zusammenfährst!" erklang es daraufhin hinter der Tür. "Als würde so einer wie du viel Wert auf Gemeinschaft legen! Schnallt euch eben an!" rechtfertigte sich Boss und hätte wohl fast die Soldaten vergessen, wenn President ihn nicht daran erinnert hätte. Dann hörte Sheerla die Stimme, auf die sie gewartet hatte, der vernünftige, manchmal etwas zu direkte Tonfall ihrer Mutter: "Ja, sie haben uns von drei Seiten eingekreist. Aber das hier ist ein Amphibienfahrzeug. Und wir sind an einem Fluß." "Hä?" war Boss' einzige Reaktion. "Verdammt nochmal! Fahr ins Wasser!" brüllte God, und Boss war so verblüfft ob dieses genialen Einfalls, dass er genau das tat, was die anderen gesagt hatten: er fuhr. Princess seufzte und Sheerla konnte beim besten Willen nicht ausmachen, ob aus Erleichterung wegen dieses Auswegs, oder aus Sorge: Würden die beiden Streithähne es jetzt auch noch schaffen, sie alle zu ertränken? Hoch spritzten die Wellen, aber den letzten Pfeil konnten sie nicht abwehren. Er traf auf der Seitenscheibe auf, Gatcha fuhr erschrocken zurück, der Pfeil prallte ab - Panzerglas forever. Hatten die so was damals überhaupt schon? Mittlerweile hatten Liam und sie es geschafft, sich zu Sive durchzukämpfen. Sheerla musste brüllen, um das Motorengeräusch zu übertönen. Hier im Wasser war es tatsächlich ungeheuer laut, außerdem hörten sie die ganze Zeit vom Ufer die Rufe der Soldaten, die nun offenbar auch mitgekriegt hatten, was abging. "Sive? Schramme?" "Blauer Fleck!" giekste Sive zurück, nicht halb so laut wie Sheerla. "Regenbogenfarbener Fleck!" berichtigte sie, wenn es etwas gab, womit sie sich auskannte, dann waren das blaue Flecken. "Was war mit Nerd?" fragte sie dann das, was ihr auf der Zunge lag, aber wie Liam vielleicht erwartet und Sheerla nicht geglaubt hatte: Sive wurde verschlossen wie eine Auster. "Nix. Liam weiß es doch." "Was weißt du, Liam?" rief Sheerla gegen den Lärm. Dieser zog sie am Arm und sprach erst wieder, als sie bei Neesan und aus Nerds Nähe weg waren. "Ich weiß nicht - ich..." Das Tricelosa schwankte wieder, im Wasser noch mehr als auf dem unebenen Boden. "Was?" forderte Sheerla energisch zu wissen. Jetzt sagte Sive: "Ich möchte nichts sagen. Es ist nicht so, dass ich euch nicht vertraue -" Aber das reichte schon. "Was?! Du dummes Kind! Hör bloß auf! Glaubst du wirklich, die Dinge werden besser, wenn du sie für dich behältst? Das macht dich kaputt! Hör auf! Gewöhn' dir das bloß nicht an! Hörst du? Du..." Sheerla verlor den Faden, schnaubte. "Sive, Sheerla hat recht. Du musst reden, wir beide verstehen es sonst nicht." Einmal, zweimal musste Neesan die wenigen Worte wiederholen. Neben dem Dröhnen der Motoren war ein weiteres Wasserrauschen dazu gekommen, das sie noch nicht recht einordnen konnten. Dafür schienen die Stimmen der Soldaten plötzlich wie verschluckt, ferner, leiser. "Ich... ich..." stammelte Sive unglücklich. Jetzt schimmerten Tränen in ihren Augen. "Lasst mich doch!" "Sive," sagte Liam, "Sive..." Seine Augen waren weit aufgerissen, Sheerla schrieb es zuerst seinem Mitgefühl zu, erkannte dann aber, dass da mehr war. "Er weiß es, nicht wahr! Liam weiß es und wir wissen es nicht!" Unerwartet heftig wandte sich Liam an sie: "Hör auf! Sie kann nichts dafür!" Noch nie hatte Sheerla ihn so