Die Dunkelheit von Deepdream (Eine Altraverse) ================================================================================ Kapitel 3: Believe ------------------ <><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><> [DARKNESS] <><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><> Eine Deepi-Produktion. Korrigiert mithilfe Kiavalous. Ohne jedwede Rechte in den Charakteren. <><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><> Kapitel 3 - Believe <><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><><> Reap your life, veiled in shadow… Recognize, faces of the crucified... I can hear their screams tonight, ever haunting me... By Disturbed ... Noch immer spülte der Regen schwer über die Dächer hinweg; über die Regenrinnen flossen die Wasserströme bereits hinüber und klatschten auf die Gehwege und Straßen darunter. Allmählich kleidete sich der Himmel in sein Tagesgewand, ein schieferfarbenes Grau. So wie sich durch die dicken Wolkenballungen am Horizont die Morgendämmerung erahnen ließ, so glitt Bodennebel schwerfällig durch die verkommenen Gassen, in denen umgestürzte Mülltonnen und anderweitiger Unrat den Boden schmückten. Gleichermaßen zog dieser Nebel über den schwarzen Asphalt, der noch verwaist daliegenden Nebenstraßen, sowie über die Hauptstraßen zu deren Seiten die summenden Laternenpfähle Wache standen. Trotz des regen Niederschlags herrschte eine gespenstische Stille. Bis auf die wenigen, aufgescheuchten Katzen ließ sich zu dieser frühen Morgenstunde noch niemand außerhalb der Gebäudefassaden blicken. Der nasse Straßenbelag spiegelte die gigantische dunkle Wolkenwand über ihm. Einsame Schritte hallten von den hohen Abgrenzungsmauern der besser Situierten wider. Schwere Natursteinmauern wechselten sich mit welchen aus Beton und Ziegelsteinen ab. Obenauf saßen zugespitzte Verjüngungen aus Edelstahl. Sie sollten den Anschein erwecken der Zierde halber dort montiert worden zu sein. Dabei dienten sie jedoch nur dem Schutz. Mauern gegen den tötenden Nebel, die monströsen Schatten und die unheimlichen Geräusche. Amüsiert schüttelte er den Kopf und wandte seinen Blick davon ab. Es war lächerlich. Erwarteten diese reichen Spinner wirklich, dass sich eine dieser Kreaturen davon abhalten ließe? Glaubten sie es tatsächlich oder wussten sie selbst gut genug, dass sie sich nur belogen? Eigentlich könnte es ihm ja egal sein, was die groß verdienenden Casino- und Nachtclubbesitzer den naiven und lebensmüden Nachtschwärmern aus den Taschen zogen und dem eigentlichen Personal vorenthielten. Das Leben schrieb seine eigenen Regeln. Die Reichen nahmen von den Armen, der Mond nährte sich am Licht der Sonne und die Vampire füllten sich die Mägen mit dem warmen Blut der Sterblichen. Mochte alles ein wenig melodramatisch klingen, was im Grunde eher Tatewakis Sparte war, aber jeder hatte einmal einen verträumten Tag. Ein schiefes Grinsen schlich auf blassrote Lippen. Schwarzes, üppiges Haar hing schwer wie nass über seinen Augen, fast so wie ein verschlissener Baldachin. Ein spitzer Eckzahn funkelte kurz im Schein einer Straßenlaterne auf. Derweil hing der Mantel aus schwerem Leder knapp über dem rauen Grund. Die Ärmel waren fasrig, doch akkurat abgetrennt worden. Das Kleidungsstück glänzte und war mit Feuchtigkeit vollgesogen. Schwarze Schnürstiefel