Jura Tripper 1 1/2 over von abgemeldet (~I'll find my day, maybe far and away... far and away~) ================================================================================ Kapitel 4: X. Sive * XI. Neesan * XII. Schweigen ------------------------------------------------ Ich danke Hitomi16 von ganzem Herzen für ihren Kommentar... und ich würde mich riesig freuen, wenn ich noch ein paar bekäme :) X. SIVE * XI. NEESAN * XII. SCHWEIGEN X. Sive Mit dem Fahrzeug fuhren sie das letzte Stück bis zur Talsenke, in der Lupar lag. Dann versteckten sie es an einer einigermaßen blickgeschützten Stelle im Wald und bedeckten es zusätzlich noch mit großen Zweigen, da es vermutlich gewisse Probleme mit sich gebracht hätte, wenn sie angesichts der mittelalterlichen Verhältnisse auf Noah mit einem solchen Auto wie dem ihren am hellichten Tage mal eben in Lupar eingefahren wären. Es war ohnehin schon schwer genug, unentdeckt zu bleiben, und das mussten sie. Die Armee, erklärte Manua, war überall, so absolut war die Herrschaft des Königs. Da sie mit den Kindern inzwischen 19 Leute waren, wurde beschlossen, sich in vier Gruppen aufzuteilen, die nacheinander von Manua geführt durch die Stadt zu ihrem Haus schleichen würden. Die anderen sollten im Gebüsch versteckt warten, bis sie abgeholt würden. "Und bitte bleibt wo ihr seid, hört ihr?" schärfte Manua ihnen noch einmal ein, bevor sie sich zusammen mit der ersten Gruppe auf den Weg machte. Außer Boss gingen noch Princess, Gatcha, Sheerla und Blunder mit. Die Aufteilung der anderen sah folgendermaßen aus: Tiger und President sollten als zweites losgehen, mit ihnen Crybaby, Young Lady und Neesan. Zuerst hatte Sheerla dagegen protestiert, von ihrem Bruder getrennt zu werden. "Was? Aber ich will mit Neesan gehen!" hatte sie gerufen. Erst als die anderen ihr die Lage vor Augen führten, gab Sheerla widerstrebend nach. Betont unauffällig, fast, als ob es ihr peinlich wäre, war sie an Tigers Seite geschlichen. "Du, Tiger?" hatte das Mädchen die neu entdeckte Vertrauensperson verstohlen gefragt. Überrascht blickte Tiger auf sie herunter. "Ja?" "Bitte pass auf Neesan auf, während ich weg bin, ja? Weil... es..." Sheerla holte tief Luft, um die für sie offensichtlich schwer zu formulierende Erklärung anzufügen, doch mit einem verständnisvollen Lächeln nahm das ältere Mädchen ihr die Notwendigkeit dazu. "Ich verspreche es." Dankbar nickte Sheerla. Die dritte Gruppe umfasste Doc und Tank als "Aufpasser" sowie Silence, Liam und Timid. Für Sive waren die meisten Gruppen schon zu voll gewesen, mit anderen Worten: Keiner hatte sie haben wollen. Darum musste sie wohl oder übel mit God, Nerd und Snake gehen. Weder God noch Sive waren davon sonderlich erbaut, hatten sie doch seit der Ankunft der Kinder längst eine sehr spezielle gegenseitige "Zuneigung" entwickelt. "Was soll das? Wir haben jetzt eben mehr Kinder, um die wir uns kümmern müssen, und ihr seid die einzige Gruppe, bei der noch keiner von den Kleinen mitläuft." hatte Boss verärgert entgegnet, als God sich beschwert hatte. Daraufhin hatte die hellhörige Sheerla dem lieben Boss ganz sacht auf die Schulter getippt (dazu musste sie sich gehörig recken) und ihm einen kleinen Vortrag über den in ihren Augen abfälligen Gebrauch der Worte "Kinder" und "Kleine" sowie den Unterschied zwischen selbigen und "Erwachsenen" gehalten: "Ob jemand ein Kind oder ein Erwachsener ist, hängt nicht vom Alter ab, sondern von einer gewissen Reife im Verhalten und der Fähigkeit, im Leben klarzukommen. Kapiert?" Danach hatte Sheerla wissend gelächelt, als hätte sie zu dem Thema noch sehr viel mehr zu sagen, es aber lediglich wegen Zeitmangels unterlassen. "Und ich schaue ja niemanden an, nicht wahr?" "Ja, ja. Können wir jetzt?" Ungeduldig sah Boss in die Runde. Es wurde bereits langsam dunkel. Manua nickte, und Sive, die umhersprang