erschüttert erlebt. Hatte er schon zuvor gesehen, oder war ihm eben erst klar geworden, was diesen Schrecken ausmachte? Sheerla tippte auf Letzteres. "Nein, es ist nicht so..." verteidigte Sive hilflos und ungehört gegen den brausenden Wasserlärm. Was war das nur? Warum zitterte das Tricelosa wie ein gespannter Draht? Schließlich hatte sie ihre Stimme wieder gefunden: "Nein! Liam weiß es, weil... er ist... mein Cousin..." "Sive, du..." redete Sheerla dagegen. "Er kennt - ich.... hört zu, ich will nichts mehr darüber sagen, niemandem! Es darf nicht sein...." "Sive! Du..." "Ich will nichts sagen!" "Du... du...." Dieser Lärm war nicht mehr normal. Ruckartig drehte Sheerla sich ab und rief in den Raum: "He, ihr! Was ist das?" Die Antwort kam prompt: "Ein Wasserfall! Und wir fahren direkt darauf zu!" "WAAAAAAAAS?!" "Sive... hör mir zu.... du musst nicht.... ich glaube dir auch so, dass wir Freunde sind..... Du musst nichts..." schrie Sheerla. Oh Gott, dachte Neesan stumm, das war wirklich wie ein Sprung vom Zehn-Meter-Brett. Sives Schramme war nichts dagegen. Sie klammerten sich an alles, was noch niet- und nagelfest war, und das war nicht mehr viel. "Hoffentlich kommt kein Wasser in meinen Game Boy," hörten sie irgendwo Nerd zu Snake sagen. Dann fielen sie. XXIX. Du hättest tot sein können Er hatte seine Ängste etwas zu niedrig gesetzt. Es war kein Sprung von einem Zehn-Meter-Brett, sondern mindestens fünfundzwanzig Meter. Warum sie noch lebten, falls sie es denn taten, war ihm zwar unklar, aber offensichtlich musste es der Fall sein, denn als Toter konnte man sich schwerlich so nass fühlen. Und ein Toter konnte auch nicht diesen Seufzer ausstoßen, den Neesan nun von sich gab. Noah war wirklich Phobienparadies Nr. 1. Wenn er zurückkehrte, würden zu Neesans langer Ängsteliste, auf der an vorderster Stelle Springen, Fliegen und Schwimmen gestanden hatten, noch Auto fahren, Auto-im-Wasser-fahren, Im-Auto-der-Armee-davon-fahren und als oberstes: Mit-dem-Auto-den-Wasserfall-hinunterfallen hinzugekommen sein. Das zweite Wunder - nach der überraschenden Tatsache, dass sie noch lebten, und zwar ziemlich komplett - war wohl, dass auch ihr Auto noch ganz war. Nur durch die Ritzen war Wasser hinein gekommen, alles schwamm. Und wenn ich ?alles' schreibe, dann meine ich alles. Decken, Taschen, Hausrat und Nahrungsmittel dümpelten im Innenraum herum. Plötzlich fiel Neesan auf, dass Sive, genauso verblüfft wie er, seit gut fünf Minuten fasziniert ein kohlkopfartiges Etwas vor ihrer Nase anstarrte. Das Ding allerdings schien sich nicht darum zu kümmern, es wippte fröhlich hin und her. Dann war auf einmal ein Sog zu spüren und all das Wasser samt Ding verschwand rauschend wie es gekommen war. Irgendeine geistesgegenwärtige Person hatte die Türe aufgemacht. Etwa eine Stunde später war der Alltag wieder eingekehrt. Zwar war nichts mehr trocken genug als das man es zum Aufwischen hätte gebrauchen können, aber Sonne und Wind taten ihr bestes. Der Wasserfall war in ein Gewässer gemündet, das wegen seiner Größe und Breite - ein Ufer war nicht in Sicht - wohl ein See sein musste. Während Boss, Tiger und Manua rätselten, wo sie wohl sein mochten, hatten President und Tank auf der Außenbrüstung des Tricelosas eine Wäscheleine aufgespannt, an der nun Young