upside down von Traumweber ================================================================================ Kapitel 9 - "death penalty" --------------------------- Kapitel 10 – „death penalty“ Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sein Zimmer verließ und den breiten Korridor in Richtung Bibliothek entlang ging. Es hatte ihn unendliche Überwindung gekostet, Andrea zu gewähren, ihm von Erique zu erzählen. Natürlich hatte der elegante Vampir seinen innerlichen Kampf in jeder Nuance mitverfolgen können, doch er wartete bis Alexander bereit gewesen war, die Aufforderung laut auszusprechen. Er hatte ihm erzählt, was aus Erique geworden war, wie er jeden, wo er nur konnte provozierte. Hatte sich mehrere Male in verschiedensten Wortlauten entschuldigt und ihm auch erzählt, dass Eriques eigentlicher Charakter sich gar nicht so sehr verändert hatte. In der festen Überzeugung es ja doch nicht mehr von Erique selbst zu erfahren, lies er sich von Andrea aus dessen Leben erzählen. Es erschreckte ihn bei weitem nicht so sehr, wie Joèl, was er über ihren gemeinsamen Liebhaber hörte. Hatte er doch schon oft geahnt, dass hinter dessen Engelslächeln viel Tieferes steckte. So naiv konnte kein Mensch überleben, ganz davon abgesehen, dass er ihm die Geschichte mit der Amnesie nie vollständig abgekauft hatte. Es war ihm derzeit schlicht und ergreifend gleichgültig gewesen. Er liebte die Person, die Erique ihn sehen lies und genoss die Zeit, hatte er doch im Gegensatz zu Joèl, der sich ein 'happy ever after' versprach, stets gewusst, dass ihr Glück zeitlich begrenzt war. "buh!" Alexander wirbelte erschrocken herum. Hinter ihm stand Erique und kicherte amüsiert. "Wow, du schaust als hättest du einen Geist gesehen." Alexanders Hände wurden feucht. Er war unglaublich nervös. Nicht, weil er befürchtete, was Erique tun könnte, er fürchtete sich vor seinen eigenen Reaktionen. Der Junge kam näher, schnupperte demonstrativ in seine Richtung. "Hmmmm, du riechts gut." Automatisch wich Alexander zurück, Erique folgte, bis eine Wand den Professor stoppte. "Oh Alex, du willst doch nicht der Einzige von uns sein, der nicht weiß, wie unglaublich fantastisch sich so ein Vampirbiss anfühlt, oder?" Korrektur: Jetzt hatte er Angst vor dem was Erique tun könnte. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, seine Knie wurden weich und das Atmen fiel im schwer, als Erique nun ganz nah bei ihm stand, sich seinem Hals entgegen reckte. Dann erklang sein lautes Lachen, als er Abstand zwischen sie brachte. "Bin ich nicht großartig Alexander? Andere Können solch köstlichem Blut nicht widerstehen, wenn sie noch so jung sind, wie ich!" Er glaubte ihm nicht. Kein Wort. "Weißt du schon das Tollste? Ich kann deine Gedanken hören. Ich kann sie spüren. Weißt du, ich wollte bei dir bleiben. Aber wenn du mir so sehr mistraust, wie soll ich dir da glauben, wenn du sagst, du würdest mich lieben?" Das war nicht fair. Alexander ballte die Hände zu Fäusten. "Du hast dir insgeheim so lange gewünscht, dass ich Joèl für dich verlassen würde, obwohl du ganz genau wusstest, dass das nie passieren kann. Die Verwandlung hat mir die Augen geöffnet, weißt du? Aber du? Du schmeißt das weg mit deiner verdammten Angst. Naja, wahrscheinlich wäre ich jetzt für dich nur noch ein Forschungsobjekt." "Hör auf..." Er widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Es hätte nichts genutzt. Erique