wie ein angeschossenes Kaninchen, flehte zum wiederholten Male: "Lasst mich nicht allein! Hört ihr, Liam, Sheerla! Ah! Ich verblöde!" In gespielter Ohnmacht ließ sie sich ins Gras sinken, wo sie circa eine halbe Sekunde verharrte, um dann wieder aufzuspringen, um weiter zu jammern. So viel zum Thema reifes Verhalten, dachte Sheerla. "He, Sive! Jetzt reg dich ab. Du hast mein Beileid. Neesan, Liam - bis dann, ja?" Sie grinste, winkte und verschwand hinter Blunder und den anderen im Gebüsch. "Ja, ja. Beileid. Klar." grummelte Sive. "Liam! Ich will nicht mit den Spinnern gehen! Was, wenn das abfärbt?" Ihr Freund kicherte, um Sive dann zu beruhigen: "Schon gut. Noch sind wir ja da. Komm, so schlimm wird das schon nicht." Zweifelnd zog Sive die Augenbrauen hoch. Sie sah so komisch und so verzweifelt aus, dass Liam schon wieder lachen musste, ob er wollte oder nicht. Neesan stand daneben und betrachtete die Szene mit Staunen. Diese Sorte Sive-Live kannte er ganz offensichtlich noch nicht: "Ich mag nicht das Letzte vom Letzten sein!" "Jetzt halt verdammt noch mal endlich die Klappe!" brüllte God auf einmal los. Er sprang von dem Baumstamm, auf dem er gesessen hatte. "Glaubst du, uns macht es Spaß, dich Nervensäge mitzunehmen? Wir sind froh, wenn wir dich wieder los sind! Wenn's dir nicht passt, kannst du ja alleine gehen! Dann bist du wenigstens nur die Letzte, aber nicht ?vom Letzten'! Hauptsache, du hörst auf zu nerven! Ist doch wohl klar, dass so was Unausstehliches keiner will! Und..." Was immer God noch hatte sagen wollen, Sive hörte es nicht mehr. Das letzte was er von ihr sah, war ein undefinierbarer Blick, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und davon lief. God blieb zurück wie vom Donner gerührt. "Aber... aber... He!" stammelte er. "Die... die kann doch nicht wirklich alleine gehen!" Er klang fast so, als ob es ihm leid täte, doch als er sich umdrehte, war nur Trotz zu sehen: "Wenn die einer erwischt, sind wir dran!" Die anderen hatten den Vorgang mit Unverständnis verfolgt. "Na klasse!" ärgerte sich Tiger. "Du Trottel!" Sie funkelte God an und wollte Sive hinterher laufen, aber Liam hielt sie zurück. "Wartet, ich schaue selbst nach ihr." meinte er leise. Er sah God an. "Sie ist ganz bestimmt nicht allein in die Stadt gelaufen." Und bevor noch irgend jemand etwas einwenden konnte, war auch Liam verschwunden. Neesan, der sich plötzlich inmitten all der Leute, die er erst knapp einen Tag kannte, so verloren fühlte, wollte hinterher, als Tiger ihm in den Weg trat: "Nichts da, du bleibst hier! Wäre ja noch schöner, wenn uns hier alle weglaufen würden." Eigentlich wäre Neesan am liebsten Sive und Liam nachgegangen, aber Tigers energische Art flößte ihm Scheu ein. So fügte er sich seufzend, ließ sich neben President auf der Erde nieder und hoffte nur, dass die beiden bald wiederkommen würden. "Sive? Sive!" Stirnrunzelnd lief Liam durch den Wald. Er wusste, dass er sich beeilen musste, um rechtzeitig zu den anderen zurückzukommen. Trotz der Sicherheit, die er gegenüber Tiger und God an den Tag gelegt hatte, war er keineswegs davon überzeugt, Sive so rasch zu finden. Es war durchaus möglich, dass sie, ohne richtig nachzudenken, tatsächlich in die Stadt gelaufen war. Bei ihr konnte man nie wissen. Liam seufzte. Seine Reaktion auf ihr Gejammere kam ihm in den Sinn, und er schämte sich. Bei Sive sollte man nie lachen, bevor man nicht ganz sicher war, wie ernst sie etwas wirklich meinte. "Sive!" Stille. Diese Welt ist so ganz anders, dachte Liam. Er hatte Angst hier im Wald. Langsam kam die Dunkelheit, und das erweckte in dem Jungen die Erinnerung an... gestern? Ja, es war tatsächlich erst knapp ein Tag vergangen, seit sie dem Brachiosaurus begegnet waren. Seltsam, ihm kam es vor, als sei es schon viel länger her. So vieles war in den letzten Stunden geschehen, dass ihm