Lady, Doc und Princess all die Dinge, die nass geworden waren, vor allem aber die dringend benötigte Kleidung, aufhängten. Die meisten liefen deshalb mal wieder ohne Hemd herum. God schien sich nicht angesprochen zu fühlen zu helfen. Er und Snake standen in einer Ecke herum, ohne am Geschehen ringsum teilzunehmen. Der Streit mit Boss, bevor sie den Wasserfall hinuntergestürzt waren, musste doch heftiger gewesen sein als Neesan angenommen hatte. Er selbst hatte sich mit Liam über die Brüstung gelehnt und freute sich ebenfalls an der Sonne, nachdem sie zuvor gemeinsam mit den anderen Kindern all ihr im Fahrzeug verstreutes Hab und Gut wieder zusammen gesammelt und etwas aufgeräumt hatten. Sheerla hatte noch immer nicht genug davon, es machte ihr einfach Spaß, einmal so richtig ihr ?Organisationstalent' zur Schau stellen zu können. Und Sive schien sie zu meiden. Neesan machte das betroffen, aber er bemühte sich, es zu respektieren. Was immer es war, es schien Sive selbst heftig an die Nieren zu gehen. "Snake!" Neesan wandte sich um. Hinter ihnen kam Nerd aus dem Innenraum. In der Hand trug er seinen Game Boy vor sich her wie eine Erntedankgabe. "Snake! Er geht nicht! Es muss Wasser hinein gekommen sein!" "Zeig mal," erwiderte Snake. Nerd gab ihm den Game Boy und sah dabei dermaßen bedrückt aus, dass Neesan sich unwillkürlich fragte, ob sonst wirklich nichts passiert war. "Bitte! Kannst du ihn reparieren?" "Ich weiß nicht. Es muss irgend etwas mit den Drähten zu tun haben. Wir machen das gerade in Physik." sagte Snake etwas hilflos und drehte das Ding in den Händen. Neesan sah schweigend zu und bemerkte, dass God und Liam das selbe taten. "Bitte, Snake!" rief Nerd nun verstört, "Er muss doch wieder zu reparieren sein! Liegt es an der Batterie? Ich hab noch welche mit!" "Nein..." meinte Snake. Er schien sich unwohl in seiner Haut zu fühlen, kein Wunder. "Er ist einfach nass. Wir müssen ihn irgendwie trocken kriegen, erst dann kann ich die Batterie auswechseln und mir die Drähte ansehen." "Ach, das war es," sagte Nerd, "Ich hab ihn nämlich aufgemacht und irgendeinen Schlag gekriegt." Die anderen starrten ihn an. "Du hast WAS?" "Ich hab ihn aufgemacht, und da habe ich einen Stromschlag bekommen, oder so was." wiederholte Nerd geduldig. Jetzt sagte God doch etwas. "Du hättest tot sein können." äußerte er fassungslos. Nerd sah nicht beeindruckt aus. "Ja, ja. Aber wie kann ich ihn wieder trocken kriegen?" "Ein Fön..." murmelte Neesan ratlos. Liam nahm es auf und rief in die Runde: "Hat jemand einen Fön dabei?" "Ja, ich," antwortete besagter Jemand. Es war President. Tiger streckte den Kopf um die Ecke, um ihre Mundwinkel zuckte es verräterisch. "Wozu brauchst DU einen Fön?" Auch Neesan musste lächeln, oh ja, er kannte die Eitelkeit seines Vaters. "Was - ich... nur so!" rief President errötend und gab ihn Nerd, "Hier..." Nerd vergaß ganz, sich zu bedanken. Eiligst zog er Snake hinein, um eine Steckdose zu suchen. Unbewegt sah God den beiden nach. Dann streckte er den Kopf in die Höhe, als ginge ihn das alles gar nichts an und ließ sich über die Reling sinken. Mittlerweile glaubten Boss, Tiger und Manua herausgefunden zu haben, wo sie sich befanden. Eine Ahnung zumindest hatten sie schon, erzählte Boss, während Manua unverhohlen