traten in Lachen, auf deren Oberfläche sich die auftreffenden Regentropfen abzeichneten und nachtschwarze Stoffhosen klebten an kräftigen Oberschenkeln, während sie in Knöchelhöhe mit Lederriemen befestigt waren. Ein vermeintlich ärmelloses Hemd ohne jedwede Aufdrucke wurde von den offenen Teilen des Mantels umflattert. Weiße lange Narben zogen sich wie Schlangen über seinen rechten Bizeps bis hin zum Unterarm. Regentropfen zitterten auf der Haut wie Tau auf im Wind schwingenden Grashalmen. Unbekümmert schritt er durch die Regenwände hindurch, ließ seine Arme entspannt parallel zum Torso baumeln und grinste auf seine eigene Art den weißlichen Bodennebel an. Wie viele Menschen hatten wohl schon einen der ihren durch eine dieser Bestien sterben sehen? Verbitterung flammte in seinen Augen auf, doch ehe sie sich zu Zorn wandeln konnte, wurde sie zurückgedrängt. Er hatte viele qualvoll dem Tode erliegen sehen. Grausam verrenkte Glieder, die die Wesen ohne Rücksicht gebrochen oder verdreht hatten, um an das kostbare Lebenselixier zu gelangen. Und noch weitaus schlimmer waren die Fälle, in denen die Opfer noch am Leben waren. Entsetzlich verstümmelt, gebissen und somit dem Tode durch die Hand des Ordens der Morgenröte geweiht. Er war einer ihrer Jäger, ein Akolyth. Der Klang seiner Schuhe verhallte. Verschwand ohne Echo im Teppich des Nebels und dem Stakkato des Regens. Sein wachsamer Blick lag auf dem übermannshohen Zweiflügeltor vor ihm. Vogelzwitschern wurde durch den Regen verzerrt zu seinen Ohren getragen, kleine und klare Rinnsale gossen wie Miniaturwasserfälle von dem mit dunkelviolettfarbenen Dachziegeln gedeckten Vordach. „Alles wirkt so friedlich…“, sprach er mit einem dunklen Lächeln „…was für eine hübsche Scharrade.“ Mit einem unbeschwerten Schubs schwang die eine Torseite knarrend auf und gab einen gepflegten Vorgarten frei. Ein kleiner Teich, an dessen Oberfläche sich zwei Zierkarpfen tummelten und dessen hinteres Drittel mit gelben Seerosen gedeckt war, wurde durch einen Gehweg aus hellbläulichen und weißen Natursteinen von einem gewaltigen Kirschbaum separiert. Die knorrigen Äste hingen schwermütig im Regenschleier, während hunderte von Knospen auf den dünneren Zweigen wippten. Wehmütig betrachtete er dieses Abbild der Traurigkeit. Die Pforte zu seinem Domizil öffnete sich. Es war eine kunstvoll gefertigte Mahagonitür, an der sich Rosenreliefs links wie rechts empor schlangen. Ein junger Mann mit einem langen Pferdeschwanz stand im Rahmen, die Hände in den weiten Ärmeln einer dunkelbraunen Kutte verborgen. Ein zu langer Ledergürtel hielt sie um die Taille herum enger fixiert und Stiefel, die denen Ryogas sehr ähnlich sahen, kleideten seine Füße. „Warst ziemlich lange weg“, warf er ihm von der Tür aus entgegen und grinste ihn neckisch an. „Noch jemanden getroffen?“ Unvermittelt lachte der eben Eingekehrte und erwiderte zynisch: „Genau durch den Hals.“ Der Jungendliche mit dem langen Haar fiel in das Gelächter ein und trat unter dem Türbogen hervor. „Bist ja ein richtiger Witzbold. Vielleicht solltest du deine Gegner dazu bringen sich tot zu lachen?