der Kopf schwirrte. So vieles gab es, worüber er nachdenken musste, aber bis jetzt hatte er einfach noch keine ruhige Minute dazu gefunden. Wieder rief er Sives Namen, ohne eine Antwort zu erhalten. Liam wurde unruhig. Was, wenn er sie tatsächlich nicht fand? Wenn ihr etwas passiert war? Sive reagierte immer so unbeherrscht. Das konnte manchmal wirklich anstrengend werden, trotzdem wusste Liam, dass es eben unabänderlich ihre Art war. Und einer der Gründe, weshalb er sie so mochte. Heute ist... Donnerstag, fiel Liam plötzlich ein. Das heißt, es wäre Donnerstag. Ob Mrs. Palmer gekocht hatte? Eigentlich war es so geplant gewesen. Und Sive wäre nach der Schule zu ihm gekommen. Er fröstelte. Langsam wurde es kühl. Voller Schrecken wurde Liam klar, dass die Erinnerung an zuhause in seinem Geist verblasste wie ein altes Bild, verdrängt von all dem Neuen und Aufregenden und Andersartigen. Das wollte er nicht! Er wollte wieder heim. Zusammen mit Neesan und Sheerla. Und Sive. Liam fand Sive in Tränen aufgelöst an einen Baum gelehnt. Obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte, ahnte er, dass sie ihn kommen gehört haben musste. Trotzdem reagierte sie zunächst überhaupt nicht. Ihre Schultern bebten heftig, doch im merkwürdigen Kontrast dazu stand sie fast völlig reglos. Eine Hand ruhte am Baum, tastete hin und wieder gedankenverloren über die raue Rinde, als suche sie etwas. Die andere hielt krampfhaft ihren marmornen Elefantenanhänger umklammert, mit Knöcheln, die so weiß hervortraten wie der Stein. "Sive," sagte Liam, "Sive." Da drehte sie sich um, und er sah, dass ihr Gesicht tränenüberströmt war. Fast ärgerlich rieb Sive sich die Augen, als wollte sie sich nun, da Liam hinzugekommen war, endlich zusammenreißen. Doch es ging ihr, wie es immer geht mit den Tränen: Je mehr man sie zu unterdrücken versucht, desto heftiger muss man weinen. Und während Sive unablässig Schluchzer schüttelten, kam Liam heran und legte ihr den Arm um die Schultern. "Sive," sagte er beruhigend und ein wenig unbeholfen, "nicht weinen." Sive sagte nichts, allein ihr Schluchzen wurde noch heftiger. Sie brauchte mehrere Anläufe zwischen den ruckartigen Atemstößen, bevor sie fragen konnte: "Liam, warum mag mich keiner?" Liam setzte zu einer Antwort an, schwieg dann. Er wusste einfach nicht, was zu entgegnen. Allerdings schien Sive auch kaum mit einer Entgegnung gerechnet zu haben. Ihr Atem, rasch und unregelmäßig, beschleunigte sich mit dem Tempo ihrer Worte. "Keiner von denen mag mich. Und zuhause mag mich auch keiner. Ich versuch doch, mich so zu benehmen, dass sie mich mögen. Aber es klappt einfach nicht. Nie. Nie. Nie!" Sive ballte die Fäuste. Zum ersten Mal seit sie sprachen, blickte sie Liam direkt an. Sie sah abgerissen und verloren aus, wie sie so dastand, das Gesicht rot und tränenverschmiert. Herbstlaub und Kletten klebten überall an ihrer Uniform. Am Knie hatte sie eine frische Schürfwunde, wahrscheinlich war sie hingefallen. Das hellbraune, dünne Haar stand zerzaust vom Kopf ab, umrahmte ihr Gesicht wie ein zerrupfter Strohkranz, als sie ihn bat: "Sag mir, was ich tun muss, damit die anderen mich mögen. Dich mögen doch auch alle." "Sive," sagte Liam, hilflos grübelnd, wie er sie trösten konnte, "Ich... ich mag dich doch." "Da bist du aber der Einzige. Sonst mag mich keiner. In der Schule nicht, und hier auch nicht. Nicht mal Sheerla, dabei dachte ich das wirklich, blöd wie ich bin. Aber sie ist doch auch bloß genervt von mir. Keiner kann mich leiden, ich selbst am allerwenigsten. Ich bin unausstehlich, frech und nervtötend, ich weiß. Warum gibst du dich eigentlich mit mir ab? Du hast doch auch nur Ärger mit mir. Jetzt werden sie auch dich ausschimpfen, weil du mir nachgelaufen bist, Liam." Trotzig zog sie die Nase hoch. "Entweder sie lachen über mich oder sie schimpfen mit mir. Dabei will