ängstlich aussah: Es war ein See, ja, aber nicht irgendein See, sondern laut der Frau aus Lupar ein heiliger See. "Heilig?" fragte Doc. "Niemand außer den Priestern darf hierher. Die Götter werden uns dafür die Beine lähmen." So lautete die Sage, aber was an der Geschichte tatsächlich dran war, konnten sie nicht ausmachen. Manua glaubte felsenfest daran, während Tiger und einige der anderen (God sowieso) eher skeptisch aussahen. Liam tat sie leid, es musste ein grässliches Gefühl sein, in seiner Angst nicht ernst genommen zu werden. "Es gibt einen Tempel hier auf dem Wasser... der Schrein der Götter." erzählte Manua mit schwacher Stimme. "Aber man darf ihn auf keinen Fall betreten! Entschuldigt mich..." Abrupt drehte sie ihnen den Rücken zu und ging davon. "Ich frage mich, was wirklich an der Sache dran ist.", murmelte Doc. "Oft haben solche Sagen einen wahren Kern, wenn auch aus ganz anderen Gründen als erzählt wird." "Ach kommt," winkte Boss ab, entschieden ungläubiger. "Manua hat Angst, ja, aber auf solche Prophezeiungen braucht man doch nichts geben. Ich jedenfalls würde diesen Schrein gern mal sehen. Wer weiß, vielleicht finden wir ja etwas, was uns weiterhilft. Zum Beispiel, wie wir wieder nach Hause kommen." "Nach Hause..." echote Liam. Er sah in die Ferne. XXX. Theater Nachdem sie ein paar Minuten gefahren waren, begannen auf einmal die Wellen in Kreisen gegen ihre Bordwand zu schlagen. Sie wurden breiter und heftiger, bis deutliche Erschütterungen durch das Fahrzeug gingen. Doc meinte, es wäre genauso, wie wenn sich Delphine einem Boot näherten, nur dass die Wellen, die Delphine verursachten, nicht annähernd so stark waren. Bevor aber jemand anfangen konnte, sich vor urzeitlichen Killerdelphinen zu ängstigen, wurden die langhalsigen Auslöser des Bebens am Horizont sichtbar. Es waren Brachiosaurier, die diesen See bewohnten. Eine ganze Herde von ihnen näherte sich gemächlich dem in ein Boot verwandelten Amphibienfahrzeug. Ein großer, der der Anführer zu sein schien, streckte neugierig seinen Kopf über den Rand und zwinkerte (konnten Dinos zwinkern?!) den menschlichen Anführern Boss und President wie zum Gruß zu. "Na, wer seid ihr denn? Bewacht ihr diesen See?" scherzte Boss und kraulte dem gut zehnmal so großen Tier den Kopf. President, bleich, schien nicht ganz so tierfreundlich zu sein und hielt sich lieber vornehm im Hintergrund. Den anderen nahm Boss die Angst. Bald scharten sich weitere Dinosaurier rings um das schwimmende Tricelosa, von Gatcha und Timid und Blunder und Neesan gestreichelt und von Zans in einer seltsamen, schreienden Sprache ausgefragt. Wie ihr Vater war auch Sheerla bleich geworden, als sie die Brachiosaurier gesehen hatte. Der Tag, an dem sie beinahe von einem zertrampelt worden wäre, lag noch nicht lange genug zurück, als dass sie vergessen hätte, welches Unheil die Riesen allein durch ihre Größe anrichten konnten. Und sie selbst... war so klein. Sheerla bibberte und machte sich noch kleiner. "Papa," stammelte sie tonlos, sie hatte wirklich Angst! "Ist schon gut, Sheerla," beruhigte President sie und legte ihr den Arm um die Schultern. Sheerla atmete auf, jetzt fühlte sie sich sicherer. "Willst du nicht gucken?" God verzog geringschätzig das Gesicht. "Kinderkram," winkte er ab. "Du hast