“ „Würde viel Arbeit sparen, Mu-Tsu“, grinste derjenige mit dem individualisierten Ledermantel. „Komm’ erst mal rein. Du holst dir noch den Tod, Ryoga. Unser Shakespeare wartet auch drin, zusammen mit der alten Mumie“, gab Mu-Tsu zwinkernd von sich und trat durch die Tür. Ryoga folgte ihm umgehend, ohne sich nochmals nach dem Sakurabaum mit den hängenden Ästen umzusehen. Beide flanierten durch einen lang gezogenen Korridor. In die holzgetäfelten Wände waren Lampen eingelassen, die alle paar Meter einen gelbweißen Schein auf den schwarzroten Teppichboden warfen. Weder Bilder noch Gobeline schmückten die Seiten; der Klang der Schritte hallte gespenstisch im Flur. Zwischenzeitlich zeichnete sich die Kontur einer Tür ab, Fenster waren mit dicken Gardinen aus rotem Samt behangen und verdeckt. Die Gestalten der jungen Männer gingen zielsicher auf eine dunkelbraune Tür am Ende des Korridors zu. Zur Linken wie Rechten hingen schlichte Wandleuchter mit je einer weißen Kerze. Die sanften Feuerzünglein brannten ruhig und ungestört. Kleinere Wachsperlen zogen über die glatte Oberfläche und machten ersichtlich, dass die Dochte noch nicht lange loderten. Mu-Tsu ließ seine rechte Hand aus dem Ärmel gleiten und drückte den bronzenen Türgriff herab. Das stark gemaserte Holz schwang auf und enthüllte ein beeindruckendes Sammelsurium von diversen Schriften, Pamphleten und Folianten. Zweistöckig umarmten die Regale das gewaltige Zimmer wie die Mauern einer Arena. Bücher in allen Größen, Einbänden und Breiten drängten sich dicht aneinander und verschlugen durch ihre reine Masse dem Betrachter die Sprache. Die zwei Akolythen traten unbekümmert ein und auf den imposanten Kamin zu. Trotz seiner leidenschaftlichen, gefährlichen Gestalt war auch ihm nur das mindeste an Platz zugesprochen und so fanden sich zu allen seinen Seiten antiquierte und unmittelbar daneben moderne Schriftwerke. Das blanke Parkett, das den Raum wie ein zweiter, kreisförmiger Rahmen umgab, mündete in einen indigofarbenen Teppich. Ein von Schatten beleckter Schaukelstuhl ruhte auf der weichen Unterlage und einen groben Meter entfernt, hatte jemand davor im Schneidersitz Platz genommen. „Ihr tumben Narren. Haben sich eure dumpfen Hirne endlich dazu ereifert von der Quelle des Wissens zu kosten oder habt ihr euch auf dem Weg zur Küche schlichtweg verlaufen? Hibiki würde ich dieses Kunststück ja noch zumuten, doch ist das deiner wahrlich würdig, Mu-Tsu?“, Sarkasmus ließ jedes einzelne Wort seine eigene Betonung innehaben. Die Silhouette in der meditativen Pose hatte die beiden Neuankömmlinge angesprochen, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, den Kopf zu wenden. Die Dramatik der Worte wurde durch den unvermittelten Einschlag eines Stocks auf einen Schädel ins Lächerliche verzogen. Flackernd warf das Feuer seinen Schein auf die runzligen Züge einer alten Frau, wie man nur mehr aus den langen Haaren schließen konnte. Die Falten auf ihrem Gesicht bildeten Täler in denen sich die Schatten sammelten und ihre Augen wirkten übernatürlich groß. Ein Gewand aus langen Stoffstreifen ließ sich im hektischen Zucken der Flammen erkennen, ebenso, dass sie mit dem Eintreffen der jungen Männer alles andere als erfreut zu sein schien. „Wo seid ihr beiden Dickköpfe nun wieder gewesen“, seufzte sie und besah sich die im Schein des Feuers erhellten Gesichter. Wo die Augen des einen von einem leidenschaftlichen Braun wie dem der weiten Wildnis waren, so zeigten sich die des anderen weiß wie die Schneeflocken. „Nun werte Mumie…“, ein erstaunlich rasch ausgeführter Hieb aufs Haupt rief ihn zum Anstand, „…Äbtissin, Ryoga und ich waren auf Patrouille gewesen und deswegen nicht anwesend.