Le coeur aigri von abgemeldet (Juri's Elegy) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Ihre Schritte hallten auf dem Steinboden, als sie durch das Foyer des Bahnhofes hetzte. Ein hektischer Blick fiel auf die Uhr am Ende des Ganges. Es war zu früh, der Zug sollte doch erst in fünf Minuten fahren. Und zog sich das schrille Pfeifen des Schaffners am Bahnsteig durch den verlassenen Gang, der sich für Juri noch viel mehr in die Länge zog als ohnehin schon. Angestrengt beschleunigte die Schülerin ihren Schritt, es musste etwas getan werden um ihn zu stoppen. Sie wollte nicht dass es so endete. Nicht so! Tauben flatterten aufgeschreckt hoch, als sie sich durch das Meer von Flügelschlägen kämpfte. Es hatte den Anschein als wollten alle verhindern, dass die Schülerin rechtzeitig ankam. Sie mobilisierte ihre Kräfte, setzte ihren Körper unter Druck als wäre die Zeit ihr Gegner, den es mit dem Degen zu besiegen galt. Ihr Keuchen prallte an den Säulen ab, wurde zurückgeworfen wie der Beginn eines Opus, und die Schritte erklangen wie die Trommelschläge die sie auf dem Weg zum sprichwörtlichen Schafott geleiteten. Das rotblonde Haar hing ihr wirr ins Gesicht. Juri konnte sich erinnern als sie die Klasse betrat und diese immense Leere in sich spürte, die sie zur Gänze erfüllte. Sie konnte die Worte der einzelnen Klassenkameraden hören, die sich in einem Pulk versammelt hatten und davon sprachen, dass sie die Schule verlassen hatte. Wie konnte das sein? Juri begriff es nicht. Blind geworden vor übermannten Emotionen und salzigen Tränen stolperte sie zum Bahnsteig. Der schrille Pfiff ließ sie hochfahren. Langsam, quälend langsam setzten sich die Räder in Bewegung, der knirschende Laut von rostigen Scharnieren raubte ihr den letzten Rest logischen Denkens, den sie besaß. Und selbst wenn der Zug noch langsam war- Er würde schneller werden, immer schneller. Was konnte die Schülerin noch tun? „SHIORIII!“ Ihre Stimme klang heiser und ihr angestrengtes Atmen verzerrten den Laut in ein undefinierbares Gebilde, das in der Luft hing, sehnlich hoffend die angesprochene Person noch zu erreichen, die just in diesem Moment den Kopf aus einem der Fenster reckte. Im Lächeln des Mädchens lag etwas Bitteres und verhöhnendes, der Sieg der gewiss der Ihre war. Nein, sie hatte nicht gewonnen. Nicht jetzt. Juri breitete ihre Schwingen aus, begann zu laufen, wie sie noch nie in ihrem Leben gelaufen war. Juris Herz raste, als wollte es sich aus ihrem Brustkorb befreien – und es fiel schwer, der Maschine zu folgen, die ihren mühseligen Gang beschleunigte. Das Geräusch des Antriebs nahm die Form eines hämischen Lachens an, ein Husten und Rumoren wie ein metallisches Ungeheuer. Shiori streckte ihre Hand aus dem Fenster, als Juri mit einem beherzten Sprung versuchte sie noch zu ergreifen. Doch das einzige, was ihr in diesem Moment blieb, war der stechende Schmerz, als die Hand weggezogen wurde und sie sich am Boden wieder fand, der Unterarm aufgeschürft und brennend vom Schmutz der sich darin sammelte. Ihr Traum ließ sie zurück. Heiße Tränen tropften auf den staubigen Grund unter der Schülerin, ihre langen, schlanken Finger verkrallten sich in den Boden, bis der physische Schmerz den Psychischen zumindest ansatzweise betäubte. Juri fühlte sich dem Wahnsinn nahe. Sie konnte nicht anders und ließ sich auf den Boden fallen, wie es einem Verlierer im Leben bestimmt war. Sie kauerte sich am Boden zusammen und beobachtete mit starrem Blick, wie der Zug aus ihrem Augenwinkel – ihrem Leben verschwand. Ihr wurde bewusst dass er nicht mehr zurückkommen würde. Alles begann vor ihren Augen zu verschwimmen, verlor an Struktur, verlor an Sinn. Alles hatte an Sinn eingebüßt – das Leben wie auch die Existenz. Sie konnte nicht ohne sie sein. Lieber wollte sie sterben als mit dieser Schmach zu leben. Lautlos fiel die Tür ins Schloss, als sie eintrat. Es hätte sie in diesem Moment nicht wirklich gekümmert, wenn sie das Portal in ihre eigene Welt mit tosendem Knall zugeschlagen hätte, doch ihr fehlte es an Kraft und Antrieb. Ihr Blick wanderte durch den Raum, der noch viel düsterer und erdrückender wirkte als bisher. Der Schlüssel knackte leise, während sie abschloss und zum Schreibtisch blickte. Juri fröstelte und zog die Jacke enger um die Schultern. Die Schule war noch längst nicht zu Ende. Und ihr war bewusst, dass ihr Fernbleiben nicht ohne Konsequenzen verblieb – doch es bekümmerte sie zu ihrem eigenen Erstaunen nicht. Warum sollte sie in einer Klasse sitzen und Unterrichtsthematik über sich ergehen lassen, wenn sie am liebsten alles zerstören wollte, was ihr in die Quere kam. Juris Blick glitt über die Möbel, die sie mit akribischer Genauigkeit musterte. Hier war Shioris Anwesenheit noch zu spüren, ein erwärmendes Gefühl, das plötzlich von einem Moment auf den anderen erlosch, wie eine Kerze, der die Luft zum Leben fehlte. Die Schülerin biss sich verkrampft auf die Unterlippe. Nein – sie durfte das nicht an sich heranlassen. Nicht diese Einsamkeit, die sie schon verspürt hatte, bevor Shiori in ihr Leben getreten war. Mit einem erstickten Laut fegte sie mit ihrer Hand die Gegenstände vom Schreibtisch. Erneut wurde die Trauer Herr über ihr Gemüt, immer wieder schlugen ihre Hände gegen die Tischplatte, bis sie sich mit einem qualvollen Schluchzen auf diese sinken ließ. Juri hasste es, schwach zu sein. Und doch konnte sie nicht verhindern, wie die Leere und Kälte des Raumes sie erstickte und betäubte. Sie wollte nur noch sterben… Kapitel 1: The Beginning ------------------------ „Nächster!“ Die Stimme war schneidend kalt, wie der Degen den sie führte. Schlagartig wurde es still im Raum, ein nervöses Herumgeschubse fand statt, bis sich wieder ein nächstes Opfer der schönen Leopardin präsentierte. Der Schüler begab sich in Position, man konnte seine Nervosität sehen, als er verzweifelt versuchte ihren Blick durch den Gesichtsschutz auszumachen. Noch gab sie sich ruhig, als sie den Degen in ihrer Hand ruhen ließ. Doch ihr Innerstes brannte, tobte und brüllte. Mit einem Satz stieß sie sich ab, kannte die Schwäche ihres Gegners genau. Gefolgt von einem klirrenden Geräusch wurde die Waffe aus der Hand geschlagen und schepperte laut als sie am Boden landete. „NÄCHSTER!“ Ungläubig stand der Schüler noch an seinem Platz. Es hatte keinen Wimpernschlag gedauert ehe sie ihn entwaffnet hatte. Es war für ihn unbegreiflich, er starrte auf seine Hand. Sogleich spürte er, wir ihr Blick auf ihm lag. „Revanche?