ich das doch gar nicht, ich will nicht, dass sie über mich lachen, ich will nicht lustig sein... ich will doch nur, dass sie mich mögen. So wie ich bin. Aber sie mögen mich nur, solange sie an mir etwas zum Lachen haben. Aber so bin ich doch gar nicht. Das weißt du doch, oder, Liam?", flehend blickte sie ihn an, "Du weißt das doch, stimmt's? Auch wenn die anderen denken, ich wollte mich nur wichtig machen. Ich... ich mag mich doch selber nicht, wenn ich so bin. Aber ich kann einfach nicht anders. Ich versteh mich selber nicht. God hasst mich jetzt garantiert, und Princess sowieso, und auch von den anderen wollte mich keiner dabei haben. Ich weiß, dass ich selber schuld bin. Aber ich... ich... Liam, warum bist du mir gefolgt?" Sie vergrub den Kopf an Liams Schulter, suchte nach Worten, fand keine. Es war alles aus ihr herausgesprudelt, nun fühlte sie sich nur noch leer und unglücklich. Liam wiegte sie ein bisschen und strich ihr tröstend übers Haar. Sie tat ihm so leid... Er wusste, was ihr Problem war, er kannte sie lange genug, aber er wusste auch, dass sie es selbst lösen musste. Zwar konnte er versuchen, ihr zu helfen, sie in den Arm nehmen und ihr zuhören, aber lösen konnte sie es nur selbst. Trotzdem wollte er ihr etwas sagen, damit sie nicht mehr weinen musste, irgend etwas, das ihr Mut machte und ihr zeigte, dass er zu ihr hielt... "Weil ich dich lieb hab, Sive. Darum." Jäh verstummte das Schluchzen in seinen Armen. Einen Moment lang war Sive ganz still, so still, dass er das Knistern und Rascheln ringsum im nächtlichen Wald hören konnte. Dann hob sie langsam den Kopf, als wollte sie sich vergewissern, ob sie richtig gehört, sich seine Worte nicht bloß eingebildet hatte. Einen Ausdruck von ungläubiger Überraschung auf dem Gesicht, starrte sie Liam an. Ihr Mund öffnete sich, und sie errötete fast ein bisschen. "Sive, du bist zwar manchmal schwierig, aber ich... ich hab dich lieb. Gerade weil du so bist, wie du bist. Und ich glaube, sobald die anderen dich besser kennen gelernt haben, werden sie das auch tun. Ich bin mir ganz sicher." Entgegen seiner Aussage war Liam sich gar nicht so sicher, ob er wirklich das Richtige gesagt hatte. Sive tat ihm leid, er wollte nicht, dass sie traurig war. Darum hatte er einfach gesagt, was er meinte, und gehofft, es würde das sein, was sie brauchte. Sive strahlte. Sie war ein unausgeglichenes Bündel Laune, daran gab es wirklich keinen Zweifel. Eben noch hatte sie herzzerreißend geschluchzt, sich selbst gehasst, alles gehasst. Und jetzt strahlte sie, sah so glücklich aus, dass es auch Liam berührte. Und das von einem Moment auf den anderen, vollkommen unerwartet. Sive konnte so schön lächeln. Er wusste es, er hatte sie schon ein paar Mal so lächeln sehen, aber es überraschte ihn immer wieder. "Danke, Liam." flüsterte sie, "d..." - sie konnte nicht zu Ende sprechen, als plötzlich ein "Hick" aus ihrer Kehle stieg. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Vor lauter Schluchzen hatte sie einen Schluckauf bekommen. XI. Neesan "Wo stecken die beiden bloß? Wenn sie nur bald wiederkommen! Was, wenn die Armee sie gefangen nimmt? Ich als Anführer hätte das niemals zulassen dürfen!" Die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt, unablässig die Hände ringend und sich die Haare raufend, so marschierte President auf und ab. Die anderen hatten seine Route mehr oder weniger intensiv mitverfolgt: Tipp Tapp - sechs Schritte hin zu einem kopfgroßen Stein, dann 90° Wendung nach rechts auf eine gebückte Kiefer zu, dort gramerfülltes Abstützen am vermeintlich sicheren Stamm und Bedecken der zerfurchten Stirn mit fahriger Hand in gequälter Gebärde. Diese Prozedur in den letzten Minuten etwa acht Mal. Es lag eine Wenn-bloß-Boss-hier-wäre-Stimmung in der Luft, doch bis jetzt hatte noch keiner den vielgehörten Satz ausgesprochen. "Jetzt