“ Akolyth Hibiki sah seinen Kollegen mit unverhohlener Überraschung an. Dieser trieb ihm dafür motivierend seinen linken Ellbogen in die Magengrube. Ryoga kapierte. „Genau so war es.“ Und genau so war es immer wieder erstaunlich zu beobachten, dass einer der erfolgreichsten Jäger in der Geschichte des Ordens unfähig war, auch nur die kleinste Lüge zu formulieren. Er versagte selbst dann, wenn es sich dabei nur um einen einzigen Satz handelte. Cologne deutete ein enerviertes Kopfschütteln an, was ihre graue Mähne in Bewegung geraten ließ, während sie eine ihrer zerbrechlich wirkenden Hände vor die Augen schob. „Ihr hättet bereits vor drei Stunden hier sein müssen“, stellte sie mit einem Schnauben fest. „Idioten. Denkt ihr, dass ihr mich so leicht täuschen könnt?“ Reflexartig nickte Ryoga, wurde jedoch abermals vom Ellbogen der Mahnung zurechtgewiesen. Die Matriarchin versuchte dies bestmöglich zu ignorieren und führte weiter aus. „Ryoga traue ich dieses Verhalten vollauf zu, doch dir Mu-Tsu liegt mehr an Lebenden als an Untoten.“ Ertappt wandte sich das Gesicht des Chinesen dem handgewebten Teppich zu. „Was soll ich nur mit dir machen? Du bist talentiert, keine Frage, wurdest ja sogar von Dei selbst ausgewählt. Doch wenn du dich eher deinem Vergnügen, ergo meiner Großnichte zuwendest als deiner eigentlichen Aufgabe, so entspricht dein Nutzen in etwa dem einer Waffe ohne Führer. Sie mag prachtvoll aussehen, doch lässt sich durch ihren bloßen Besitz niemand schützen.“ Bekümmert stierten die perlmuttfarbenen Augen hinab und machten dadurch jegliche Erwiderung unnötig. „Doch genug von dem. Ryoga, was hat dich aufgehalten?“, wandte die Äbtissin sich dem anderen Akolythen zu. Ihr Gesicht, obwohl alt und verschrumpelt, nahm im Tanz des Feuers einen sorgsamen, doch simultan dazu gebieterischen Ausdruck an. Der soeben Angesprochene legte seine Rechte aufmunternd auf die Schulter seines Kollegen, drückte kurz bekräftigend zu und erstattete sodann, an die Herrin des Ordens gewandt, im ruhigen Tonfall Bericht. „Ich bin einem der unteren Klasse begegnet. Er hatte ein junges Mädchen durch die Straßen gehetzt und wollte sie anscheinend zu seinem eigenen kleinen Energy-Drink umfunktionieren. Ich bezweifle ernsthaft, dass die Erfrischung jetzt noch seinen Magen erreichen könnte“, gab er, nicht unzufrieden, von sich und gönnte sich ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen. Im Flackern des rötlichgelben Feuers wirkte es beinahe wölfisch. „Ich habe euch drei hierher beordert, weil Xian-Pu einen potentiellen Aufenthaltsort der Seuche gefunden zu haben glaubt. Ein Lagerhaus am Hafen. Rostige Wellblechwände, zugenagelte Fenster und immerwährende Dunkelheit dürften unseren Freunden ein perfektes Ambiente bieten. Ich schlage vor, dass ihr ihnen einen Freundschaftsbesuch abstattet“, verkündete sie ihren Akolythen verschlagen lächelnd. „Am Hafen?“ fragte Ryoga misstrauisch, während Mu-Tsu die Stirn runzelte und seine Gedanken kundtat. „Klingt nicht gerade wie ein Spaziergang. Düster, viele Schatten und leer stehende Bauten.“ Tatewaki verzichtete auf einen Kommentar und fragte stattdessen in einem kühlen Ton. „Wann schlägt die gedachte Stunde?