Kurzgeschichten von Karopapier (das, was ich in ruhigen Minuten fabriziere) ================================================================================ Kapitel 5: Steppendämon ----------------------- Ruhig lag die Steppe da, nur der Wind wehte leise durch das Gras. Die Tiere, die es hier einmal gegeben hatte, waren schon lange weitergezogen, die Menschen, die hier gejagt hatten, lebten schon lange in den Städten. Nur einer zog noch hin und wieder in die Wildnis, schwarz gekleidet, bekannt, aber nicht gekannt. Geduldet, aber nicht respektiert. Nur er kannte das wahre Geheimnis der Stadt hinter den Hügeln, der Stadt, deren Geschichte schon lange erforscht werden sollte. Einer Stadt, von der jeder schon einmal gehört hatte, die aber niemand sehen wollte. Die niemand sehen sollte. Niemand. Die Stadt der Entscheidung. Feuer brannte in der Stadt. Es hatte zuerst keiner der beiden bemerkt, aber es war auf den zweiten Blick nicht zu übersehen. „Was mag da nur schief gegangen sein?“, fragte sich Ymbassar laut. „Ich weiß es nicht“, murmelte sein Begleiter, "aber es ist nichts Außergewöhnliches. Es passiert oft.“ Ymbassar fragte nicht, woher er das wusste. Das war Teil ihres Abkommens: Entweder sein Begleiter erzählte etwas von sich aus oder er ließ es bleiben. Sobald Ymbassar nachhakte würde der schwarze Reiter auf dem Apfelschimmel, der so gut mit seinem Sarazenenschwert umgehen konnte, ihn verlassen. Und er würde erst wiederkommen, wenn Ymbassar ihn mindestens einmal gebraucht haben würde. Auch das war ein Teil der Abmachung. Keine Fragen. Weder über sein Ziel, noch über seinen Führer. Aber auch er hatte einen Weg gefunden, zusätzliche Informationen herauszufinden, ohne fragen zu müssen. „Ich würde es begrüßen, wenn du mir erzähltest, was du weißt.“ Der Reiter schüttelte den Kopf. „Dein Trick, um aus mir vielleicht noch mehr herauszubekommen, funktioniert auch nur dann, wenn ich denke, dass es so in Ordnung ist. Ich kann dir nicht mehr erzählen. Du magst es für listig halten, mich zu bitten statt zu fragen, doch lass dir gesagt sein, das auch eine Bitte eine Frage sein kann. Wenn auch nicht in der Art und Weise, wie ihr eure Fragen zu formulieren pflegt.“ Er zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Nur noch ein Teil des Kinns war zu sehen und Ymbassar fragte sich nicht zum ersten Mal, wie der Krieger es schaffte, trotzdem alles so scharf zu sehen. Sie ritten weiter. Je näher sie der Stadt kamen, desto durchdringender wurde der Geruch von verbranntem Fleisch. Schließlich musste sich Ymbassar ein Tuch vor den Mund halten, um nicht erbrechen zu müssen, und auch sein Pferd wurde immer unruhiger und zitterte trotz der Hitze. Sobald sie aus der Gegend raus wären, würde Ymbassar drei Kreuze machen, mindestens. Und er war alles andere als gläubig. Dem Schwarzgekleideten schien es nichts auszumachen, er lenkte sein nervös tänzelndes Pferd mit jahrelang trainierter Sicherheit. Ymbassar staunte. Dass der Reiter sein Pferd gänzlich unter Kontrolle hatte, das war ihm schon von Anfang an aufgefallen, doch die Art und Weise, wie er sein Pferd beruhigte, hatte Ymbassar noch nicht gesehen. Dazu war er immer zu weit hinten oder zu weit vorne gewesen. Jetzt sah er dem Ganzen fasziniert zu. Während sein eigenes Pferd schon fast ausbrach und nur wegen seiner Erfahrung auf Schlachtfeldern und seiner gutmütigen, vertrauensvollen Art noch gehorchte, war das Pferd des Reiters sehr scheu und sehr stürmisch, ein reinrassiger Araber, der bei jeder Kleinigkeit durchging. Doch in diesem Moment war es noch ruhiger als Ymbassars, obwohl die Zügel des Mannes locker hingen. Ymbassar