reiß' dich mal zusammen!" lautete Tigers barscher, aber freundlicher Rat, und Tank fügte hinzu: "Der Junge ist vernünftig. Er wird das Mädchen finden und dann so schnell wie möglich zurück kommen." Wie um ihm recht zu geben, tauchten just in diesem Moment Liam und Sive aus dem Unterholz auf. President unterbrach seine Völkerwanderung und setzte gerade dazu an, seiner Erleichterung angemessenen Ausdruck zu verleihen, als Neesan aufsprang und ihn im Vorüberlaufen völlig aus dem Konzept brachte: "Liam! Sive! Da seid ihr ja! Wie gut, dass ihr endlich kommt, ich hab' mir Sorgen gemacht!" Neesan bremste auf dem Absatz, wirbelte herum, rief: "Ihr habt mir gefehlt, wisst ihr..." Die ganze Zeit über hatte er in sich gekehrt in der Ecke gesessen, Gedanken von Sorge und Einsamkeit unablässig im Kopf hin und her gewälzt. Jetzt schien er vor Erleichterung ganz aufgekratzt. Die Intensität, mit der Neesan auf einmal los plapperte, verriet die Anspannung, unter der er gestanden haben musste. Irgendwie war Sheerlas Bruder in den letzten Minuten schon soweit gewesen, dass er in seinen Zukunftsvisionen sich selbst nur noch ganz allein im Waisenhaus Lupars gesehen hatte, ohne seine Freunde und Sheerla, die dort im Wald irgendeinem unglücklichen Schicksal anheimgefallen waren... Und das Schlimmste, keiner hatte ihn adoptieren wollen... Er hatte also kurzfristig unter dem weitverbreiteten akuten Einsamkeit³-Syndrom gelitten, und war nun sichtlich glücklich, dass Liam und Sive wohlbehalten wiedergekehrt waren. "Bin ich froh, dass ihr wieder da seid... was war denn los, Sive? Ist alles in Ordnung? Wo hast du nur gesteckt?" Besorgt, erleichtert, schwanzwedelnd - streicht das - in der Welpen-Manier, in die Neesan in solchen Situationen unwillkürlich verfiel, erkundigte er sich nach Sives und Liams Ergehen. "Ja, ja... es ist alles in Ordnung...." antworteten die beiden im Chor, und Liam fügte zerstreut hinzu: "Du hättest dir keine Sorgen machen brauchen, Neesan..." Sie hatten ihm ganz offensichtlich nur mit halbem Ohr zugehört. Liam und Sive wirkten seltsam in sich gekehrt, wie sie da standen, Hand in Hand, als sähen sie etwas, von dem der Rest der Welt nicht das Geringste ahnte. Sives Augen waren noch immer leicht gerötet, doch abgesehen davon verriet nichts, wie heftig sie eben noch geweint hatte. Sie hielt das Kinn hoch gereckt, bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, aber im Moment trotz allem eher in friedlicher Laune. Liam lächelte in sich hinein, und Neesan fragte sich zum wiederholten Male, wie er das nur fertigbrachte. Was Liams Lächeln so echt machte, war die Tatsache, dass es kein Lächeln war, dass er der Welt entgegensetzte, um sie zu zähmen... nein, er lächelte nach innen, aber gerade deshalb färbte es auf seine gesamte Umgebung ab. Neesan verstand das nicht ganz, doch das änderte nichts daran, dass er sich diese Fähigkeit manchmal sehnlichst wünschte... ganz besonders in Situationen wie dieser. Er bewunderte sie auch, vor allem, wenn das Lächeln ihn einschloss. Was im Moment nicht der Fall zu sein schien. Liam und Sive waren bereits seit dem Kindergarten befreundet, erinnerte er sich, und so sahen sie nun auch aus, zwei lächelnde Freunde, die es nicht nötig hatten, dass er sich um sie Sorgen machte, Dummkopf, der er war, denn sie waren stark und selbstsicher, drohten nicht jede Minute im Gewimmel der Welt unterzugehen... "Liam... Sive..." Er schluckte. Die Beiden reagierten nicht, blickten nur einander an, und wie auf Kommando verschwanden die siegessicheren Mienen und verwandelten sich in schuldbewusste. "Da sind wir." sagte Liam. "Bitte entschuldigt, dass es so lange gedauert hat." Noch immer hielt er Sives Hand. Neesan kam es so vor, als ob die beiden sich die ganze Zeit unterhielten, ohne ein Wort zu sagen, in einer Sprache, die er nicht verstand... nicht verstehen sollte? "Das