Kurzgeschichten von Karopapier (das, was ich in ruhigen Minuten fabriziere) ================================================================================ Kapitel 9: Abschied ------------------- Es war sehr dunkel in ihrem Zimmer, aber sie wollte nicht aufstehen, um das Licht anzumachen. Von draußen kam eine warme Brise in den Raum, das einzige Leben in ihren vier Wänden. Nichts war mehr, wie es einmal gewesen war. Sie war allein. Durch die Zweige der alten Eiche vor ihrem Fenster sah sie, wie die Sonne den Horizont berührte. Es war erst Sommer, aber dennoch war der Baum schon kahl, geradezu als fühlte er ihrem Schmerz. Kannten Bäume Emotionen? Begriffen sie, was um sie herum vor sich ging? Oder lebten sie gar nicht wirklich, existierten einfach, einsam, ewig, ein Zeugnis der Zeit und doch auch wieder nicht? Eine Stimme hallte in ihrem Kopf wieder, eine gefühlte Ewigkeit vor heute gehört und nur noch ein kraftloser Schatten dessen, was sie ihr vorher bedeutet hatte. "Ich komme zurück, wenn die Geburt ansteht." Weit, weit entfernt... so weit. Unantastbar, unerreichbar, als wäre es nicht erst vor zwei Monaten gewesen. Als wäre er schon Ewigkeiten fort. Aber sie spürte, dass das keinen Unterschied gemacht hätte. Er würde erst in einigen Tagen erfahren, was passiert war, wenn er in die nächste größere Stadt käme. Bis dahin wäre sie tot, tief, tief in ihr wäre nichts mehr übrig, das der Schmerz noch zerstören könnte. Tot... tot... ein so leeres Wort für eine solche Grausamkeit, für so ein Ding der Unmöglichkeit. Eine leichte Bewegung ließ ihren Blick zur Seite wandern. Direkt neben ihr, an der Gardine, hing ein Schmetterling; ein bunter Fleck, umrahmt von den warmen Strahlen der Abendsonne. Als seine Flügel, wie von ihrer plötzlichen Bewegung erschrocken, auseinander klappten, starrten ihr tiefblaue Augen entgegen. Aus ihrem Leid gerissen runzelte sie die Stirn. Sie hatte ihn nicht kommen gesehen. Vorsichtig näherte sie sich ihm und fing ihn in ihrer hohlen Hand. Sie konnte nicht anders als diese fremdartige und doch ihr bekannte Schönheit zu bewundern, sie mit ihren Blicken zu verschlingen, sie in ihrem Gedächtnis aufzubewahren wie einen Schatz, während der Schmetterling verzweifelt versuchte, aus seinem plötzlichen Gefängnis auszubrechen. Sie musste schlucken. "So zerbrechlich", flüsterte sie kaum hörbar und ihre freie Hand wanderte unbewusst zu ihremjetzt leeren und verletzlichen Bauch. "So zerbrechlich..." Entschlossen gab sie den Schmetterling wieder frei. "Sag es ihm", bat sie das Tier. "Sag ihm, was passiert ist. Sag ihm, ich brauche ihn." Und während der Schmetterling vom Wind dem Abendrot entgegen getragen wurde, sank sie in sich zusammen und fing endlich, endlich an zu weinen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)