hatte sie, soweit er sich erinnern konnte, noch nie gespannt gesehen. Dafür konnte er durch den leichten Stoff der Hose hindurch die Muskeln des Reiters spielen sehen und er bewunderte ihn für seinen faszinierende Umgangsweise mit Tieren. „Hör zu, ich kann hier nicht weiterreiten", sagte er, als er das Tier gar nicht mehr beruhigen konnte. "Ich bin ein guter Reiter, aber das Pferd weigert sich, weiterzugehen. Es ist kurz davor, auszubrechen. Können wir hier nicht eine Pause machen, bis sich die Pferde an den Geruch gewöhnt haben oder sich zumindest nicht mehr ganz so sehr daran stören?“ Doch der Reiter antwortete nicht. Ymbassar seufzte. Keine Fragen stellen. Denk an die Abmachung. Keine Fragen. Schließlich holte er tief Luft. „Ich würde gerne rasten, um mein Pferd und mich an diesen scheußlichen Geruch zu gewöhnen.“ Der Reiter drehte den Kopf zur Seite. „Du solltest dich mehr an die Abmachung halten, Fremder. In meinem Volk wird jemandem, der sein Wort nicht hält, das Herz bei lebendigen Leib herausgeschnitten." Ymbassar zuckte zusammen, was der Fremde mit einem grausamen Lächeln zur Notiz nahm. Den Teil hatte er vergessen. Ab dem Ende dieses Tages, da war er sich sicher, würde er nie wieder dieses Wort benutzen. Abmachung. Der Schwarze lachte kalt. "Dieses Mal werde ich dich zumindest noch am Leben lassen, aber du solltest dich besser beherrschen." Ymbassar schwitzte. Keine Forderungen stellen. Ein Teil der Abmachung. Warum nur musste dieser Mann ihn nur so unter Kontrolle haben? Warum konnte er, Ymbassar, ihn nicht allein schon mit seinem Tonfall einschüchtern? Bis jetzt hatte das doch bei jedem geklappt, mit dem er Geschäfte gemacht hatte, warum nicht bei ihm? Der Reiter schien zu wissen, was in ihm vorging. Sein Lächeln wurde zu einem schneidenden, unheimlichen Grinsen. "Im Übrigen können wir gar nicht rasten. Wenn wir jetzt rasten, leben wir morgen Abend vielleicht nicht mehr. Und das würde ich gerne vermeiden.“ Er sah auf Ymbassars Pferd, dann auf Ymbassar selbst. „Aber ich denke auch, dass es besser ist, wenn wir die Pferde laufen lassen und zu Fuß gehen. So nervös, wie dein Pferd ist, sonderbarer Spion, würde es dich nicht einmal mehr drei Meter zum Ziel tragen. Es ist ein Wunder, wie du überhaupt noch im Sattel bleiben konntest ohne dass es dich abgeworfen hat.“ Aus seiner Stimme schwang beißender Spott mit. "Auch wenn du für die Verhältnisse in deiner Stahlwelt ein guter Reiter sein magst. Hier bist du für einen Berittenen einfach nur eine Schande." Ymbassar seufzte. Dass er einen Spion genannt wurde, gefiel ihm immer weniger, je öfter der Reiter es tat. Er würde so froh sein, wieder an seinem Buch weiterschreiben zu können, so froh. Seine Gedanken schweiften ab, zu seinem neuen Haus, seiner Frau, seinen beiden Söhnen. Dann fiel ihm wieder ein, wo er war und was er hier tat und setzte sich wieder grade in seinen Sattel. „Aber was machen wir ohne unsere Pferde?", fragte er, um seine Unaufmerksamkeit zu überspielen, "wir können nicht zu Fuß den gesamten restlichen Weg zurücklegen.“ Doch der Reiter stieg bereits ab. „Näher als bis an die Stadtmauern kommen wir mit den Pferden so oder so nicht, denn selbst der erfahrenste Reiter kann sie dann nicht mehr vorwärts bewegen. Wir müssten sie anbinden, wenn wir auf ihnen zurückreiten wollten, aber dann wäre das ihr sicherer Tod. Wir können sie nicht mitnehmen. Ganz abgesehen davon ist die Stadt kein Ort für Pferde, es ist viel zu gefährlich. Nein, wenn ein Spion schon freiwillig in seinen eigenen Tod läuft, dann sollte er seinen Egoismus hintenan stellen können. Immerhin sind auch Pferde nur Lebewesen, und auch wenn sie dem Menschen gehorchen, so sind sie doch oft intelligenter als ihre Herren und haben ein Recht auf ihr Leben. Wir lassen sie laufen.