“ Das Wort klang höhnisch, anzüglich – fast schon verrucht. Niemand konnte sie schlagen. Und das wusste er. Der Schüler schüttelte leicht den Kopf, ehe er sich vom Feld begab und den Degen an sich nahm, beobachtete, wie eine seiner Kolleginnen den Platz betrat. Ebenso wie die Schüler, die dem Fechtclub angehörten, fanden sich auch Schülerinnen aus den unteren Klassen. Sie bewunderten die schöne Leopardin. Und um ehrlich zu sein – wer tat das nicht? Im Hintergrund konnte er das Quietschen der Schuhe auf dem Linoleumboden hören. Das Mädchen das sich gestellt hatte, war besser als er. Man konnte deutlich die Hitze und die Aggression spüren, die sich im Raum aufbauten. Die Leopardin hatte einen Gegner gefunden, der ihrer würdig war. Und sie würde ihn mit Genuss demütigen. Das Mädchen täuschte an, stellte den Degen quer um im nächsten Moment auf die Brust der Kontrahentin zu zielen, doch diese hatte den Angriff vorausgeahnt, wich geschickt aus und ließ die Schülerin ins Leere stoßen, ehe sie sich auf dem Absatz herum drehte und die kalte Spitze des Degens auf sich zurasen sah. Mit einem erstickten Laut ging sie zu Boden, hielt sich die Schulter. Die Leopardin hatte eine solche Wucht in den Angriff gelegt, dass es sicher noch einen blauen Fleck gab. „Nächster!“ Ein sirrendes Geräusch zerriss die Luft wie Papier. „Arisugawa Juri?“ Die Leopardin wandte blitzschnell ihren Blick in die Richtung aus der die dunkle Stimme drang. Das erste Merkmal das ihr entgegen sprang, war die große schlanke Hand, die sich einige Strähnen feuerroten Haares beiseite strich. Juri wollte sich die Maske abnehmen, doch er winkte ab. „Ich nehme die Herausforderung gerne an, Arisugawa-san…“, raunte er, ehe er einem der Fechtschüler den Degen aus der Hand nahm und lächelnd das Feld betrat. Als schien er ihren angriffslustigen Blick zu erahnen, begab er sich in die Kampfstellung und grinste. „Du empfindest Liebe für diesen Sport nicht wahr?“ Die Leopardin schwieg. Der Degen lag ruhig und ausgeglichen in ihrer Hand, während sie die Finger fester um den Griff der Waffe legte, doch immer noch war ihr Handgelenk locker – In diesem Moment hätte man ihr den Degen mühelos aus der Hand geschlagen. Sie hatte die Augen zu Schlitzen verengt, observierte ihn. Sie kannte den jungen Mann, es handelte sich um einen der Mitglieder des Schülerrates, Kiryū Tōga – das verriet schon die Geräuschkulisse im Hintergrund, als kreischende Mädchen ihn anfeuerten. Eine drohende Geste ihrerseits veranlasste wieder das Schweigen im Fechtraum. Innerlich schüttelte sie den Kopf, gleichzeitig gierte sie nach einer neuen Herausforderung. „Keine Sorge, ich werde schon nicht zu hart mit dir umgehen, Arisugawa-san…“ Immer noch hüllte sich das Mädchen in Schweigen. Doch er glaubte, hinter ihrer Maske ein Grinsen zu erkennen, ehe sie sich in Position begab und er ihr folgte. Alleine an seiner Kampstellung konnte sie erkennen, dass er keinesfalls ein Fechter war. Ihrer Ansicht nach würde dieser Fakt ihren Sieg nur erleichtern. Sie wartete, bis er den ersten Schritt machte. Er stieß sich am Boden ab, kam geradewegs auf sie zu. In ihren Gedanken als Anfänger betitelt, parierte sie seinen Vorstoß, ehe sich die Klingen trafen, Juri beobachtete seine Körperhaltung und bemerkte eine Schwäche an seiner Haltung, die sie sogleich nutzte. Zunächst spielte sie sein Spielchen mit, wich einige Schritte zurück, als er damit begann, sie zurückzudrängen. Gleichzeitig hatte sie schon einen Zug nach dem anderen erahnt, ehe sie sich erneut einige Schritte bis zur Abgrenzung begab, nur um im nächsten Augenblick eine Fléche auszuführen. Als er mit dem Degen auf ihre Brust zusteuerte, rollte sie sich am Boden ab, ließ keinen unnötigen Moment unverstrichen. Ihre Waffe berührte sogleich mit voller Härte seinen Unterschenkel. Er hatte verloren. Allerdings ließ sich Tōga nicht davon beeindrucken. Mit einem charmanten Lächeln drehte er sich um, strich sich die roten Haarsträhnen zurück, die sich im schnellen, stummen Gefecht gelöst hatten. „Du bist gut… wahrlich. Ich sollte mehr Glauben in die Gerüchte legen, die sich um dich ranken…“ Ein Laut, der einem Lachen glich, begleitete die Leopardin, ehe sie sich zu ihm umdrehte und den Gesichtsschutz entfernte. Ihre rotblonden Locken fielen ihr ins schmale Gesicht, rahmten es ein und verliehen ihr den Ausdruck einer Porzellanpuppe. Der junge Mann zog eine Augenbraue hoch. „Von solch einer Schönheit geschlagen zu werden, kommt mir beinahe vor wie ein Sieg auf ganzer Linie…“, murmelte er, als er einen leicht verlegenen Blick aus ihren grün-blauen Augen erhaschte, der sich sobald wieder in pure Angriffslust und Unnahbarkeit wandelte. „NÄCHSTER!“ „Du willst mich so schnell loswerden? Wie schade…“ „Bist du hergekommen, um zu kämpfen oder zu reden?“, spie sie ihm förmlich entgegen, richtete ihren Degen an seine Brust. Tōga hielt abwehrend die Hände hoch, während er sich von ihr ins Abseits drängen ließ. „Um ehrlich zu sein – beides.“ Ihr irritierter Blick amüsierte ihn. Schnell drehte sie ihren Kopf in die Menge von Fechtern und Schülern. „Macht bis zum ende des Trainings alleine weiter!“, ihre eisige Stimme warf sich in den Raum, ließ einige der Fechter kurz zusammenzucken, ehe sie sich im nächsten Moment zurecht machten, um ihre Übungen fortzuführen. Juri folgte ihm schweigend, legte den Degen sorgsam ab, ebenso wie die Maske. Er schritt langsam voran, führte die Mittelschülerin zu einem Bereich, den sie noch nie zuvor betreten hatte. Eine riesige Allee führte zu den Gebäuden der Oberstufe, man sah es der Leopardin zwar nicht an, aber im innersten war sie immens beeindruckt von der Schönheit dieses Platzes. Tōga jedoch blieb nicht stehen, führte sie immer weiter bis zu einem abgelegenen Platz, der zu einem Park mit Garten führte. Als Juri die unzähligen Rosen erblickte, die den Pfad zu einem Gewächshaus einsäumten, überkam sie ein Gefühl von Sehnsucht. Sie kniete sich kurz hin, betrachtete einige der Blumen aus der Nähe, ehe ihre langen, schlanken Finger wie aus einem unkontrollierbaren Reflex über die Blütenblätter einer orangefarbenen Rose glitten. Die Erinnerung ließ sie nicht los, auch nicht nach einem Monat. Die Schülerin wurde von Tōga akribisch genau beobachtet, sein Schmunzeln verriet seine Gedanken. „Also steckt in der unbezähmbaren Leopardin auch ein schönes Herz und der Sinn für die Ästhetik des Lebens?“ Juri zuckte zusammen, als sie seine Worte vernahm und baute sich vor ihm auf. Sie schwieg, doch in ihren Augen glomm ein Funke, der jederzeit in einen Brand übergehen konnte. Sein Blick traf amüsiert auf ihren. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Verzeih mir…“, witzelte er, charmant im Unterton, doch herausfordernd in Mimik und Gestik, als er seine Hand auf ihre Schulter legte. „Fass mich nicht an!