“ Die Silhouette seines Kopfes war der Äbtissin zugewandt. „Heute Nacht gegen zweiundzwanzig Uhr brecht ihr von hier auf, Tofu wird euch absetzen und außerhalb des Hafengeländes warten. Aber beeilt euch, wir wollen keine unnötige Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Haben wir uns klar verstanden?“ Es herrschte kollektives Schweigen und nur das Knistern im Kamin durchbrach die Stille. „Tatewaki?“ „Mein Versprechen sei euch zugesichert“, antwortete dieser für seine Verhältnisse lakonisch. „Ryoga?“ „Natürlich“, gab dieser etwas überstürzt seine Affirmation. „Mu-Tsu?“ Ein dumpfes Nicken signalisierte auch seine Zustimmung. „Dann seid ihr hiermit entlassen. Ruht euch aus, betet oder trainiert. Aber seid für heute Nacht unbedingt im Vollbesitz eurer Kräfte. Wir wissen nicht mit wie vielen dieser Monster wir zu rechnen haben.“ Langsam erhoben sich die jungen Männer und wandten sich mit raschelnden Kleidern um. „Kommt mir wohlbehalten wieder zurück“, ergänzte die Matriarchin leise flüsternd. Die drei verließen ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Tatewaki schloss als Letzter behutsam die Tür, das Einrasten hallte beinahe blasphemisch laut über den Flur, dann fiel er in den Schritt der anderen beiden Akolythen ein. „Was macht ihr?“, skandierte Mu-Tsu im Plauderton. „Darüber bin mir im Augenblick noch nicht zur Gänze im Klaren, doch sollte sich deine Wenigkeit anschicken mit dem Eifer eines Gläubigen des Dei seine Kunst zu perfektionieren“, warf Tatewaki ihm sardonisch grinsend hinterher. Der gelblichweiße Schein der Lampen illuminierte ein narbenreiches Gesicht, das ansonsten äußerst adrett gewirkt hätte. Über die linke Wange zog sich ein senkrechter Strich, über die Stirn ein diagonaler und entlang der Lippe ein dritter, dafür kleinerer. Mittellanges, strähniges Haar schwarzer Farbe fiel bis zum Nacken, war vor dem Gesicht jedoch über die Ohren gestrichen worden. Er trug einen dunkelblauen Gehrock, der ihm bis zu den dicken Stiefelkappen reichte und eine schwarze Baumwollweste mit Kapuze, wobei die weiche Kopfbedeckung jedoch augenblicklich nur nutzlos an seinem Rücken herabbaumelte. „Danke für deinen Kommentar Tachi, ich werde ihn sicherlich beherzigen“, troff der Sarkasmus aus dem Mund Mu-Tsus. „Was wirst du tun, Ryoga?“ Seine blicklosen Augen wandten sich dem anderen Jäger zu. Bei der Kopfbewegung wandelte ein kleines Schattenmeer über sein ebenmäßiges Gesicht. Der Angesprochene starrte zu Boden und erwiderte kurz angebunden: „Beten.“ Deprimiert ließ der Chinese die Schultern sinken und seufzte theatralisch auf. „Mit euch beiden ist auch nichts los. Dann leiste ich eben unserem Shakespeare Gesellschaft.“ „Zuviel der Ehre“, erwiderte dieser und schritt unbeirrt hintendran. Der hohle Klang der Sohlen auf dem Teppichboden blieb für einige Sekunden das einzige Geräusch. Dann kam Mu-Tsu zum Stehen und blickte über seine Schulter. Tatewaki schloss kurz darauf zu ihm auf und beide traten durch die schmucklose Tür zu ihrer Rechten. Mit einem Knarren fiel sie nach ihnen zu. Ryoga dagegen ging gedankenverloren weiter. Er hatte heute Nacht ein Menschenleben gerettet, aber wie viele waren derweil um ihr Leben bestohlen worden? Er wollte die Antwort darauf nicht wissen. Einen Moment später blieb er neben einer Tür aus glänzendem