Kurzgeschichten von Karopapier (das, was ich in ruhigen Minuten fabriziere) ================================================================================ Kapitel 6: (Ein Weihnachtsgeschenk, noch ohne Titel) ---------------------------------------------------- Wie das alles angefangen hat, weiß ich nicht. Ich weiß noch nicht einmal, ob es wirklich irgendwann angefangen hat oder ob es die ganze Zeit über schon so war. Ob es eine langsame Entwicklung gewesen war oder ob dieses komische Gefühl schon immer da gewesen ist. Aber wenn es angefangen hat, dann in der Bücherei. Oder Bibliothek. Den Unterschied verstehe ich so oder so nicht. Er saß zwischen den Bücherregalen, genau da, wo ich hinwollte. Das wäre unter anderen Umständen vielleicht kein Problem gewesen, aber ich bin ein Mensch, der es nicht gerne offen zugibt, wenn er Probleme hat. Und vor allem nicht, was für Probleme. Auch dann nicht, wenn der Mensch, der dabeisitzt, ihn gar nicht beachtet. So wie dieser Typ. Unschlüssig war ich in diesem Moment, aber auch in gewisser Weise enttäuscht. Ich hätte gerne etwas darüber gewusst – Fakten, nicht das, was man sich darüber erzählte. Aber verscheuchen konnte ich ihn nicht, selbst wenn ich noch so schlecht erzogen worden wäre oder ich ihn noch so gut gekannt hätte. Das war etwas, wovor ich am meisten Angst hatte: Aufsehen zu erregen. Neugierde zu wecken. Aufzufallen. Ich betrachtete ihn genauer. Blond, zerzauste Haare. Groß. Vor allem war er sehr schlank und unter seinem Hemd zeichneten sich breite, muskulöse Schultern ab. Und er saß da, mit dem rechten Knöchel auf dem linken Knie, das Buch auf den Schoß gelegt und den Kopf auf das Bein gestützt. So, als gäbe es außer ihm niemanden auf der Welt. Als würden ihn die Haare, die ihm in die Stirn fielen, nicht im Geringsten stören. Obwohl sie im Licht waren und jeder normale Mensch Probleme gehabt hätte, in dem so entstandenen Schatten zu lesen. Weltfremd. Und irgendwie gutaussehend. Ratlos nahm ich den Buchtitel in Augenschein. Es war nicht leicht, ihn zu erkennen, weil der Stoff seiner Jeans die Buchstaben halb verdeckte, aber in dem Moment, als er umblätterte und sich bücken musste, weil sein Lesezeichen runtergefallen war, konnte ich ihn trotzdem entziffern. Homosexualität. Es war nicht gerade ein alltägliches Problem, aber ich war mir sicher, sein Lehrer wäre begeistert gewesen. Jeder Durchschnittsschüler hätte bei einem so brisanten Thema einfach etwas aus dem Internet ausgedruckt oder zumindest das Buch ausgeliehen, damit ihn hier niemand erwischen konnte. Er dagegen saß hier, mitten im Raum, und las. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Das Buch, das ich lesen wollte, ja, brauchte, stand direkt über seinem Kopf. Schließlich drehte ich mich um und ging, so leise wie nur möglich. Und je sicherer ich sein konnte, dass er mich nicht hören würde, desto schneller lief ich. Ich floh. Stoppen konnte ich erst im Vorraum wieder, auf einem der bequemen Stühle. Dort blieb ich sitzen. Es war schön, man konnte nach Lust und Lauen zum Park hinaussehen, lesen oder einfach nur herumsitzen. Das war das, was ich tat. Sitzen und nachdenken. Über die Tests. Über den Verdacht der Ärztin. Über die Symptome, die bald schlimmer geworden waren. Und über das Leben. Vor allen Dingen über das Leben. Über was ich ganz bewusst nicht nachdachte, waren meine Probleme. Die, die ich in der Schule hatte. Dinge, die eigentlich, aus meiner momentanen Sicht, absolut unwichtig waren. "Alles in Ordnung?" Ich schrak auf. In Gedanken versunken, hatte ich ihn nicht kommen gehört. Jetzt stand er neben mir und lächelte mich an. Freundlich. Ich merkte, wie meine Finger zu zittern begannen und verschränkte sie auf meinem Schoß. War es schon so schlimm? Sah man mir die Krankheit schon an? Alles in mir verkrampfte sich und zu einem Nicken musste ich mich zwingen. Aber er ging nicht weg. Er blieb. Und setzte sich neben mich. "Wegen was warst du eben in der Abteilung für Problemthemen?" "Nur so." Die Antwort war draußen, bevor ich über sie nachgedacht hatte. Er hatte mich also doch bemerkt. Sein verständnisvoller Blick ließ mich aus dem Fenster sehen. Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen, zu stark war das Gefühl, dass er wusste, ja, dass er in meinem Gesicht abgelesen hatte, was los war. Diese Augen ... "Magst du mir sagen, was dein Problem ist?" Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. "Ich habe kein Problem." Selbst in meinen Ohren klang es erbärmlich, falsch und einfach nicht wahr. Natürlich hatte ich ein Problem. Aber das konnte und würde ich ihm nicht erzählen, auch wenn er noch so freundlich aussah. Und dieser Blick ... "Jeder Mensch hat Probleme." Seine Stimme war ernst und ruhig. "Auch du, sonst wärst du eben nicht weggelaufen." Mir brach der kalte Schweiß aus. "Woher willst du wissen, wie ich reagiert hätte?", schrie ich ihn an und sprang auf. Mein ganzer Körper bebte und ich merkte, dass das ein Fehler gewesen war. Jetzt aufzuspringen, wegen so einer Banalität, kam einem Geständnis gleich. Er sah mich noch lange an, mit einem Blick, der gleichzeitig so wissend und freundlich war, dass es mir eiskalt über den Rücken lief. Sah meine zu Fäusten geballten Hände, meinen gehetzten Blick, meine zitternden Finger. Und nickte. Ich kann nicht sagen, warum, aber dieses Nicken hatte etwas Beruhigendes, ein Loslassen aus diesem verstehenden Lächeln. Fast automatisch entspannte ich mich und das Zittern wurde schwächer. "Okay", sagte er einfach nur. "Aber wenn du vielleicht doch irgendwann ein Problem hast, bin ich für dich da." Dann stand er auf und ging. Zuerst blieb ich noch eine Weile stehen, mit geschlossenen Augen, und atmete tief durch, dann, als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, ging ich zurück zu dem Gang, in dem er vorhin gesessen hatte. Das Buch war ein dicker Wälzer mit bestimmt 1500 Seiten, ein Lexikon. Ich las den Artikel zweimal, als ich ihn gefunden hatte, nur um sicher sein zu können, dass ich ihn auch wirklich richtig verstanden hatte. Heilung nur im Frühstadium möglich. Unter Schock stellte ich das Buch zurück und ging nach Hause. Ich war ganz sicher nicht mehr im Frühstadium, bestimmt nicht. Der Besuch beim Arzt war bereits drei Monate her. Leise aber durchdringend hallte die Stimme der Ärztin in meinem Kopf wieder. "Ich kann dir nichts Genaues sagen, aber du solltest einen Bluttest machen lassen. Es besteht der Verdacht, dass du sehr krank bist ..." Am Telefon hatte sie es meiner Mutter gesagt, meine Mutter hatte es mir gesagt. Sie versprach, sich um den Termin für den Bluttest zu kümmern. Und vergaß es. In der Zwischenzeit waren die Schmerzen schlimmer geworden, es wurde immer schwerer, mir die Krankheit nicht anmerken zu lassen. Ich spielte Theater, in der Schule, zu Hause, überall. Aber zu dem Zeitpunkt erfand ich noch Ausreden, wollte es nicht wahrhaben. Es durfte nicht sein. Nicht diese Nachricht. Ich musste mich irren. Nächstes Mal. Nächstes Mal würde ich nach weiteren Informationen suchen, mehr wissen. Aber jetzt wollte ich nur noch nach Hause. Wenn ich von nun an zur Bibliothek ging, spielte sich immer wieder die gleiche erstaunliche Szene ab: Ich kam zur Problemthemenabteilung, er sah von seinem Buch auf, klappte es zusammen und ging in den Vorraum, um dort weiterzulesen. Dann war ich alleine. Ich fand schnell, was ich suchte, machte Notizen, schlug Unbekanntes nach. Innerhalb eines Monats hatte ich bereits meinen Collegeblock fast vollgeschrieben. Jeden Tag drei Stunden lang in der Bibliothek zu sitzen machte sich eben doch bezahlt. Dass ich mich für mein langes Wegbleiben nicht rechtfertigen musste, da meine Eltern ganztags arbeiteten, machte