“, fauchte sie, fegte die Hand mit energischer Bestimmtheit von ihrem Körper, er leistete ihrem Befehl nur stumm die Folge. „Also. Was willst du von mir…“, fuhr sie mit eisiger Stimme fort, ehe sie sich von ihm distanzierte, die Arme vor der Brust verschränkte. Tōga musterte die Schülerin, konnte unter ihrem engen Fechtanzug die Körperformen mehr als nur erahnen. Sie war für ein Mädchen recht hoch gewachsen, die Extremitäten sehnig, muskulös. Sie war anders als die anderen Schülerinnen, belebte seinen Jagdtrieb – auch wenn dieser Fakt von seiner eigentlichen Absicht wich. „Nun… was ich von dir will?“, echotete er fragend und schmunzelte leicht, ehe sein Blick zum riesigen, majestätisch anmutenden Gewächshaus wanderte. „Ja, außer mich schamlos mit deinen Blicken auszuziehen.“, konterte sie murrend, ehe ihr Blick seinem folgte. Ein seltsames Gefühl überkam sie, als sie das Glashaus betrachtete. Soweit sie dem „Spionagedienst“ der Mittelschüler Glauben schenken konnte, war dieser Ort nur dem Schülerrat vorbehalten. Tōga setzte seinen Weg fort, weg vom Garten direkt zum gläsernen Gebäude, gefolgt von Juri die ihn misstrauisch musterte, kurz stehen blieb. „Du kannst mir ruhig folgen, immerhin bin ich der Vorsitzende…“, murmelte er, mit einer Selbstverständlichkeit, die sämtliche Alarmglocken in der Leopardin schrillen ließen. Der junge Mann war durchaus bekannt dafür, Röcken hinterher zu jagen. Aber warum ausgerechnet sie? Langsam schloss er die Türe hinter sich, ehe er Juri fixierte, die sich bewusst am Ausgang aufhielt. Er sah ihr die Angst regelrecht an und konnte sich ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen. „Was geht im Moment durch deinen hübschen Kopf, Arisugawa-san?“ Sie stieß merklich die Luft aus. „Nur eines. Ich bin sicher nicht zu deinem Vergnügen hier, Kiryū-senpai!“, spie sie ihm förmlich entgegen. Er hob seine fein geschwungenen Augenbrauen hoch und schmunzelte. „Keine Sorge. Ausnahmsweise gelüstet es mir heute nicht ‚danach’. Nein, mit dir habe ich etwas anderes vor…“, raunte er, in seine Stimme mischte sich ein gewisses Amüsement. Dann fuhr er leise fort. „Hast du in den letzten Tagen einen Brief erhalten?“ Juri nickte stumm. Allerdings hatte sie ihn nicht geöffnet, im Glauben dass im Kuvert eine halbherzige Erklärung Shioris stecken könnte, um sie noch mehr zu demütigen. „Versehen mit einem Rosensiegel?“ Wieder nur ein Nicken ihrerseits. Sein Blick hellte sich zusehends auf, ehe er in die Jackentasche seiner Uniform griff und etwas Glitzerndes hervorzog, aber noch ehe Juri es zu sehen bekam, ließ er es wieder verschwinden. „Ich schätze du hast den Brief noch nicht gelesen nicht wahr?“ Seine Stimme war sanft, als wollte er einem kleinen Kind etwas erklären. „Warum sollte ich?“, entgegnete sie etwas brüsk, allerdings überwog mehr das Interesse als die Abscheu. Mit stoischer Geste streckte Tōga seine Hand aus, bis sie den funkelnden Gegenstand gewahr. Es handelte sich um einen Ring – wie sie zuerst vermutete, der einer Studentenverbindung. Was ihr jedoch auffiel, war die Prägung eines Rosensiegels – das Symbol der Schule, das Symbol des Siegels auf dem Brief den sie erhalten hatte. „Das ist doch…“, fing sie an, doch er unterbrach sie ruhig und gefasst. „… der Ring der Duellanten. Du hast einen Brief vom Weltenende erhalten…“ „Weltenende…“, echotete Juri leise, begriff nicht, worauf er anspielte. Dennoch fühlte sie sich wie magisch zu diesem Ring hingezogen, näherte sich dem Vorsitzenden des Schülerrates, der ihr die Hand wieder entzog und sich durch das rote Haar strich. Er schmunzelte leicht. „Der Ring kann deine Wünsche erfüllen… und Wunder bewirken.“ Die Schülerin schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Gedanken, die in diesem Moment über sie hereinbrachen, wie lästige Fliegen abschütteln. „Es gibt keine Wunder!“, war das einzige, das sie harsch über ihre Lippen brachte. Sie begann sich einzumauern. Und er bemerkte es. Er zuckte leicht mit den Schultern, ehe er sich ihr näherte. „Gut. Nehmen wir an, es gäbe keine Wunder. Allerdings… bin ich mir sicher, dass tief in dir verborgen ein vergessener Wunsch vorherrscht und nur auf Erfüllung wartet. Habe ich Recht?“ Als Juri diese Worte hörte, empfand sie seine Frage wie einen Schlag in die Magengrube. Ihr Wunsch – ihr einziger Wunsch, den sie im Leben hatte – das einzige was ihr im Leben zum vollkommenen Glück fehlte. Intuitiv biss sie sich auf die Unterlippe, wollte nicht darüber sprechen. Tōga schwieg dazu, wusste dass er sich in dieser Hinsicht zurückzuhalten hatte. Eines Tages würde sie schon selbst davon erzählen. Ihr Blick glich in diesem Augenblick einem Trümmerfeld. Und auch wenn der junge Mann zu der Gattung zählte, der es liebte in Wunden zu bohren – er unterließ es bei der Schülerin. Die Rache der Leopardin war bekannt und berüchtigt. Stattdessen reichte er ihr wortlos den Ring der Duellanten, wartend auf ihre Reaktion. Ihre Augen streiften das Relikt nur kurz, ehe sie stumm nach ihm griff. Ihre Unterlippe zitterte merklich, als sie den Ring an ihren Finger steckte, langsam, bedacht, als wollte sie jeden Moment auskosten, der sich ihr darbot, sie sog die Impressionen auf wie ein Schwamm der nach essentiellem Wasser gierte. Dabei wurde sie von Toga beobachtet, der seinen Blick wiederum über ihren Körper wandern ließ, als hätte er ihr einen Verlobungsring gereicht um zu bekommen was er wollte. Kurz flackerte das Leuchtfeuer in seinen Augen, als Juri wieder den Fechthandschuh überstreifte – ganz als wäre der Duellantenring nur Nebensache geworden. „Du weißt, was dich erwartet?“, fragte er leise. Die Schülerin nickte, obwohl sie sich nicht sicher schien in diesem Augenblick. Sie wusste NICHT was sie erwarten würde. Juri war Realist. Was sollte sie sich von einem Schmuckstück erhoffen? Etwa genau dasselbe wie von dem Relikt, das sie seit Jahr und Tag um ihrem Hals trug? Lachhaft. Er fragte erneut. Ihr genervter Blick lag vernichtend auf ihm. Doch allein diese Mimik, dieser Ausbruch veranlasste ihn höchstens dazu, süffisant seine Lippen zu einem Grinsen zu verziehen. „Glaub mir. Du wirst dankbar für dieses Geschenk vom Weltenende sein.“ – „Sollte ich?“, blaffte sie mit gesenktem Kopf, aber angriffslustigen Unterton. „Niemand kann meinen Wunsch erfüllen. Nicht einmal dieser… Haufen Metall.