Mahagoni stehen. Nach einer neunzig Grad Drehung, ergriff er den metallisch glänzenden Knauf und stieß die Tür unsanft auf. Zwei hellblaue Gardinen, die mit je einem gleichfarbigen Seidenstreifen im unteren Drittel zu Ballen gebunden waren, gaben den Blick auf eine Farbenpracht verschiedenster Blüten wieder. Wie Tupfer mit einem Pinsel waren sie in ein dichtes Jadegrün gesetzt worden. Dazwischen verliefen säuberlich ausgetretene Pfade aus nasser, rötlicher Erde. Der verregnete Hintergrund ließ die Blumenrabatten umso kräftiger erscheinen. Sporadisch spähten glatte Steine adäquater Größe aus dem Farbenmeer wie graublaue Inseln. Traurig lächelte der junge Akolyth das Panorama an, das sich ihm großzügig auftat. Nur schwach war es in seiner Schönheit durch den dichten Regenfall gemindert. Er sah sich in dem nur allzu bekannten Zimmer um. Ein ausgebreiteter Futon schloss an der rechten Zimmerwand an, vis-à-vis dazu stand ein edel aussehender Schrein. Unmittelbar darüber sah Jesus gütig von seinem Platz am Kreuz herab. Die zarte Insignie INRI prangte auf einem Bronzeplättchen über der Dornenkrone. Mit zeremonieller Langsamkeit kniete sich Ryoga vor den hölzernen Rahmen, der auf einer kleinen eingearbeiteten Erhöhung ein altes Photo, sowie rechts und links daneben eine rote Kerze beherbergte. Dieser Schrein enthielt, trotz seines spartanischen Aussehens das Wertvollste was Ryoga Hibiki noch besaß. Erinnerungen. Seine Hand wanderte zum Podest, hielt kurz inne, sodass sich ein merkliches Zittern dieser beobachten ließ und griff dann mit den Fingern in eine Kerbe. Behutsam zog er daran und offenbarte eine in der Erhöhung versteckte Schublade, die sich mit einem melodiösen Quietschen öffnete. Darin lagen ein silbernes Kruzifix, ein fein gearbeiteter Rosenkranz und mehrere unbedruckte Schachteln Streichhölzer. Er entnahm eine der letzteren, zog die Hülle zurück und fasste ein Zündholz zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit einem Ratschen entflammte das dunkelblaue Köpfchen. (Aloha Pingeltante! Mal wieder eine Kleinigkeit – du verwendest aufeinanderfolgend zwei mal „Mit“ als Anfang) Sein Gesicht nahm einen bedrückten Ausdruck an, als er das Streichholz bedächtig erst zum Docht der linken, dann zu dem der rechten Kerze führte. Die kleinen Flammen tanzten gelb über dem Rot des Wachses. Daraufhin nahm er den Rosenkranz aus dem Schub, berührte eine der kleinen, glatten Perlen und sah aus dem Fenster in den Regen. Seine Augen begannen zu glänzen, woraufhin er sie fest schloss und mit seinem Gebet begann. Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. So gib mir Kraft zu richten, was unrechtmäßig auf Erden wandelt. So gib mir Glauben zu waschen, meine Hände rein vom Blute der Toten. So gib mir Willen zu schützen, mit all meiner Macht deine Lämmer. Amen. Eine Träne kullerte verstohlen aus seinem linken Augenwinkel und verlief sich über der Wange zu einer matt glänzenden Spur. In diesem Moment wirkte er zerbrechlich und schwach. So wie seine Feinde ihn nie sehen durften. Denn dies wäre sein Ende. So wie es das seiner Mutter gewesen war. Eine starke Frau, die doch zu zerbrechlich und schwach war, um sich dem Schrecken zu erwehren... Der mondbeschienene Flur lag friedlich vor ihm. Aber wovon war er dann geweckt worden? Verunsichert setzten sich die