bloß Angst vor ihnen," stellte Sive richtig, während sie ihm folgte. War sie zu weit gegangen? God drehte sich um und blickte sie an, und wenn Blicke töten könnten...! "Ich mag sie auch nicht." gab Sive klein bei, "Genaugenommen... hab ich auch Angst vor ihnen." Mit zögernden Schritten kam das Mädchen heran und dann standen sie da nebeneinander, über das Geländer gelehnt, und sahen auf den See. "Weißt du, wo Nerd und Snake sind?" "Nein." "Interessiert es dich überhaupt?" "Nein." Sive fühlte sich zu einer bissigen Bemerkung hingerissen, doch sie unterdrückte sie. "Mich interessiert es schon," gab sie angriffslustig zurück. "Dann geh' doch zu ihnen." "Nerv' ich dich etwa?" Wenn er jetzt ?ja' sagte, würde es wahrscheinlich sogar stimmen. Sive fühlte sich vollkommen durcheinander. Sie war doch gar nicht gekommen, um Streit anzufangen! Nichtsdestotrotz waren sie gerade voll dabei. Musste das Leben denn so kompliziert sein? "Nein," sagte God. Sive war erleichtert. Er log zwar, aber immerhin bemühte er sich. "Ich..." begann sie tapfer und brach ab. Was genau wollte sie eigentlich? Beweise sammeln für etwas, das sie längst wusste? Für etwas, das sie ohnehin nicht ändern konnte? Sie wollte es nicht einsehen, das war der Grund. Sie war noch nie gut darin gewesen, Dinge einzusehen. "Versteht ihr euch gut, du und N... Cross?" Wie sie ihn nun nennen sollte, hatte sie noch immer nicht herausgefunden. Sive mochte keinen der beiden Namen, also würde sie God die Wahl überlassen. "Wie meinst du das?" entgegnete er gleichgültig, während er ins Wasser sah, wo unruhige Wellen ihrer beider Spiegelbilder durchbrachen, ein schillerndes Gewirr aus Fragezeichen bildeten. Die Frage war heikel, Sive hatte es geahnt. Und trotzdem enttäuschte sein Verhalten sie. Konnte er nicht einmal ihr gegenüber offen sein? Sie war nahe dran, das auch noch zu fragen, als God unvermittelt meinte: "Wir akzeptieren einander." Er schien es aufgegeben zu haben, Sive war froh darüber. "Hast du... ihn lieb?" fragte sie leise. Und kaum dass sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, God würde darauf nicht antworten. Es gibt Dinge, die fragt man, und es gibt andere, die fragt man, wenn man vertraut ist, aber es gibt auch Dinge, die man nie fragen sollte, selbst wenn man ein Kind war wie Sive. Es könnte sein, dass man die Antwort nicht wissen will. Sive hatte schon einmal so eine Frage gestellt in ihrem Wunsch zu verstehen, und schon einmal hatte sie eine richtige Antwort bekommen, die doch gleichzeitig so falsch war. God ließ das Geländer los und trat einen Schritt zurück. Langsam wandte er den Kopf und sah seine Tochter an. Zusammengekniffene Augen weiteten sich ein wenig, als ihm aufzufallen schien, wie ähnlich sie einander sahen. Sive hatte schon Angst, dass auch God jetzt anfangen würde, verfreaktes Zeug zu reden so wie Nerd, wenn er gut drauf war, aber das einzige, was er tat, war, ebenfalls eine Frage zu stellen: "Was ist unmöglich, Sive?" Sive wich zurück und hob ihren Kopf. "Du weißt es doch," rief sie anklagend. Und als sie sein Gesicht sah, wurde ihr klar, dass er es tatsächlich wusste oder zumindest ahnte, so wie sie es alle hätten wissen können, wenn sie nur einmal die Augen aufgemacht hätten. Und sie fragte sich, wenn er es doch wusste, warum er dann fragte. God wurde ausweichend. "Darum geht es nicht. Wenn du es weißt, musst du es sagen. Du weißt, warum." 