“ Juri wandte instinktiv diese Worte an, in der Hoffnung, mehr Informationen zu erfahren, aber insbesondere deshalb, um einen Punkt in ihm zu treffen. Mit einem Mal spürte sie einen festen Griff um ihr Handgelenk sowie einen Stoß gegen ihren Körper, bis sie sich an der Glaswand wieder fand, seine Lippen auf den ihren. Wie gelähmt ließ Juri es zunächst über sich ergehen, bis ihre Sinne wieder Herr über den Verstand wurden und sie den jungen Mann angewidert von sich stieß. Hektisch wischte sie sich über den Mund, als wollte er sie durch den Kuss vergiften. Im nächsten Moment, als sich ihre Blicke kreuzten, holte sie aus und ein knallendes Geräusch ließ darauf schließen, dass sie sich mit einer Ohrfeige für seine Aktion bedankte. „TU DAS NIE WIEDER!“, spie sie ihm regelrecht entgegen, erntete von ihm nur einen amüsierten Blick. Tōga wich zwar etwas zurück, doch der Griff lastete immer noch auf ihrem Handgelenk. Er konnte sich ihrer Wut nicht mehr entziehen, die sich in den grün-blauen Augen spiegelte, ihre Angriffslust erinnerte ihn an ein ungezähmtes Raubtier. „Faszinierend…“, murmelte der junge Mann, ehe er sie langsam losließ. „Du trägst den Beinamen der Leopardin wirklich zu Recht.“ Langsam glitt seine Hand in Richtung der schmerzenden Wange, strich sich das lange rote Haar zurück. „Und jeder, der meine Grenzen missachtet, wird sie auch kennen lernen…“, raunte die Schülerin mit sophistischer Miene, ehe sie sich zur Türe des Glashauses begab. „Ach… übrigens…“, sie drehte sich kurz um, maß ihn mit eisigem Blick. „Ich weiß, dass du absichtlich gegen mich verloren hast. Sonst müsste ich an den Qualitäten des Schülerrates zweifeln… Kiryū-Senpai. “ Tōga lachte leise. „Dir kann man wohl nichts vormachen, Arisugawa-san.“ – „Nein. Und du solltest aufhören, mich mit deinen anderen Liebschaften zu vergleichen. Ich bin nicht so dumm und naiv wie sie…“ Sie schloss die Glastüre hinter sich, um in der Fechthalle nach dem Rechten zu sehen. Er beobachtete sie jedoch nur grinsend. „Ich weiß, Arisugawa-san. Ich weiß…“ Kapitel 2: Lost Eden -------------------- Es war ein Tag wie jeder andere auf dem Schulgebäude. Der azurfarbene Himmel wirkte wie gemalt in seinen schönsten Farben. Juri seufzte leise und lehnte sich gegen einen der Ahornbäume, die den Weg zum Gebäude der Senior-Highschool führte. Endlich konnte sie sich auch dazu zählen, sie hatte so lange drauf gewartet, als wäre es eine besondere Auszeichnung die man sich verbittert erkämpfen musste. Doch um ehrlich zu sein, es fühlte sich nicht anders an als sonst. Die jüngeren Schülerinnen vergötterten sie wie sonst auch immer, genauso wie sich die Klassenkameraden, aber speziell die Lehrer vor ihr hüteten. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sprunghaft an Ruhm erlangt, was nicht nur an den Landesmeisterschaften der Fechtvereine lag. Nein – daran sicher nicht. Gedankenverloren glitt ihr Blick über den funkelnden Ring an ihrem Finger, an dem auch die Erinnerung an die Begebenheit im Glashaus gebunden war. Noch immer lief es ihr kalt über den Rücken, wenn nur einen Gedanken daran verschwendete. Sie machte keinen Hehl daraus zu behaupten, dass sein Kuss grauenhaft war – und das, obwohl sie damals keinerlei Erfahrungen in dieser Hinsicht hatte. Doch mittlerweile wusste sie es besser. Führte kurze und geheime Affären mit Schülerinnen. Auch wenn ihr nach eigenen Worten nicht viel daran lag – denn es gab in ihrem Herzen nur ein Mädchen, das sie nicht vergessen konnte – so konnte man nicht behaupten, dass sie nicht um die kurzen leuchtenden Momente in ihrem Leben kämpfte. Sie trug jene Auserwählte auf Händen. Die gefährliche Leopardin zog ihre Krallen ein und ließ sich zähmen – wenn auch für kurze Zeit. Nach außen hin ließ sie es sich nicht anmerken – doch waren diese raren Momente von Zweisamkeit Balsam für ihre geschundene Seele, die von Shiori zerrissen und das Feuer von Tōga noch geschürt wurde. Der Vorsitzende des Schülerrats ließ sie zwar zufrieden nach der Begebenheit, die sich anno dazumal abgespielt hatte, allerdings nahm sie sich vor ihm in Acht. Er hatte es auf sie abgesehen. Worauf genau, wusste sie nicht. „Arisugawa-san?“ Eine bekannte Stimme riss sie aus den Gedanken. Sie wandte ihren Blick in die Richtung aus der sie die Stimme vernommen hatte und lächelte. Vor ihr stand einer der Fechtschüler, sein kurzes hellblaues Haar flatterte leicht im Wind. „Oh, Miki-kun. Du bist es.“ Er nickte kurz und erwiderte ihre Mimik, ehe er neben ihr Platz nahm. Auch die Leopardin ließ sich ins Gras sinken. „Ein wundervoller Tag heute, nicht wahr?“ Seine Stimme klang nahe an ihrem Ohr. Sie bejahte. „Vielleicht sollten wir das Training heute nach draußen verlegen…“, begann sie leise und seufzte, genoss die Sonnenstrahlen, die ihr Innerstes erwärmten. Miki schmunzelte und schloss kurz die Augen, als sie ihre Hand leicht auf seiner Schulter ablegte. „Du hast dich übrigens sehr verbessert in der letzten Zeit. Vor allem was deine Technik betrifft. Ich bin sehr beeindruckt.“, fuhr die Fechterin fort, während sie ihn sanft mit ihren grün-blauen Augen betrachtete. „Vielen Dank, Arisugawa-san!“ Juri lachte leise. „Nenn mich Juri. Wir sind doch per du.“, fügte sie schmunzelnd an ihre Worte an. Dann wanderte ihr Blick zur Schultasche des ruhigen Schülers, erkannte eine Mappe aus der einige Notenblätter ragten. Wortlos zog sie eines der Seiten hervor, akribisch betrachtend. Mit halbgeschlossenen Augen summte sie nach den Noten, die in feinsäuberlicher Handschrift verfasst worden waren. „Das ist ja ein richtiger Opus.“, stellte sie lächelnd fest. Ihre Worte bewirkten eine leichte Röte im Gesicht des Jungen, der die Tasche noch enger an seinen Körper presste. „Das ist nichts Besonderes…“, flüsterte er kaum hörbar, doch in seiner Stimme schwang ein durchaus geschmeichelter Unterton. „Es klingt sehr nach einer Liebeserklärung… für deine Freundin?“ Miki schwieg, knallrot bis zu den Ohren suchte er nach Worten, die seinen plötzlichen Ausbruch rechtfertigen sollten. Doch Juri verstand es bestens, sein Schweigen zu deuten. „Ist schon gut, Miki-kun…“ Langsam reichte sie ihm wieder das Notenblatt, das er bedächtig und schweigend entgegennahm. Achtsam strich der junge Schüler die Seite glatt, bevor er sie wieder in seine Mappe einordnete, dabei einen leicht abwesenden Eindruck machte. „Um ehrlich zu sein… ja.“, murmelte er. „Es ist so etwas wie eine… Liebeserklärung.“ Miki konnte die Röte nicht aus seinem Gesicht vertreiben, doch das Lächeln auf seinen vollen Lippen wirkte nahezu wie eine stumme Entschuldigung. Juri schmunzelte. „So?