kleinen, nackten Füße voreinander. In der rechten Hand hielt er seinen braunen Kuschelbären. Seine Mama hatte ihm einmal erzählt, dass dieses Geschenk zu Ryogas drittem Geburtstag per Post von einem unbekannten Absender zugestellt worden war. Sie hatte nichts gesagt, doch vermutete er, dass es von seinem Vater stammte. Seine Mutter, die eine große, schlanke Frau mit geheimnisvollen braunen Augen war, vermied es über ihn zu sprechen. Und wenn er seiner Mama egal war, so konnte er auch ihm egal sein. Sein Weg führte ihn an einer großen, schwarz lackierten Kommode vorbei. Misstrauisch beäugte er das Ungetüm von einem Mobiliar und wahrte die größtmögliche Distanz. Sein Tapsen hallte gespenstisch laut auf dem hellen Parkettboden. Durch die viereckigen Fenster drang in langen Strahlen der Mondschein, während die weißen Gardinen aus chinesischer Seide sich aufbauschten. Hatte seine Mama irgendwo ein Fenster angekippt? Außer der Berührung seiner nackten Fußsohlen mit dem Holz erklang kein Laut. Oder doch? Ryoga verharrte und lauschte in den Korridor. Da war doch etwas? Ja, da war eine Frauenstimme. Doch sie klang so schwach, so erschöpft. Es dauerte erschreckend lange bis er verstand, dass es die Stimme seiner Mutter war. Ihm kroch eine Gänsehaut mit der hämischen Bedächtigkeit eines Eiswürfels über den Rücken. „Mama?“, rief er in den Flur. Die Stimme verlor sich und wurde leiser. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl, als er weiterging. Schritt für Schritt näherte er sich der großen, hohen Tür hinter der das Schlafzimmer seiner Mutter lag. Vor allem als er noch jünger war, war er oft aus schrecklichen Alpträumen aufgewacht. Alpträume, in denen Menschen in Fontänen aus schillerndem Blut explodierten, das überall hin spritze und sich verteilte. Woraufhin große schwarze Wölfe aus dem Nichts hervorsprangen und sich darin voll wilder, ungezähmter Lust suhlten, es mit kaum unterdrückter Gier aufleckten und ihre rot wie Feuer brennenden Augen sich irre in seine bohrten. Dann setzten sie mit großen Sprüngen auf ihn zu, die gewaltigen Zähne – von denen dünne Speichelfäden wie silbernes Garn herabhingen - gefletscht, um sie blutrünstig in sein Fleisch zu stoßen. Doch dann wurde alles von einer gleißenden Helligkeit überflutet, die sich grell auf die Netzhaut brannte und zugleich unglaublich sanfte Wärme verströmte. Kreischend und mit salzigen Tränen in den Augenwinkeln war er daraufhin immer aufgewacht. Vier Jahre lang hatten diese Nachtmahre ihn in seinem Bett heimgesucht, woraufhin er jede Nacht mit Bettdecke und Kopfkissen in der einen und seinem Teddy in der anderen Hand ins große, breite Bett seiner Mama geflüchtet war. Dort hatte er Ruhe gefunden. Nun stand er vor der hohen, mit einem Mal so bedrohlich wirkenden Tür. Wie ein schwarzer Tsunami baute sie sich vor ihm auf und als er versuchte seine kleine Kinderhand zu heben, spürte er einen plötzlichen inneren Widerstand. Erschrocken darüber trat er einen Schritt zurück und konnte den Arm wieder unbeeinträchtigt bewegen. Mit einem Stirnrunzeln bedachten seine großen, dunklen Augen seine widerspenstige Gliedmaße. Erneut versuchte er sich der Messingtürklinke zu näheren. Abermals senkte sich ein irrsinniges Gewicht auf seinen Arm. Doch diesmal wollte er nicht aufgeben. Die für sein Alter erstaunlich ausgeprägten