wird aber auch Zeit!" meinte Tiger streng. "Manua muss jeden Augenblick kommen." Mit keinem Wort fragte sie danach, was vorgefallen war. "Schön, dass ihr wieder da seid," begrüßte Snake sie freundlich. God sagte nichts, und ebenso war es unmöglich, ihm anzusehen, was er dachte. "Ich hoffe, ihr seid nicht in die Nähe der Stadt gegangen!" tadelte President sie mit ernster Miene. "Liam..." hob Neesan noch einmal an. Er blinzelte, schüttelte heftig den Kopf. "Liam..." - Dann schwieg er. Auch auf die Worte der anderen antworteten die beiden nur mit knappen Sätzen, setzten sich dann an den Rand und begannen, sich leise zu unterhalten. Noch immer umgab sie diese spürbare Mauer, die Außenstehenden verriet, dass sie für sich sein und die Ereignisse der letzten Minuten mit niemandem teilen wollten. Und Neesan war ein Außenstehender. Diese Erkenntnis versetzte ihm einen kleinen Stich, er schalt sich deswegen. Sive und Liam kannten einander nun einmal länger und besser als er sie, und daher gab es eben Dinge, die nur sie beide allein betrafen und ihn nichts angingen. Das war vollkommen normal und verständlich... kein Grund, sich etwas daraus zu machen... Neesan senkte den Kopf und verzog sich wieder in seine Ecke. Wenn dem tatsächlich so war, warum machte es ihm dann so viel aus, fühlte er sich dann plötzlich noch viel einsamer als vor wenigen Minuten? Die dichte Dunkelheit lichtete sich ein wenig, als nun am westlichen Horizont die beiden Monde Noahs aufgingen. Von President und den anderen wurden sie allerdings kaum begrüßt, da sie sich in dem kalten Licht, das doppelt so hell schien wie bei ihnen zuhause, wie auf dem Präsentierteller fühlten. Eine Gefühl des Unbehagens umgab die kleine Restgruppe, die dort wortkarg die Zeit totschlug und in der kalten Nachtluft fröstelte. Sie alle erwarteten Manua sehnsüchtig und lediglich die Aussicht auf einen Unterschlupf, etwas Warmes zu Essen und ein wenig Schlaf brachte sie dazu, die trägen Minuten klaglos durchzustehen. Hinzu kam, dass sie nun schon zweimal in unmittelbarer Nähe die Stimmen vorbei patrouillierender Soldaten vernommen hatten. Beide Male waren sie vor Schreck wie erstarrt gewesen, und beide Male hatten sie voll Erleichterung aufgeatmet, als die Stimmen langsam verklangen, ohne das etwas geschehen wäre. Vermutlich hielt keiner ihrer Verfolger sie für so dumm, dass sie sich tatsächlich in die Nähe der Stadt, in der es von Menschen nur so wimmelte, wagen würden. Eigentlich ein logischer Gedanke, und deshalb fragte sich Doc zum wiederholten Male, ob ihre Entscheidung wirklich klug gewesen war. Sie sagte das auch den anderen, doch letztendlich blieb es dabei: Mit dem Entschluss, Manua zu vertrauen, hatten sie sich selbst die Hände gebunden. Sie konnten nur noch warten und hoffen, für eine andere Entscheidung war es zu spät. Ohnehin musste die Hälfte von ihnen inzwischen längst sicher im Haus des Bürgermeisters angekommen sein. Oder auch nicht... Manua kam, Neesan sah sie nicht, da ein Vorhang aus Pinienzweigen ihm die Sicht nahm. Nur Tigers Rufe waren es, die er vernahm. Schwerfällig erhob sich der Junge und klopfte sich die Tannennadeln ab. Sein Blick suchte Liam und Sive, fand sie, wandte sich ruckartig ab. Doch Liam hatte den Seitenblick sehr wohl bemerkt. "Neesan...?" Er runzelte die Stirn, auch Sive sah überrascht auf. Doch Neesan registrierte es kaum. Die meisten aus seiner Gruppe waren schon losgegangen, er musste sich beeilen. Dass Tiger als Letzte am Rande der Lichtung stand und auf ihn wartete, tröstete den Jungen wenig, ganz im Gegenteil! Tief in der Hosentasche verborgen ballte er eine Faust, sah verbissen zu Boden und stapfte in das Dickicht hinein. XII. Schweigen Nun warteten nur noch zwei Gruppen. Manua, der die Lage nach Berichten der Wartenden bezüglich der Armeestreifen langsam zu brenzlig wurde, hatte mit Boss