“ Sie erhob sich langsam, lehnte sich gegen den Baumstamm, ehe sie ihren Blick über das Panorama der Ohtori-Privatschule schweifen ließ. Für diesen einen Moment hatte sie sogar ihre Sorgen vergessen, wirkte regelrecht befreit. Selbst Miki schien es aufzufallen, als er sich ebenfalls vom Grund abstieß und neben Juri stand. Er betrachtete sie schweigend, eine leichte Windböe spielte mit den rotblonden Locken, die mit den leuchtenden grün-blauen Augen eine harmonische Einheit ergaben. Ihr Blick war – wie auch ihre gesamte Erscheinung – umwittert von Geheimnissen, in denen sich Wildheit wie auch Zärtlichkeit wieder finden konnten. Was Miki zur Genüge kannte, war das Feuer in ihnen, sobald sie den Degen in ihren Händen hielt. Es schien, als würde in jedem Kampf ein Teil von ihr ausbrechen, um ungezügelt zu wüten, mit jeder Finte, jedem Vorstoß. „Miki-kun?“ Ihre Stimme klang leicht amüsiert, als er irritiert seinen Kopf anhob. „Hast du etwas gesagt, Juri-san?“ die Leopardin lachte leise hinter vorgehaltener Hand. „Allerdings.“ Sie strich sich mit einer Hand die ungebändigten Locken aus dem Gesicht, ehe sie ihren Blick an ihn wandte. „Wer ist denn die Glückliche, der du dieses Lied widmest?“ Für einen Augenblick herrschte ein seltsam anmutendes Schweigen zwischen den Beiden, ehe sich der Schüler kurz räusperte. Juri sah ihn aus halbgeschlossenen Augen an und schmunzelte leicht, ehe sie sich zurücklehnte und dem Lauf der Wolken folgte. „Nun… es ist jemanden gedacht, der sicher nicht damit … gerechnet hat… an jemanden, der meine ganze Bewunderung und meinen Respekt verdient…“, seine Stimme klang leise, aber bestimmt, begleitet von leichtem Wehmut. „Das habe ich mir erwartet…“, erwiderte sie leise, ehe sie sich vom Baumstamm abstieß und streckte. „Wir sehen uns beim Training! Wenn du etwas früher kommst, können wir noch die Lektionen vom letzten Mal durchgehen…“ Miki nickte leicht. „Ich werde es versuchen, Juri-san!“ Mit katzenhaftem Gang entfernte sich die Leopardin vom Parkgelände, wurde dabei stumm vom Schüler beobachtet, der sich wieder im Gras niederließ. Bis zum Fechttraining hatte der Junge keinen Unterricht, trotzdem klemmte er seine Schultasche unter den Arm. Im Klavierraum war niemand anwesend - Grund genug, um an seinem Lied zu feilen. Leise und monoton klang das Geräusch des Taktanzeigers im Musikraum, als Miki einen kurzen Blick aus dem Fenster wagte. Er wusste nicht, woran es lag, aber der regelmäßige Ton vermittelte ihm ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit. Er kannte es ewig, sehnte sich nach diesem Rhythmus der ihm ruhige Nächte und einen klaren Kopf bewahrte. Der junge Schüler strich abwesend über die Tasten des Klaviers, schlug den Kammerton an. „Seltsam… ich dachte, es sei letzte Woche gestimmt worden…“, murmelte der Junge, als er das schnarrende, wenn nicht schon kratzige Überbleibsel eines ehemals wunderbaren Klanges in seinen Ohren vernahm. Wieder und wieder streifte sein Finger die Taste, in der Hoffnung, dass dieses Geräusch nur Zufall sein konnte, immerhin knarrte der Stuhl manches Mal, wenn Miki ihn zurechtrückte, oder eine der Schülerinnen warf kleine Kiesel an das Fenster des Musikzimmers, um so seine kurze Aufmerksamkeit zu erregen. „Das ist in der Tat seltsam…“, wiederholte er in Gedanken vertieft. Immerhin hatte er gestern hier geübt, und alles war… normal. Keine Misstöne. Kein störendes Geräusch. Langsam hob Miki seinen Kopf an und strich einige störende Strähnen hellblauen Haares beiseite. Unruhe erfasste ihn. Und nicht einmal das leise, klackende Geräusch wollte ihn wieder zur Ruhe leiten, als er seinen Blick auf den Taktanzeiger lenkte. Wortlos verharrte er vor dem Klavier und atmete tief durch, als sich die Türe leise öffnete und ein Mädchen über die Schwelle trat. Hastig hob er seinen Kopf an. Es war selten genug geworden, dass seine Schwester ihm einen Besuch abstattete, und just in diesem Moment wusste der Junge auch nicht, wie er sich verhalten sollte. Deswegen schob er den Stuhl beiseite und erhob sich schweigend, ehe er die Notenblätter einpackte. Ihr kühler Blick streifte ihn, erwärmte sich für einen kurzen Moment. „Welch eine Überraschung, Kozue…“, murmelte er leise. „Was treibt dich seit neuestem in das Musikzimmer?“ Sie lächelte nur kokettierend, ehe sie die Krawatte ihrer Uniform richtete, ihre dunklen Augen auf ihn gerichtet. „Das übliche, Bruder… das übliche.“, antwortete sie sanft, ehe sich ihre Finger auf seiner Schulter niederließen. „Das… Übliche…“, wiederholte er tonlos, und verstand zunächst nicht. Als sein fragender Blick den ihren traf, verhärteten sich die Gesichtszüge der Schülerin, wie so oft. „Das Übliche.“, wiederholte sie knapp. „Es ist besser, wenn ich nicht darauf eingehe.“ Kozue wandelte mit selbstsicherem Gang zum Klavier und ließ sich auf dem Stuhl nieder, schlug die Beine übereinander, ehe sie sich lustlos auf das Musikinstrument sinken ließ. Das Geräusch der Tasten, die sie dabei berührte, klang so grauenhaft und schauerlich, als erlitt das Klavier unheimliche Qualen, wenn sie sich ihm näherte. In Miki begann sich alles zusammen zu ziehen. „Das solltest du nicht tun…“, flüsterte er. „Du verstimmst das Klavier.“ Überrascht zog Kozue ihre Augenbrauen hoch, ehe sie in ein gedämpftes Kichern ausbrach. „Ach, Mikey. Dann lässt du es halt wieder stimmen! Lass mir doch das kurze Vergnügen, wenn ich sonst schon keines habe!“ „Vergnügen…“ Das Wort hallte recht unangenehm in seinem Kopf und manifestierte sich in einer Vorstellung, die ihm alles andere als gefiel. Er sah Kozue auf dem Flügel liegen, während sich Mitschüler Teile ihrer Unschuld raubten. Und es waren Mitschüler, die Miki so gar nicht schätzte, genauso genommen hasste er diese stupide Truppe, die ihm – zumindest intellektuell – weit unterlegen war. Er hasste die Vorstellung, dass seine Schwester sich von eben diesen Leuten beschmutzen ließ. Sie war für ihn der Glanz in seinem jungen Leben. Und niemand Anderer hatte das Recht, diesen Glanz für sich zu beanspruchen. Ein Wink von Kozues Hand ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. „Ich erwarte noch… jemanden.