“ Ymbassar konnte sich nicht mehr zurückhalten. In einem plötzlichen Wutanfall stellte er sich im Sattel auf, der bedenklich knarzte. Er ignorierte es und schrie den Fremden an. „Wenn es so gefährlich ist, in die Stadt zu gehen, warum begleitest du mich dann? Wer sagt, dass du nicht einfach ein ganz normaler Pferdedieb bist, der sich eine neue Methode ausgedacht hat? Warum ist es so gefährlich? Warum darf ich keine Fragen stellen? Was ist an der Stadt so gefährlich, dass ich nicht hinein darf?“ Der Reiter sah ihn lange und ausdruckslos an und drehte sich dann mit dem Gesicht zur rauchenden Stadt. Das Schweigen, das herrschte, wurde immer unerträglicher und Ymbassar kam sich, noch immer im Sattel stehend, lächerlich vor, aber er wagte es nicht, noch etwas zu sagen. Sein plötzlich aufgekommener Mut hatte ihn schon verlassen, bevor er das letzte Wort gesagt hatte, und nur sein Stolz hielt ihn noch in seiner Position. Schließlich fing sein Führer wieder an zu reden, allerdings so leise, dass Ymbassar sich anstrengen musste, um ihn verstehen zu können. „Ich müsste schon lange nicht mehr an deiner Seite verweilen, Spion. Aber wir sind schon so weit gekommen, dass es jetzt auch keinen Unterschied mehr macht. Nur die, die vertrauen, können in die Stadt hinein. Vertraue mir und ich werde dich hineinführen können. Lass dein Pferd laufen. Gehe mir nach. Ich führe dich auf einem alten Weg in die Stadt, den schon die Priester damals nutzten, als sie noch bewohnt war. Folge mir einfach.“ Er ging voraus. Ymbassar zögerte. Ein plötzliches Aufwallen von Sympathie, das er sich nicht erklären konnte, hinderte ihn daran, umzudrehen – und warum sollte der Mann ihn anlügen? Welchen Nutzen würde er davon haben? Schließlich siegte seine Neugierde. Es dauerte einen Moment, bis er den Krieger eingeholt hatte, und auch dann musste er für zwei Schritte des Schwarzen drei machen, doch das fiel ihm nicht weiter auf und er kümmerte sich nicht darum; er hatte sich bereits daran gewöhnt, dass der Reiter sportlicher war als er selbst, obwohl er um etwa zwei Köpfe kleiner war als Ymbassar. Zusammen kamen sie an der Mauer an. Sie war noch bemerkenswert gut erhalten, doch auch hier war der Geruch nach verbranntem Fleisch unerträglich, obwohl der Wind sehr stark in die andere Richtung wehte. Ymbassar sah sich die Mauer genauer an. Sie war komplett, nichts deutete auf einen Angriff hin. Nicht ein einziger Stein schien zu fehlen, die Holzbrücke, die über den Graben führte, sah aus, als wäre sie erst vor kurzem gebaut worden. Ymbassar lief es kalt den Rücken hinunter. Warum war die Stadt wohl aufgegeben worden? Hatten ihn nicht die Bewohner des Dorfes vorgewarnt, dass er sich auf viele Unannehmlichkeiten vorbereiten sollte? Woher kam der Gestank, wenn hier niemand lebte? Wie wohl der Reiter darauf reagierte, dass alles so friedlich war? Doch als Ymbassar sich umsah, war der Kämpfer nicht mehr da, dafür hatte sich das Tor weit geöffnet und er konnte die Fußspuren des Schwarzen sehen. Sie führten mitten in die Stadt. Außer den Fußspuren war von ihm nichts mehr zu sehen. Vorsichtig folgte Ymbassar den Spuren, das Schwert gezückt. Kein Laut war zu hören. Ymbassar ging um die nächste Ecke und ließ beinahe sein Schwert fallen vor Ehrfurcht. Vor ihm ragte ein riesiger Tempel aus der Erde, der größte, den er je gesehen hatte. Langsam ging er näher heran, die Augen ununterbrochen auf die dunkelrote Kuppel gerichtet. Dann betrat er den geweihten Ort. Er fand sich in einem riesigen Saal wieder, an den Wänden waren riesige Wandbemalungen zu sehen. Er ging näher. Es handelte sich um Szenen in diesem Raum, Menschen krümmten sich ohne ersichtlichen Grund auf dem Boden, über ihnen ein furchterregender Priester. Andere wurden von Pferden zertrampelt, von Hunden zerfleischt oder gepeitscht, bis ihnen das Blut die Beine hinunterlief. „Beeindruckend, nicht wahr?