Eckzähne gruben sich in die Unterlippe und die Augenlider pressten sich vor Anstrengung zusammen. Ein kehliges Röcheln entkam seinem Hals, als er die Hand peu à peu in die Höhe hob. Dann endlich hatte er es geschafft und ließ die weiche Haut seiner Handinnenfläche auf das Messing fallen. Der Schock ließ keinen Schrei zu. Eine unbeschreibliche Angst bemächtigte sich seiner. Der ganze, kleine Körper zitterte wie unter Krämpfen und heißer Schweiß trat aus jeder Pore. Seine Nackenhärchen stellen sich nicht auf, sie schossen geradezu in eine senkrechte Position. Die kleine Hand hielt den Türgriff umklammert und fing ungeachtet vom kleinen Ryoga an, das Messing zum leisen Quietschen zu bringen. Die Furcht, die ihm unter der Haut mit der Übermächtigkeit einer Armee Ameisen kroch, schnürte ihm die Kehle zu und brachte seinen Magen zur Kontraktion. Die zuvor bereits großen Augen waren nun bis zum Äußersten geweitet und spiegelten eine Angst wider, wie sie nur die wenigsten Menschen je kennen lernten. Es quietsche nochmals, nun deutlich lauter. Auf der kleinen Hand begannen die Arterien und Venen sich wie überlange Würmer abzuzeichnen. Einer der kleinen Eckzähne hatte die dünne Haut der Unterlippe durchbissen. Der kleine Ryoga merkte davon ebenso wenig wie er registrierte, dass seine zerbrechlich wirkende Rechte soeben dabei war den Messingtürgriff zu zerquetschen. Dann brach die Klinke geräuschvoll ab und die entsetzliche Trance fand ein sofortiges Ende. Schwer rasselte sein Atem als er furchtstarr das Holz betrachtete, spürte wie winzige Tränen über seine Backen kullerten und der Messinggriff noch immer in seiner Rechten ruhte. Entsetzt ließ Ryoga das Metall fallen, was unmittelbar darauf mit einem atonalen Scheppern belohnt wurde, das den ganzen Korridor durchwanderte. Mit erstarrten Zügen erwartete er eine Reaktion. Irgendeine. Der Wind ließ die Gardinen wie Gespenster flattern, während ein leises Heulen über den Flur zog. Die Kommode hinter ihm gab ein verhaltenes Knarren von sich. Aus dem Zimmer vor ihm kam ein kaum hörbares Wimmern. Verzweiflung siegte über die Angst. Nochmals hob sich seine Rechte, die er für einen winzigen Augenblick musterte, dann packte er den verbliebenen Rest des Türgriffs mit Zeige-, Mittelfinger und Daumen. Diesmal schwieg die grausame Panik, die ihn vorhin erfasst hatte. Die Augen zu Schlitzen verengt, drückte er die verstümmelte Klinke herab und stieß die hohe Tür auf. Das große Schlafzimmerfenster, das den daran anschließenden Balkon von der Schlafstätte seiner Mutter trennte, stand weit offen. Der weiße Stoff der Gardinen war mehrfach gerissen und an einigen Stellen deutlich dunkler. Seine großen Kinderaugen sanken wie in Zeitlupe tiefer. Da war das weiche, weite Bett seiner Mama. Darauf die kuschelige Bettdecke und das extralange Kopfkissen, das sie zu der Zeit gekauft hatte, als der Schrecken der Nacht am schlimmsten bei ihm gewütet und er des nachts nicht mehr als eine Stunde in seinem Kinderbett zugebracht hatte. Darin lag klein und hilflos die gekrümmte Gestalt seiner Mutter und über ihr ein mächtiger, schwarzer Schatten. Beim Knarren der Tür blickte dieser mit tierischer Verschlagenheit auf und Augen von der Röte des Feuers durchbohrten ihn. Die Augen der Wölfe aus seinem Traum. ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)