“, säuselte sie. „Es wäre besser, wenn du gehst, Mikey-kun…“ Seine Hände zitterten unmerklich. Miki mochte es nicht, wenn Kozue so mit ihm sprach, als wäre er ein Kleinkind. Die Art und Weise, wie sie seinen Spitznamen betonte, zeugte davon, dass sie ihn nicht ernst nahm. Doch was konnte das sensible Genie gegen ein wildes Tier, wie sie sich immer nannte, ausrichten? Er senkte seinen Kopf, ehe er die Notenblätter an sich nahm. Als er eine männliche, schemenhafte Figur im Türrahmen erkannte, beschleunigte Miki seine Schritte, und er bemerkte nicht, wie ein Foto bei seinem Aufbruch aus der Tasche fiel. Doch Kozues wachem Blick entging nichts, zielsicher fing sie es im Flug auf, ehe sie ihre tiefblauen Augen darauf richtete. Ein Schmunzeln huschte über ihre Lippen. Auf dem leicht vergilbten Zelluloid fand sie ein Fragment ihrer Kindheit an, den sonnendurchfluteten Garten, an einem warmen Sommertag. Sie konnte sich dieses Szenario ins Gedächtnis rufen und fand sich wieder an diesem Ort, der eine heile Kindheit versprach. Um sie herum tat sich die Geräuschkulisse von damals auf, das Zwitschern der Vögel, die ihn den Baumkronen ihre Lider darbrachten, das Zirpen der Grillen, ab und zu mischte sich das helle Miauen der Nachbarskatze in das Geschehen. Das Gras in diesem Garten war so grün, dass Kozue sich ernsthaft fragte, ob es an ihrer Fantasie lag, die mit ihr durchging oder sie seitdem nie wieder etwas erblickt hatte, das die Intensität dieser Farbe noch überschreiten konnte. Die Grashalme wiegten sich sanft im Wind, wie auch die Kelche der unzähligen Blumen und die Schmetterlinge, die sich mit der Thermik trieben ließen. Ja, dieser Ort war für sie damals wie der Garten Eden. Dort hatte sie immer mit ihrem Bruder am Flügel gesessen und sich leiten lassen. Das Mädchen spielte schlecht. Doch solange Miki an ihrer Seite war, störte sie sich nicht daran. Sie liebte das Klavier, den Garten, das riesige Haus. Sie liebte ihren sensibel anmutenden, hochbegabten Bruder, der sie genauso liebte, wenn nicht noch mehr. Doch dieser Garten war tot. Er war nur Erinnerung, das Gras war mittlerweile fahl geworden und ragte bedrohlich und ungestüm aus dem Boden, aus Eden war eine Wildnis geworden. Die Gartenmöbel waren verwittert und Moos hatte seinen Platz eingenommen. Das Klavier stand nicht mehr im Garten, sondern im Wohnzimmer. Dieser Ort hatte alles an Anmut und Grazie verloren, den er früher einst besessen hatte. Kozue seufzte leise. Hatte denn alles in ihrem Leben den Glanz von Eden verloren? War sie gleich der ausgestoßenen Eva, die aus dem Paradies verbannt worden war? Sie nahm nicht mehr am Leben ihres Bruders teil, denn vielleicht war es das Beste für ihn. Doch war es auch gut für Kozue selbst? Sie konnte diese Frage beim besten Willen nicht beantworten. Vielleicht hatte sie auch Angst vor der Wahrheit – vor dem, was wirklich war und wirklich geschehen ist – ein Erlebnis, eine Tatsache von solcher Intensität, dass die Schülerin aufhörte, am Flügel zu spielen und alles verabscheute, was ihr Bruder mit Herzblut liebte und verteidigte. „Kozue?“ Kurz lenkte sie ihren Blick in die Richtung des Jungen, der sie ansprach. Schlagartig veränderte sich ihr Wesen, wurde wieder hineingezwängt in die Rolle der unberechenbaren Hure, die sich unsanft auf das Klavier drängen ließ. Ungeduldig stießen seine Hüften an ihre, veranlassten sie dazu laut die Luft auszustoßen, ehe sie ihre grazilen Arme um den Körper über ihr schlang und seine Lippen mit ihren zu verschließen. Sie selbst hatte sich in die Rolle gepresst. Ob sie es genoss, war eine andere Frage. Doch sie tat es einfach, war in ihrem Handeln gekonnt, erschreckend mechanisch. Kozue schloss ihre Augen, als er sich an ihren Körper wagte und nahm, was er begehrte. Nach ihren Wünschen fragte er nicht, das tat niemand. Sie war einfach nur eine Puppe, die umhergereicht wurde. Und doch hatte sie dieses kleine, befreite Lächeln auf ihren Lippen, als sie einen stechenden Schmerz in ihrem Unterleib spürte. Sie lächelte, als sich erneut der Garten vor ihr auftat und Schmetterlinge sich auf den Klaviertasten niederließen… Kapitel 3: Cursed Adolescence ----------------------------- Sirrend trafen die Degen aufeinander. Ausfallschritt. Sie entging nur mit Mühe seiner Klinge, ehe sie sich einige Schritte ins Abseits bewegte, weg von seiner gefürchteten Schnelligkeit. Juri spürte, dass sie ihm heute unterlegen sein würde, so wie jedes Mal. Verbissen trainierte sie, aus nur einem Grund – eines Tages besser zu sein als ihr Mentor. Keuchend stieß sie sich vom Grund ab, holte aus. Nur knapp verfehlte sie seine Schulter, ehe der junge Mann zum Gegenangriff startete, sie vor sich hertrieb wie einen Hasen bei der Hatz. Der Schülerin stand der Schweiß auf der Stirn, doch konnte sie ihn wegen des Gesichtsschutzes nicht wegwischen. Ihre Muskeln waren stark angespannt, stoßweise ging ihr Atem, während in ihrem Kopf sämtliche Strategien, die sie sich zurecht gelegt hatte, durch seine Praxis vernichtet wurden. Jener unachtsame Moment hatte ausgereicht, ehe sie den Degen auf ihrem Brustbein spürte. Sie hatte verloren. Schon wieder. Wie konnte das sein, Juri hatte, besonders in der letzten Zeit, trainiert wie eine Besessene, und doch durchschaute er sie jedes Mal. „Du hast deine Deckung offen gelassen, Arisugawa… du musst mehr darauf achten.“ Die Stimme ihres Mentors klang dumpf durch die Maske, ehe er sie sich vom Gesicht zog, azurfarbenes Haar quoll hervor, rahmte sein schlankes Gesicht ein, während die hellere Haarsträhne sich über seine Augen legte. „Ich weiß…“, raunte sie leise, ehe sie es ihm gleichtat, ihre rotblonden Locken bildeten den feurigen Kontrast zu seiner kühlen, noblen Erscheinung. „Ich möchte eine Revanche, Tsuchiya-senpai!“, fuhr sie mit fester Stimme fort, doch der junge Mann lachte nur leise, ehe er sich seiner Fechthandschuhe entledigte und sich regelrecht auf die Bank fallen ließ, seinen Blick auf den Horizont gerichtet, den Stimmen der Seevögel lauschend. „Heute nicht mehr. Du bist nicht die Einzige, die sich hier verausgabt…“ – „Ruka!“ Wieder lachte er nur, ehe sich seine blauen Augen sanft auf die Konfrontation der smaragdgrünen Leuchtfeuer vorbereiteten. „Ja. Wir reden hier vom Training, nicht von Schinderei. Es bringt dir und mir genauso wenig, wenn ich dich wie einen Esel am Karren auspeitsche.“ Juri schwieg, ehe auch sie die Fechthandschuhe auszog, neben ihm Platz nahm. „Warum musst du nur so gut sein…“, murmelte sie, senkte den Blick zum Boden, als eine Möwe kreischend in die Fluten eintauchte. „Wenn ich dein Mentor bin, muss ich gut sein. Aber es wird nicht mehr lange dauern, Arisugawa…“, entgegnete er schmunzelnd, ehe sich seine Hand kollegial auf ihre Schulter legte. Zumindest für sie schein es kollegial zu sein, denn sein Blick änderte sich zusehends, als sie ihm nach einer Weile auswich. „Das sagst du doch immer, Ruka. Es scheint, als würde ich auf der Stelle bleiben.“ – „Juri… du weißt, dass das nicht stimmt…“, unterbrach er sie mit sanfter Stimme, und ließ seinen Kopf in den Nacken sinken. „Du hast dich, speziell in den letzten Monaten stark verbessert. Du selbst wirst es nicht wahrnehmen, aber ich tue es. Es fällt schwer, gegen dich zu gewinnen. Das ist auch der Grund, warum ich dich zum Vizepräsidenten des Fechtclubs ernannt habe. Weißt du…“, dabei schloss er langsam seine Augen, „… du bist schnell geworden, deine Kraft reicht beinahe an meine heran. Was dein Problem ist…“, dabei legte er seine Finger auf ihr Kinn, zwang sie dazu, ihm in die Augen zu sehen, „liegt einfach daran, dass du noch etwas unachtsam zu sein scheinst. Unkonzentriert. Kannst du mir folgen?