es bedeutend leichter. Solange ich zu Hause war, bevor sie kamen, war alles in Ordnung. Fast alles. Manchmal, wenn ich auf meinem Stuhl saß, merkte ich, wie mir die Luft wegblieb. Dann dauerte es mal fünf, mal zehn Sekunden, manchmal aber auch länger, bis ich wieder atmen konnte. Das war das Schlimmste: Zu wissen, dass ich krank war, zu wissen, dass jeden Moment alles einfach aufhören konnte. Denn auch, wenn ich es nicht wahrhaben wollte und noch immer nach der Bestätigung suchte, dass ich eigentlich gar nicht krank war, konnte ich mir nichts mehr vormachen. Ich war krank. Sehr krank. Ab und zu, in dem Momenten, wo es gar zu schlimm wurde, war ich mir sicher sterben zu müssen. Das waren die Sekunden, in denen vor meinen Augen alles merklich dunkler wurde und ich Sterne sah, bis ich urplötzlich wieder zu Atem kam. Kurz bevor es das erste Mal passiert war, eröffneten mir meine Eltern, sie wollte Urlaub machen. Alleine. Gaben mir Ratschläge, Nummern für Notfälle, fragten mich, ob alles in Ordnung wäre. Ich sagte ja. Schließlich war ich nicht krank. Dachte ich. Hoffte ich. Und dann war da immer noch dieser Typ. Auch, wenn ich aus der Bibliothek gehen wollte, saß er noch im Vorraum, wartete darauf, dass ich fertig würde oder machte Aufgaben. Sein Lehrer musste ihm ein wirklich teuflisches Referat aufs Auge gedrückt haben, die Bücher über die verschiedensten Arten von Sexualität türmten sich regelrecht neben ihm. Er schien kein Zuhause zu haben, als gehörte er zur Einrichtung. Sein Blick. Das war es, was mich an ihm anzog und gleichzeitig abstieß. Er sah mich immer an, als wüsste er, was los ist, als könne er bis auf den Grund meines Daseins blicken. An eine Seele glaubte ich schon da nicht mehr. Und jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeilief, war es, als würden sich in meinem Kopf die Worte wiederholen, die er am ersten Tag gesagt hatte. Jeder Mensch hat Probleme. Auch du, sonst wärst du vorhin nicht weggelaufen... ...aber wenn du vielleicht irgendwann doch ein Problem hast ... ... bin ich für dich da. Irgendwann, weiß der Teufel, warum, setzte ich mich schließlich wirklich neben ihn. Und erzählte. Von meinen Eltern, die im Urlaub waren. Von meinen Geschwistern. Von meinen Freundinnen, der Schule und unseren Nachbarn, die vor zwei Wochen geheiratet hatten. Von meinem Austausch, an dem ich vor einem Jahr teilgenommen hatte. Und von meiner Krankheit. "Krebs", sagte ich ganz einfach. So einfach, als wäre es das Normalste der Welt, neben jemand Wildfremden zu sitzen und ihm sein komplettes Leben auszubreiten. "Die Ärztin hatte schon von Anfang an den Verdacht, aber ich wollte es nicht glauben. Und ich denke, ich wusste genau, dass es stimmt, sonst hätte ich meine Mutter an den Termin erinnert. Aber darauf bin ich auch erst gekommen, als ich hier war." Es war erstaunlich, wie leicht es war, sachlich zu bleiben. In dem Moment, als mir die Bemerkung "und in spätestens zwei Monaten bin ich tot" rausrutschte, klang es in meinen Ohren wie eine nebensächliche Information. Genausogut hätte ich sagen können, dass ich demnächst eine Zahnspange tragen muss. Gleiche Betonung, gleicher Klang. Es berührte mich nicht. Wir saßen eine ganze Weile da und schwiegen uns an, er sah mich an, ich sah zum Fenster raus. Und dann ... Dann umarmte er mich. Einfach so. Wahrscheinlich war es einfach nur genauso normal wie jemandem Wildfremdes zu erklären, dass man Krebs hatte, dass man in zwei Monaten nicht mehr am Leben sein würde und dass die Eltern in genau diesem Moment auf Menorca sich die Sonne auf den Pelz scheinen ließen. Einfach so eben. Und in dem Moment, als er mich in den Arm nahm und ich merkte, wie mein ganzer Körper sich versteifte, damit er bloß nicht mitbekam, was er eh schon wusste, brach die Mauer zusammen, die ich um mich herum aufgebaut hatte. Zuerst spürte ich nur einen Kloß im Hals, dann lief mir die erste Träne über die Wange und kurz darauf verlor ich auch den letzten Rest Selbstbeherrschung und machte meiner ganzen Angst in einem einzigen Heulkrampf Luft. Scheiß drauf, was er von mir dachte. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir dasaßen und er mir einfach nur über den Kopf strich. Vielleicht war es eine Stunde, vielleicht auch nur eine halbe, aber das war in dem Moment egal. Tatsache ist, das es unglaublich gut tat. Und von dem Moment an waren wir unzertrennlich. Auch wenn man das jetzt denken könnte, und ich bin mir sicher dass das auch sehr viele tun, waren wir kein Paar. Es war etwas ... Besonderes. Ich weiß, es klingt kitschig, aber wir waren einfach nur beste Freunde. Auch wenn die Bezeichnung nicht ganz stimmt, trifft sie noch am ehesten zu. Dass wir so etwas wie Geschwister waren stimmt genausowenig: Geschwister können sich gut verstehen, aber unsere Freundschaft war für Geschwister zu intim und für eine normale Freundschaft zu persönlich. Es ist schwer zu erklären, aber ich hoffe, man merkt was gemeint ist. Abgesehen davon hingen wir wirklich jeden Tag aneinander. Wir gingen zusammen in den Park, machten irgendwelchen Unsinn, kauften zum Beispiel Gasluftballons und banden sie einer Taube an den Fuß, um herauszufinden, ob sie stark genug ist, um sich gegen den Zug nach oben zu wehren (sie entkam allerdings in dem Moment, als wir ihr die Ballons schon fast um den Fuß gebunden hatten), kitzelten uns stundenlang durch um festzustellen, ob man davon wirklich auch nachhaltigen Muskelkater bekommen kann, philosophierten über mal mehr und mal weniger jugendfreie Themen und ignorierten es, wenn ich mal wieder einen meiner Anfälle bekommen hatte. Manchmal wurde er genau in den lustigsten Momenten still, immer dann, wenn er damit den Witz der ganzen Situation kaputt machen konnte. Am Anfang fragte ich ihn noch, was los war, aber als er dann immer nur etwas seltsam lächelte und mich fragte, welche Farbe ich für seinen Sarg aussuchen würde, gab ich es irgendwann auf. Ich konnte nichts mit ihm anfangen wenn er sarkastisch wurde. Abgesehen davon hatten wir eine sehr schöne Zeit und ich war mir sicher: Wenn der Tod jetzt käme, würde ich glücklich sterben. Was mich irritierte, war die direkte und persönliche Art, die er manchmal zeigte. Meistens war das, wenn wir im Park waren. Dabei war es noch nicht einmal so wichtig, ob das was ich sagte oder tat einfach nur so dahergesagt war oder ob ich wirklich länger darüber nachgedacht hatte. Ich fand es einfach ein wenig gewöhnungsbedürftig, dass er auf eine Bemerkung wie "schade, dass ich noch nie einen Jungen geküsst habe" mich zuerst mit einem langen, etwas seltsamen Blick bedachte und sich dann ohne jede Vorwarnung zu mir rüberlehnte. Es war schön, das bestreite ich nicht, aber trotzdem seltsam. Er war schließlich nicht mit mir zusammen, und wer lässt sich schon von seinem Bruder küssen? Und vor allem ... so? Das nächste Mal, als wir auf einer Party eingeladen waren, und er mit mir nach draußen gehen musste, weil ich wieder keine Luft bekam, kamen wir schließlich aneinandergelehnt zurück, ich noch immer etwas zittrig. Dass sich ein Großteil der Leute ihren Reim darauf machten und zu sticheln anfingen, konnte ich dementsprechend noch verstehen. Aber musste er dann unbedingt so tun, als wären wir wirklich zusammen? An dem Abend stritten wir uns zum ersten Mal. "Kannst du mir vielleicht verraten, was deine Hand an meinem Arsch zu suchen hat?", schrie ich ihn an. "Falls das nicht klar ist: Ich will nichts von dir! Ich mag dich, ich komme gut mit dir aus, aber das hat nichts damit zu tun, dass ich mit dir zusammen bin! Schmink dir das ab!" Er hob bloß abwehrend die Hände. "Schon gut, ich hab's verstanden. Kein Fummeln mehr auf Partys, auch nicht wenn's nur ein Spaß