als Treffpunkt einen verborgenen Hinterhof in der Stadt vereinbart, wo er auf sie wartete, um die zweite Gruppe in ihr Versteck zu führen, so dass Manua gleich die nächste abholen konnte. Boss hatte sich freiwillig dazu angeboten, und da er sich gut Wege merken konnte, hatte Manua dankbar angenommen. Die junge Frau wirkte abgehetzt und erschöpft, als sie zum dritten Male in dieser Nacht aus den Büschen brach, die nächste Gruppe in Empfang zu nehmen. Bei ihrem Anblick verspürten die Pfadfinder Mitleid und Dankbarkeit zugleich. "So," flüsterte Liam Sive zu, "ich geh dann auch mal. Viel Glück. Du machst das." Er grinste aufmunternd, legte ihr sacht die Hand auf die Schulter und erhob sich. "Wie? Was?" Sive zog wieder mal das Was-soll-denn-das-Gesicht, doch aus irgendeinem Grunde mangelte es ihm an Glaubwürdigkeit, und als nach einer kleinen Schrecksekunde ihrerseits das Verstehen durchschimmerte, verlor es auch den letzten Rest davon. Was Sive natürlich nicht daran hinderte, es weiter voller Überzeugung aufzusetzen. Ein Lächeln konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen. Wenn Liam einen anlächelte, konnte man ganz einfach nicht anders. Als schließlich alle Gruppen außer der letzten gegangen waren, wurde das Schweigen peinlich. Einziger Ton, der die nächtliche Stille durchdrang, war das monotone Summen und schrille Piepsen von Nerds Game Boy. Neben ihm brütete Snake, den Kopf in beide Hände gestützt und den linken Fuß auf das rechte Knie gelegt. God saß mit überschlagenen Beinen und verschränkten Armen ebenso wortlos da. So. All das hatte Sive nach einem langen, unauffälligen Seitenblick auf die von Mondlicht überflutete Lichtung feststellen können. Also gut. Sie stemmte die Fäuste in den sandigen Boden, um aufzustehen, wusste genau, dass sie das - noch - nicht tun würde und schielte unauffällig über die Schulter, um einen zweiten Blick zu ergattern, während Nerd den sich steigernden Tönen nach wohl gerade irgendeinen Endgegner plattzumachen versuchte. Diese unauffälligen Seitenblicke mit Unentdeckt-bleib-Gewissheit hatten wirklich was für sich. Wie schon erwähnt, waren sie erstens unfehlbar, was das Unentdeckt-bleiben anging, zweitens nahmen sie so peinlichen Situationen etwas von ihrer Peinlichkeit und drittens... nun ja, drittens verloren besagte Situationen auf diese Art auch etwas an Ernst und begannen, mehr und mehr einem dieser Spionageschinken zu ähneln, auf die Sheerla so abfuhr. Sive seufzte abgrundtief. Sie war noch nie gut daran gewesen, Dinge zu erledigen, die sein mussten. Sehr viel entwickelter war ihre Fähigkeit, sie vor sich herzuschieben und Ablenkung zu suchen. Verdammt nochmal. "Denk drüber nach. Und wenn du nachgedacht hast und weißt, was zu tun ist, dann tu es." Urplötzlich kam ihr dieser Satz in den Sinn, fiel ihr einfach aus dem Ohr, ein Satz, den sie in ihrer frühen Kindheit (so etwa glaubte sie diese Zeit einstufen zu können) gehört hatte und an den sie seitdem immer wieder hatte denken müssen. Zum Beispiel in Situationen wie dieser. Dabei war sie damals noch ein kleines Kind gewesen, gerade in den Kindergarten gekommen. Sie hatte irgendein Problem mit einer der Gruppenleiterinnen gehabt, oder war's das dazugehörige Bild gewesen? Wie auch immer, ihre Mutter hatte ihr diesen Rat gegeben, und trotz aller Sprunghaftigkeit, mit der Sive sonst für andere durchs Leben zu tänzeln schien, hatte sie gewusst, und das ohne nachzudenken: Dass sie recht hatte, gerade weil es so einfach klang, dass selbst kleine Kindergartenkinder es verstehen konnten, und gleichzeitig so unendlich schwer durchzuführen war. Denn wer brachte es schon wirklich über sich, einfach aus seiner inneren Gewissheit heraus zu handeln, dem Ergebnis seines Denkens, nicht mehr und nicht weniger? Sive jedenfalls nicht. Sie hatte mit der Leiterin gesprochen, ja. Aber nichts war gut