'Du weißt, warum'? Wusste sie es? Sie wusste, dass sie Angst hatte. Sie wusste, dass sie verwirrt war. Sie wusste, dass sie unglücklich war. Verwirrung, Angst und Unglücklich-sein schienen sie zu erdrücken. Die Wahrheit schien sie zu erdrücken. Sie, die sonst so freimütig jede dumme Wahrheit und jede gutmütige Lüge aussprach, durfte nicht sprechen, weil nicht abzusehen war, was sie damit kaputtmachen würde. "Sive, es wird dich kaputtmachen und ihm nicht helfen. Du musst die Wahrheit sagen." Wie sonderbar, dass diese Worte Gods denen von Sheerla fast aufs Haar glichen. Und war das tatsächlich Sorge, was sie da herauszuhören glaubte, oder pures Wunschdenken? "Die Wahrheit! Wie kannst du das wollen? Du kannst doch selbst niemals die Wahrheit sagen!" erwiderte sie hitzig und bereute es im nächsten Augenblick, als ihr klar wurde, wie verletzend ihre Worte waren - weil sie wahr waren. God sah zu Boden. "Das heißt ja noch lange nicht, dass du das auch tun musst, oder?" "Aber... es ist grausam..." flüsterte sie hilflos und entsetzt, "Wie kannst du nur..." "Hast du vielleicht eine bessere Idee? Es ist besser als nichts!" rief er heftig, ohne dass Sive sich seine Heftigkeit erklären konnte. Sie verstand nicht, was meinte er mit ?nichts'? "Sive. Sprich es aus. Sag es Cross." beharrte er. "Aber... ich... ich kann nicht! Ich kann wirklich nicht! Oh bitte... hör auf, lass mich doch!" wehrte Sive verzweifelt ab, schon fast in die Enge getrieben. "Ich kann nicht! Ich darf nicht!" wiederholte sie immer wieder, wie eine Beschwörung. War es wirklich God, dem sie die Worte in den Kopf hämmern wollte, als eisernen Vorsatz, der langsam rostete? "Es wird ihn unglücklich machen. Ich will nicht, dass er unglücklich ist!" beteuerte Sive, schluchzte auf. "Es ändert nichts, ob du es sagst oder nicht." behauptete God, "Es ist doch ohnehin schon geschehen, oder?" Widerstrebend nickte Sive, schüttelte den Kopf, nickte wieder, hin und her gerissen, her und hin... Manche Dinge wurden erst real, wenn man sie aussprach. Aber dieses hier durfte nicht real werden. Es war zu schmerzhaft. Sie durfte es nicht aussprechen. Aber vielleicht stimmte Gods Behauptung ja tatsächlich. Vielleicht war es wirklich nicht mehr zu ändern. Und wenn es nicht mehr zu ändern war, dann machte es vielleicht auch gar keinen Unterschied, ob sie es aussprach oder nicht. "Sive," sagte God. Sein Gesicht war eine seltsame Mischung aus den misslungenen Überresten eines gewinnenden Lächelns und etwas anderem, das sie nicht recht erkennen konnte. Er ging auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern; Sive wich nicht mehr zurück. "Sive. Bitte sag es. Ich verspreche dir, dann wird alles gut." Sie hätte ihrem Vater jetzt gern so blindlings vertraut wie Neesan, Sheerla und sogar Liam es taten, wie sie selbst es in einer gar nicht so fernen Zukunft getan hatte. Aber sie war nicht sicher, ob sie es konnte. Sie wusste stets, wann er log und wann nicht, denn sie war genauso. In diesem Moment hätte sie auf dieses Wissen allerdings gern verzichtet. Plötzlich legte sie den Kopf in den Nacken und sah in Gods Gesicht, mit diesem Blick, der eine ganze Reihe Leute schon entsetzlich