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Erschrocken drehte sich Ymbassar um und stieß mit dem Sprecher zusammen. Vor ihm stand der Schwarze, so nah, dass er seine Körperwärme spüren konnte. Ymbassar fragte sich, warum er ihn nicht hatte kommen hören. „Dies hier ist eine Stadt der Toten", erklärte ihm der Schwarze, mit einer viel dunkleren Stimme als der, die er auf dem Ritt gehabt hatte. "Die Priester lassen die Dorfbewohner in Frieden, weil sie dafür die Touristen opfern. So ist die Regel. Keiner darf Fragen stellen, auch das ist die Regel. Wenn jemand Fragen stellt, ist er des Todes. Auch das ist die Regel. Wer keine Fragen stellt, verwandelt sich in ein Pferd und wird auf immer die Freiheit der Steppen genießen dürfen. Denn jede Münze hat zwei Seiten. Auch das ist die Regel.“ Ymbassar spürte einen stechenden Schmerz, der sich rasend schnell in seinem gesamten Körper ausbreitete. Er stöhnte. „Das ist der Preis dafür, dass du die ganze Zeit gefragt hast", fuhr der Fremde fort, "der Preis dafür, dass du mir die ganze Zeit über misstraut hast und der Preis dafür, dass du mir im entscheidenden Moment nicht gehorcht hast. Der Preis für dein ganzes, verdammtes Leben. Der Preis dafür, dass du so neugierig warst. Ich werde dich umbringen, langsam und qualvoll. Und du wirst nichts dagegen tun können.“ Ymbassar bekam keine Luft mehr. Langsam sank er auf den Boden. Das Stechen ließ nach, doch das merkte er schon nicht mehr. Das Letzte, was er in seinem Leben sah, waren spitze, lange Zähne, die ihn unter einer schwarzen Kutte heraus spöttisch anblitzten. Der Schwarze kniete sich neben ihn und überprüfte seinen Puls. Dann drehte er sich langsam um und ging hinaus, um den nächsten Neugierigen zu holen. Sein Pferd, jetzt wieder ganz ruhig, stand vor den Toren, und blickte ihn aus seinen ruhigen, dunklen Augen traurig an. "Ja", sagte er, "es ist nicht schön für dich, nicht wahr? Aber es muss sein. Die Götter wollen es so. Und nicht jeder kann so sein wie du. Hundert Jahre sind es seit damals ... oder vielleicht mehr. Du wirst es besser im Gedächtnis haben als ich." Er nickte und schwang sich auf den breiten Rücken des Tieres. "Ja", sagte er wieder, und das Pferd trabte langsam an die Mauer, als wollte es sich verabschieden, "so wie es aussieht, wirst du noch eine Weile lang dienen dürfen. Keiner hat sich bis jetzt als würdig erwiesen, aber eins kann ich dir versprechen: Wenn es jemals wieder jemanden mit so reinem Herzen geben wird wie dich, dann werde ich dich nicht mehr in meinem Dienst behalten. Auch wenn du noch so oft beteuerst, dass du dableiben möchtest, ich will dir die Schreie ersparen.. Und nun lauf zurück zum Dorf, Sohn des Schicksals, und hoffe. Vielleicht wird der Nächste deine Freiheit bedeuten." Und während der schwarze Reiter und sein Pferd auf dem Rückweg ins Dorf waren, bildeten sich auf dem Boden des Tempels rote Linien, flossen wie Blut auf den Leichnam Ymbassars zu und vereinigten sich dort. Dann fingen seine Haare an zu rauchen und innerhalb von wenigen Sekunden stand das, was noch von ihm übrig war, in Flammen. Der Stependämon hatte sich sein Opfer geholt. Hosted by Animexx e.V. 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