“ Die Leopardin nickte leicht. Er hatte leicht reden. Ihm war ja nicht die Bürde des Rosensiegels auferlegt worden, er musste nicht damit kämpfen, dass seine Freundin mit dem besten Freund, sprichwörtlich gesagt „durchgebrannt“ war. Er hatte keine Probleme. Ruka schien zu bemerken, dass ihre Gedanken rotierten. „Wenn… du Schwierigkeiten hast, kannst du mit mir darüber reden, Arisugawa…“, murmelte er, worauf sie sich ertappt fühlte und sich dafür hasste, in jenem Moment diese verfluchte Röte in ihrem Gesicht zu haben. Wie es ihre sophistische, wenn auch hitzige Natur verlangte, schüttelte sie sachte den Kopf. „Es… geht schon.“ – „Nun…“, entgegnete ihr Mentor schmunzelnd. „Wenn es dich beim Training schon so dermaßen beeinträchtigt, habe ich ja fast das Recht zu erfahren, was los ist. Also?“ Juris Hände pressten sich gegen ihre Oberschenkel, sie musste sich beherrschen. „Ich habe nein gesagt, Senpai!“ – „Du hast nur gesagt, es geht schon. Oder sollte ich mich doch verhört haben?“, feixte Ruka und schmunzelte nur, als ihr verärgerter Blick auf ihn traf. „Das finde ich NICHT komisch, Senpai!“, blaffte sie, ehe sie gedachte, sich zu erheben und das Feld zu verlassen. „In der Tat, Juri. Es IST nicht komisch. Also raus mit der Sprache…“ Seine Stimme klang in jenem Moment recht unterkühlt, als er sie am Arm festhielt, und sie so wieder auf die Bank holte. Ihre Augen glühten, als sie ihn fixierte. „Warum sollte ich??“ – „Vielleicht, weil es dir auch einmal im Leben gut täte, deinen Gedankenmüll zu entrümpeln.“, entgegnete er sachlich, hatte seine Mühe, ihren Arm weiterhin fest zu halten. Mit jedem Wort mehr, das er sprach, tobte in ihr ein Dämon, der ihre Kraft zu steigern schien. „WAS WEISST DU SCHON!“ Schließlich ließ er sie los, sein Blick war eisig. „Gar nichts! Das ist es ja! Ich weiß GAR NICHTS über dich! Bist du nun zufrieden? Wie soll ich dich trainieren, wenn ich deine Schwächen und deine Einstellung mir gegenüber nicht kenne? Wie sollst du stärker werden, wenn du an alten Problemen hängst? Kannst du mir das verraten?“ Sie hatte ihm die ganze Zeit über still, mit weit geöffneten Augen, zugehört. Und verdammt, er hatte ja Recht. Doch was sollte sie schon großartig tun? Sie konnte ihm nicht… recht geben. Sie wollte sich ihm nicht ausliefern, geschweige denn wollte sie niemanden ihre Last aufbürden. Es war IHRE Angelegenheit. Und doch… sie war getroffen von dem Gefecht seiner Worte, die sie, gleich seinem Degen, nicht abwehren konnte. „Ich…“ – „Ja?“ Juri kniff ihre Augen zusammen, während sie ein schier lautloses „Ich hasse dich…“, über die Lippen brachte. „Das ist meine Juri…“, gab er nach einer Weile schmunzelnd von sich, als nach ihren Worten für einige Momente eisiges Schweigen über die Fechter hereinbrach. „Was willst du damit sagen…“, kam es schroff von ihr. „Nur eines…“, entgegnete er charmant, eine Eigenschaft die Juri schon in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Er drehte sich zu ihr, seine große Hand mit den langen, schlanken Fingern lag federleicht auf ihrer Wange – er konnte die Hitze ihrer Haut spüren, die Hitze ihres Körpers. Er schwieg noch, als er sich ihr langsam näherte, sein Schatten lag auf ihrer blassen Haut, als die Sonne langsam in die blutroten Wolken eintauchte. „…Ich hasse dich auch, … Arisugawa…“, hauchte er, ehe sich seine Lippen auf ihren niederließen, langsam genug, um die Zeit anhalten zu können, doch zu schnell für Juri, um zu realisieren, was in jenem Moment geschah. Sie verstand die Welt nicht mehr. Wieso? Warum tat er ihr das an? Ihr Herz raste, als wollte es aus ihrem Brustkorb brechen, in jenem Moment hatte er ihr sprichwörtlich die Luft geraubt und ihr gleichzeitig die Flügel angeboten, um sich zu lösen, auch wenn es sich für die Schülerin anfühlte, als würde sie ins Bodenlose fallen. Juri war mit der gesamten Situation überfordert, schaffte es nicht aus seiner unsichtbaren Fessel zu lösen. Der Kuss war das einzige, was sie in seiner Gefangenschaft hielt, er benötigte keine Ketten, er musste sie nicht festhalten. Nein. Allein diese Geste reichte komplett aus, um sie zu entwaffnen und sich wie ein elender Verlierer zu fühlen, auch wenn er – und diesen Fakt realisierte sie nun absolut nicht – sicherlich andere Motive hatte, als sie durch jene Art und Weise bloßzustellen. Ruka verlagerte langsam sein Gesicht auf die weichen, sanft geschwungenen Lippen des Mädchens, die Augen geschlossen glaubte er, all ihr Leid, ihre Wut und ihre geschundene Seele schmecken zu können. Es war, durchaus, eine interessante Kombination. Er ging bedacht mit ihr vor, so vorsichtig, wie er sie nie in einem Duell behandelt hätte. Doch dieses Duell war ungleich zu denen, die Beide bisher geführt hatten, er hatte hier den entscheidenden Vorteil ein Mann zu sein, und er benötigte auch keinen Degen. Er empfand es fast schon – bedauerlich – sie auf diese Art und Weise verlieren zu sehen, doch tat er es nicht aus egoistischen Motiven. Vielleicht doch? Was war er doch nur für ein Schuft, dachte er sich leicht amüsiert, als er seine Lippen langsam, schier zaghaft zu lösen begann. Juri hatte sofort gemerkt, wann er seinen schwachen Moment hatte. Sofort riss sie sich von ihm los, zollte ihm einen höchst angewiderten Blick und schnappte gierig nach Luft. Ruka lächelte nur, was die Schülerin zutiefst irritierte. „Du… du bist so ein ekelhaftes Individuum!“- „Dafür dass du es so schrecklich fandest, hast du ja sehr lange durchgehalten…“, gab er spitzfindig von sich, als seine Hand durch ihre rotblonden Locken glitt. Sie stieß seine Hand von sich. „FASS MICH NICHT AN!“, spie sie ihm entgegen, ihr Körper zitterte. Ihr Mentor lachte nur, Juri empfand seine Aktionen als tiefsten Hohn, den er ihr gegenüber zollte. Er hatte den Boden überspannt. Eine laut schallende Ohrfeige erbrachte den ihr erhofften Effekt und sein dämliches Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Ruka schwieg. Fasste sich an die gerötete Stelle. Er hatte sie wohl unterschätzt, die Folgen sie zu beleidigen, waren wohl größer als angenommen. Er wollte etwas sagen, doch Juri kam ihm mit einem wutentbrannten „ARSCHLOCH!