genervt hatte. "Guck nicht so dumm," wies Sive ihn konzentriert an, "Jetzt grins doch nicht so, du kannst das eh nicht!" und starrte weiter. Ein Anflug von Befremden auf ihre Worte - "Jetzt guck doch nicht so mondkalbmäßig, das stört!" - dann hatte Sive ihre Analyse beendet. Er log nicht. Er mochte Schwachsinn reden, aber er glaubte was er sagte. Also würde auch sie ihm glauben. Sive wollte es sagen, sie wollte es aussprechen. Sie wollte ihrem Vater vertrauen und das Risiko eingehen, damit vielleicht den größten Vertrauensbruch gegenüber Nerd zu begehen. Es brachte nichts mehr, Fragen zu stellen. Es war Zeit, eine Antwort zu geben. "Was ist unmöglich, Sive?" wiederholte God. Sein Ton war weder drohend noch erzürnt, nur entschlossen. "Vieles," sagte Sive, während sie sich abwandte und sich mit gesenktem Kopf in Richtung Dinohälse bewegte. Sie wusste, damit hatte sie ihr Einverständnis gegeben. Die anderen standen in Grüppchen zusammen, manche waren noch immer mit den Dinos beschäftigt, doch die meisten hatten das Interesse verloren. Irgendwo am Rand konnte Sive Nerd und Snake entdecken. "Warum ist es unmöglich, dass Cross dein Onkel ist?" God hatte nicht einmal laut gesprochen, dennoch drehte sich plötzlich alles nach ihnen um. Und war es Zufall, dass sie ausgerechnet so standen, dass sie eine direkte Gasse zu Nerd hin bildeten, der jetzt zusammenfuhr und Sive anstarrte? Er hatte Angst, sie wusste es. Er hatte noch mehr Angst als sie. Es war grausam, was sie zu tun im Begriff war. "Warum ist es unmöglich, dass Cross in Zukunft dein Onkel ist, Sive?" wiederholte God eindringlich, seine Worte um diesen einen Zusatz erweitert. "Ich..." hauchte Sive. Nerds Blick blieb auf sie gerichtet und schien sie auf der Stelle festzubannen, ihre Zunge zu lähmen. Sie sah nur sein Gesicht, sein nun gar nicht mehr so gleichmütiges Gesicht, das immer schwarz-weißer zu werden schien, wie ein Photo, wie ein Photo... Wie konnte sie es wagen, die Nadel mitten in dieses Photo zu stechen, es zwingen, seine Farbe zu wählen? Schwarz-weiße Worte, schwarz-weiße Zukunft. Sie wollte es nicht sagen und wollte es doch sagen, wollte es doch sagen und wollte es nicht... "Sive, warum ist es unmöglich? Sag es. Sag es uns allen!" drängte God, während die anderen langsam unruhig wurden. Getuschel wurde laut, Köpfe steckten sich zusammen. Als Sive sieben gewesen war, hatten sie in der Schule ein Krippenspiel aufgeführt. Damals war sie der Stern gewesen, der den Hirten die frohe Botschaft verkündigt. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie stolz sie auf ihre Rolle gewesen war und wie schrecklich sie sich gefühlt hatte, als sie da vor all den Leuten auftrat und plötzlich nicht mehr wusste, was ihr Text war. Sie war einfach nur auf der Bühne gestanden, geblendet von dem all dem Licht und unfähig etwas zu sagen. Dann hatte Liam ihr das Stichwort gegeben und alles war gut. Genauso kam es Sive jetzt vor: Als sei dies alles nur ein idiotisches Theaterstück, das sie spielte, mit God als Souffleur. Und als hätte sie beinahe ihren Text vergessen, wenn er sie nicht daran erinnert hätte. "Weil er sich umgebracht hat, als er vierzehn war!" schrie Sive ihren Text, den magischen Text und brach in Tränen aus. Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)