gegangen. Und trotzdem hatte Sive nicht eine Sekunde gezweifelt. Gerade das Scheitern ihres Versuchs schien ihr auf eine geheimnisvolle Art schwerwiegendster Beweis für die verborgene Richtigkeit dieser Aussage zu sein. Und irgendwie hatte sie sie seitdem verinnerlicht. Das durfte doch nicht wahr sein! Schon wieder hatte sie sich klammheimlich und mühelos vor dem Unvermeidlichen gedrückt. Ablenkung forever! Also noch mal. Als sie beim dritten Mal unauffällig die Lage sondierte, empfing Sive ein freundliches Winke-Winke Snakes. Im ersten Moment war sie völlig perplex, dann spürte sie, wie tief in ihrer Lungengegend ein Lachkrampf ausbrach. Streng verkniff sie sich jegliches Muskelzucken. Das war nun wirklich nicht angebracht. Hatte James Bond etwa gekichert?! So viel also zum Thema unauffällig. Aber genaugenommen konnte man Snakes Winken ja durchaus als Einladung verstehen, oder? Der trotzige Teil in ihr, der anderer Meinung war, war inzwischen dem Schlafe so nahe, dass er kaum noch widersprach. Es war wohl heute einfach ein bisschen viel für ihn gewesen. Leise stand Sive auf und schlurfte zu den Dreien hinüber, ganz langsam, teils aus Unbehagen, teil aus Müdigkeit. Schweig. Schweig. Schweig. "Hey!" raunte Sive und tippte God auf den Kopf. Keine Reaktion. Tipp. Noch immer keine Reaktion. Tipp. Tipp. Die Reaktion wurde nicht eben deutlicher. Tipp. "SAG MAL, HAST DU SIE NOCH ALLE?!" brüllte God. Er sieht wirklich aus wie eine Blondine, dachte Sive säuerlich. Eine blöde, blöde Blondine. Und Snake - der war sowieso ein ganz komischer Kerl, ganz nett zwar, aber irgendwie komisch. Der hielt sich wohl für witzig, arme Menschen in der Überwindungsphase so plötzlich zu stören. Und über diesen Game Freak da brauchte man ja gar nichts mehr zu sagen, der konnte ja nicht mal reden, Trottel allesamt, überhaupt alle, die da und die da... ja, und was wollte sie eigentlich, hatte sie denen irgendwas getan, nein, natürlich nicht, was redete, äh, dachte sie denn wieder, und überhaupt - "Entschuldigung," sagte Sive. "Wie?!" Soviel Entgeisterung, Unglaube und Verwirrung schwangen in diesem einen Wort mit, dass sie sich zu näheren Erklärungen berufen fühlte. "Entschuldigung," wiederholte Sive, als spräche sie mit einem begriffsstutzigen Kind, das einfach nicht begreifen wollte. Oder konnte. "Mein Benehmen vorhin war mies und ungerecht. Auch wenn ich keine Lust hatte, mit euch zu gehen, hätte ich nicht sagen dürfen, dass ihr das Letzte vom Letzten seid. Es tut mir leid." Sie sah erst God, dann Snake und Nerd an, wobei letzterer den Blick überraschenderweise sogar mal erwiderte. Mehrere Sekunden vergingen so, dann verzog God das Gesicht und schüttelte unwillig den Kopf, wieder und wieder. Er setzte zu einer Antwort an, doch aus irgendeinem Grund schien ihm nicht die geringste Entgegnung einzufallen. Wahrscheinlich hatte es noch nie jemand für nötig gehalten, sich bei ihm zu entschuldigen. Meistens war nun einmal er derjenige, der sich zu entschuldigen hatte und darum wusste er jetzt offenbar einfach nicht, wie er reagieren sollte. Snake kannte dieses Problem nicht, auch wenn seine Anwort etwas schüchtern klang: "Danke," sagte der schlaksige Junge in seiner einfachen Art, und damit war der Bann gebrochen. Sive nahm Platz auf dem hohlen Baumstamm, direkt neben Nerd, der ein wenig beiseite rückte, damit sie sich setzen konnte. Für diesen Abend war sie die Vierte in der Größenleiter. Das Schweigen blieb. Aber es war längst nicht mehr so unangenehm. Als Manua etwas später zurückkehrte, sah sie die Vier in friedlicher Eintracht sitzen und sie erwarten. Nachdem Nerd und Snake bereits aufgestanden waren, spürte Sive, wie jemand ihr die Hand auf die Schulter legte. "Komm, Sive," sagte God, und sie war ehrlich erstaunt, dass er ihren Namen kannte, "gehen wir." Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)