“ zuvor, ehe sie sich von der Bank aufrappelte, ihre Sachen packte und blind vor Wut und angestauten Tränen davon stolperte. Ihr Mentor blieb alleine zurück. Er befand es nicht als sonderlich nötig ihr zu folgen, er war zwar kein Feigling aber er hütete sich vor ihren weiteren Reaktionen. Dabei seufzte er tief. Gut. Es war nicht die feine Art, wie er vorgegangen war. Doch vielleicht würde sie verstehen. Sie würde mit ihm reden. Spätestens dann, wenn ihr die Gefühlsflut zuviel geworden war. Dabei fasste er sich erneut an die getroffene Stelle, die sich geschwollen anfühlte. In der Tat, Juris Kräfte waren immens geworden. Er hatte sie heimlich im Training beobachtet, wenn sie die Dummies mit ihrem Degen geschunden hatte, wenn sie sich völlig entkräftet gegen die Wand lehnte. Juris Ehrgeiz war Ruka nicht entgangen. Doch trainierte sie sicher nicht nur so hart, um ihn eines Tages zu schlagen, nicht nur die Tatsache, dass er ihr den Posten als Zweittrainerin nahe gelegt hatte. Nein, da musste doch noch ein anderes Motiv für ihren sprunghaften Fortschritt verantwortlich sein, etwas worüber er nicht Bescheid wusste. Ruka wunderte sich auch, als er einen unbestimmten Punkt am Horizont fixierte und den blutigen Himmel betrachtete, die Sonne nur noch als kleiner, flirrender Fleck zwischen Himmel und Meer erkenntlich. Sie hatte sich ihm früher immer anvertraut, allerdings war das Verhältnis zwischen beiden seit einem Jahr… er wusste nicht, wie er es umschreiben sollte, angespannt. Schlussendlich erhob sich auch der junge Mann, klemmte sich den Degen unter den Arm und kehrte zurück, um seine Utensilien zu verstauen. Juri hatte sich auf schnellstem Wege in ihr Zimmer geflüchtet, wo sie die Türe mit beachtlichem Knall zuschlug und sich, im nächsten Reflex aufs Bett warf. Ihr Gesicht brannte von den Tränen, als würden sie ihre Haut verätzen. Ein einziger, gequälter Laut verirrte sich über ihre Lippen. Ruka… Touga. Irgendwie schienen alle Männer ein heuchlerisches Pack zu sein, die Hand in Hand arbeiteten. Sie konnte es nicht verkraften, dachte sie doch immer von Ruka dass er der Einzige sei, der nicht hinter ihr her war. Seine Aktion war eindeutig. Die Schülerin konnte jedoch nicht einordnen, was er damit bezweckt hatte, außer um sie zu demütigen. Sie erhob sich sichtlich kraftlos aus ihrem Bett, streifte auf dem Weg zum Bad ihre Kleider gedankenverloren ab. Sie sehnte sich danach, ihren Körper rein zu waschen von all dem, was geschehen war. Mit einer einzigen Bewegung drehte sie das Wasser in der dusche auf, seufzte laut, als die ersten Tropfen in ihr Gesicht schlugen, lehnte sich an die kühle Fliesenwand. Obwohl das Wasser heiß war und der Dampf an den Fliesen transpirierte, fühlte sich Juri als würde sie jeden Moment erfrieren, Gänsehaut zog sich über ihren Körper. Warum nur hatte Ruka das getan? Er war doch sonst nicht so… speziell ihr gegenüber hatte er sich nie so verhalten. Hektisch schöpfte sie mit ihren Handflächen das Wasser das auf sie herabprasselte, wusch sich das Gesicht, ihren Mund, als hätte sie sich von der unsichtbaren Fessel auf ihnen auf diese Art und Weise befreien können. Bitterkeit blieb. Ja… Männer waren wohl allesamt gleich, wenn es ihnen um das Eine ging. Sie waren Wölfe im Schafspelz. Und Tsuchiya machte keine Ausnahme mehr. Alles war so anders geworden. Sie war 14. In dem Alter schien alles zu entgleiten, was einst große Bedeutungen hatte. Es war an der Zeit aus der Hülle des Kindes zu schlüpfen, sowohl geistig, nicht nur körperlich. Sie schien begehrenswert geworden zu sein, ohne es selbst zu bemerken. Und das – sie sah es hiermit ein – lag nicht nur am Rosensiegel oder an ihrer Position, die sie nun bestritt. Nein, vielmehr lag es an ihrer natürlichen Schönheit, die sich nun, gleich einer Rose, gnadenlos entfaltete. Mit leerem Blick betrachtete sie ihren sehnigen, trainierten Körper, dem sich die Weiblichkeit langsam offenbarte und ihr die Metamorphose gleich eines Schmetterlings darbot. Juri war früher schon, dem Mund ihrer Eltern nach zu urteilen, ein „bezauberndes und äußerst hübsches Kind“ gewesen, das zu einer Lady heranwachsen sollte. Dies war mitunter ein Grund, warum sie auf das Ohtori-College entsandt worden war, um ihr eine vorzügliche Bildung und Erziehung bieten zu können. Und sie war auch dankbar dafür, auch wenn ein Defizit darin bestand, dass sie ihre Eltern kaum sah. Sie hatte sich daran gewöhnt. Schneller, als ihr lieb zu sein schien, Trauer in dieser Hinsicht kannte sie nicht, wusste das Mädchen doch, dass ihre Eltern es nur gut mit ihr gemeint hatten. Allerdings wünschte sie sich in jenem Moment, dass ihre Mutter, oder ihre ältere Schwester nun hier wären. Es gab Dinge, die man nur mit dem eigenen Fleisch und Blut besprechen konnte – was Männer betraf. Was Shiori anging… sie wollte es nicht über ihre Lippen bringen, geschweige denn denken. Es war mehr. Eindeutig mehr. Entkräftet rutschte sie an der Fliesenwand entlang, kauerte sich am Boden zusammen, während warme Fluten sie umschmeichelten. Gefühle, die sie früher nicht einmal interessiert hatten, brachen über ihrem Kopf zusammen und ließen sich schwer auf ihrem Herzen nieder, wie ein unvollständiges, ein zerbrochenes Mosaik. Durfte sie solche Dinge… empfinden? Die Schülerin wusste es nicht. Doch mit wem hätte sie schon darüber reden können? Nicht einmal mit ihrer Schwester. Ihr war nur bekannt, dass solche Empfindungen unangebracht waren in der Gesellschaft. Es belastete sie immens. Und zu diesem Problem kam auch noch dieser Idiot hinzu. Idiot… so hatte sie ihn nie genannt, wagte es nicht. Immer hatte sie Respekt vor ihrem Trainer, ihrem Idol gezollt. Dass sie ihm unflätige Worte an den Kopf geworfen hatte, tat ihr in jenem Moment leid. Auch wenn er es nicht anders verdient hatte. Was hätte Juri großartig machen können? Es über sich ergehen lassen? Sich freuen an seiner „Liebesbekundung“, die ihr gleichzeitig eine solche Schmach und solchen Schmerz beschert hatte? Es war kein Geheimnis, dass sie Rukas liebste Schülerin war. Er hatte ihr Talent schon früh entdeckt und gefordert wo er nur konnte, war stets für ihre Sorgen da. Ja, das war damals, sie hatte früh mit dem Unterricht begonnen, war eine der Jüngsten, die er unter die Fittiche genommen hatte. Dabei war er selbst noch ein Kind. Damals war die Welt noch in Ordnung. Da gab es keine Gefühle. Dinge waren nun einmal so, wie sie sein mussten. Doch heute konnte sie sich nicht mehr damit abfinden. Dinge mussten nicht so sein, wie sie waren. Es passte mit einem Mal nicht mehr in ihr mittlerweile rationalisierendes Wesen. Die Welt war um sie herum irrational geworden – und es fiel ihr schwer, diesem neuen Konzept zu folgen. „Scheiß Pubertät…“, murmelte sie, ehe sie den Kopf schwerfällig auf ihren Knien bettete… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)