ist. Okay. Aber kannst du mir mal verraten, warum du mich jetzt so anschreist? Ein einfaches Nein oder Stopp hätte es auch getan." "Warum?" Ich funkelte ihn wütend an. "Damit du auch auf jeden Fall verstehst, und zwar nicht nur geistig oder körperlich, dass ich nichts von dir will!" Er grinste und in dem Moment hätte ich ihn, so wie er war, in den Boden stampfen können. Dieses Grinsen war einfach zu viel. Und während ich wütend abrauschte hörte ich ihn nur noch leise, ganz leise hinter mir herrufen: "Ich find's gut, dass wir uns so gut verstehen!" Sein Lachen klang, als würde es zum Rauschen der Blätter dazugehören, so weit war er bereits weg. "Ich will nichts von dir, wirklich nicht! Verdammt noch mal, ich bin schwul!" Zu der Zeit hätte ich noch nicht gedacht, dass das alles irgendwann vorbei sein würde. Ich habe gesagt, dass ich nicht weiß, wie es genau angefangen hat oder ob es die ganze Zeit schon so gewesen war, dass wir uns so gut verstanden haben. Gegen Ende wusste ich genausowenig darüber, wie es jemals ohne ihn sein würde, wie darüber, wie es angefangen hatte. Schlussstrich war an einem Abend, an dem ich drei oder vier Atemnotattacken hintereinander gehabt hatte. "So kann das nicht weitergehen", hatte er gesagt. Dann unterhielten wir uns noch lange Zeit darüber, wie es wohl sein würde, wenn ich sterben müsste, wie ich mir den Tod vorstelle und der ganze Kram, über den man redet, wenn man nicht wirklich ein Thema hat. Sehr spät am Abend ging er dann nach Hause. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Ist es nicht ironisch? Genau an dem Platz, an dem wir über die Auferstehung von Leichen und das Leben nach dem Tod geredet haben, ist jetzt dein Grab. Eigentlich weiß ich nichts über dich. Wer ist zum Beispiel die Frau, die immer wieder die Blumen gießt? Oder der junge Mann, der immer zwischen zwölf und halb eins kommt, sich mit einem knappen Gruß neben mich setzt und traurig den Grabstein anstarrt, auf dem dein Name steht, bevor er geht? Der Friedhof hat etwas Beruhigendes. Hier ist es leise, wenn ich hier sitze muss ich mir kein albernes Gegiggel antun, wenn kleine Teenagermädchen auf ihren zu hoch geratenen Stöckelschuhen durch die Gegend stöckeln. Und vor allem kann ich nachdenken. Wann ich will. So viel ich will. Eigentlich ist es gar nicht so schlimm, das du gestorben bist. Schlimmer finde ich, das du mich verraten hast. Du hast mir versprochen, da zu sein wenn ich sterbe. Du hast versprochen, dass du mich nie alleine lässt. Und jetzt? Jetzt ist alles, was ich von dir habe, eine blasse Erinnerung und ein paar leere Worte, die mir durch den Kopf spuken, sobald ich die graue Inschrift anstarre. Und alles, was ich wirklich mit Sicherheit über die Beerdigung sagen kann, ist: der Sarg war dunkelbraun. Ich war noch nicht einmal eingeladen. Mir kommt es so vor, als wäre ich der Pausenclown gewesen, der noch nicht einmal der Familie vorgestellt werden muss. Der, dem man prinzipiell nicht sagt, dass man schwerkrank ist. Hattest du nicht etwas von Vertrauen gesagt? Was ist damit? Hattest du jemals auch nur eine Vorstellung von Vertrauen? Aber um genau zu sein: Ich kann das auch ohne dich. Ich brauche dich nicht, um leben zu können. Und um zu sterben erst recht nicht. Verräter. Junges Mädchen tot aufgefunden Am 16.08.2006 hat sich ein siebzehnjähriges Mädchen in der Bleichstraße das Leben genommen. Sie hatte sich in der Badewanne ihres Elternhauses mit einem scharfen Messer die Pulsadern aufgeschnitten, nachdem sie sich mit den verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln ihres Vaters betäubt hatte. Die Eltern, die von einem vierzehntägigen Urlaub zurückkamen, fanden die Leiche gestern gegen Mittag. Der Verwesungsprozess hatte bereits eingesetzt. Die Polizei schließt eine Verzweiflungstat nicht aus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)