sandte ihm Bilder von sich auf einem OP-Tisch. Alexander über ihn gebeugt, ein Skalpell in der Hand. Sandte ihm Bilder wie Alexander seine Hand packte und unter eine UV-Lampe hielt. Sandte ihm... "Hör auf!" "Oh, ich tue doch gar nichts. Das sind Bilder, die ich aus deinem tiefsten Innern hole. Das sind deine ganz eigenen Vorstellungen. Das was du mit mir machen willst. Du enttäuschst mich Alex! Und ich dachte, du würdest mich lieben und dabei war diese Reise von Anfang an nur dazu gedacht gewesen, mich zu verwandeln!" Jetzt war Alexander froh über die Wand in seinem Rücken, andernfalls wäre er bestimmt schon auf den Boden gesunken. Bilder und Worte quälten ihn weiter, bis er kurz davor stand, nicht mehr zu wissen, was wahr ist und was gelogen. Plötzlich jedoch brach die Flut ab und Erique zog sich mit einem lauten Fauchen zurück. Verwirrt und verstört blickte Alexander sich um, wollte ein paar Schritte gehen, musste sich dabei aber weiter an der Wand abstützen. Nein, nach der Bibliothek stand ihm jetzt nicht mehr der Sinn. Er würde noch eine Nacht in seinem Zimmer verbringen und sich vielleicht morgen bei hellichtem Tag den Büchern widmen. Die ganze Zeit über drängten sich ihm die Bilder, die Erique ihm eingepflanzt... oder gefunden, hatte vor sein inneres Auge. Nein, das alles kam mit Sicherheit allein von Erique. Er würde solche Grausamkeiten nie auch nur annähernd in Erwägung ziehen. Seltsam bestärkt in diesem Gedanken fragte er sich zunehmend, warum der Junge das getan hatte. Es schmerzte und seine Schuldgefühle, die beiden jungen Männer hierhergebracht und damit ihre Leben zerstört zu haben, trieben ihn bald in den Wahnsinn. Doch er musste jetzt nicht damit fertig werden, dass Erique, wie er ihn kannte nun ein Vampir war, sondern Erique, wie er ihn kannte, beerdigen. Wenn es diesen Jungen je wirklich gegeben hatte, dann gab es ihn spätestens jetzt nicht mehr. Es erschreckte den 39-jährigen ein wenig, dass ihm dieser Gedanke weniger Probleme breitete, als der Erste. Vielleicht aber auch wirklich nur, weil er von seinem Schauspiel wusste. Weil er Andrea glaubte. Bedingungslos und ohne Verständnis für die Beweggründe, die ihn dazu bewegten. Überraschen einfach fiel es ihm, sich in den nächsten Nächten unter den Vampiren zu bewegen. Zwar versetzte es ihm einen schmerzhaften Stich, wenn er Erique sah, doch schnell tröstete ihn der Gedanke, dass er nur ein Vampir von vielen war, der in dem Körper seines ehemaligen Geliebten herumlief. Nicht gerade aufmunternd, aber verkraftbar. Oft erwischte er sich jedoch dabei, Erique zu beobachten, und schnell stellte er für sich fest dass er keinerlei Sympathie für das Wesen zu dem er geworden war empfinden konnte. Irrational, provokant. Alexander hatte bislang die nördlichen Schlosstürme und -kerker gemieden, wusste nur vom Hörensagen, welche Art Vampire dort hausten. Erique gehörte bald zu ihnen. Etwas, was ihm alle Anderen deutlich zu verstehen gaben. Immer wieder. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn eigenhändig durch eine der Verbindungstüren der Korridore werfen und sie hinter ihm verriegeln würden. Mehr Unbehagen bereitete es Alexander dann als Joèl die Bibliothek betrat. Niemand sonst war mehr anwesend, da die Sonne bereits aufging, auch wenn die Vorhänge das Licht aussperrten. Joèl hatte kurz mit dem Gedanken gespielt den so zerknirscht wirkenden Professor mit den dunklen Rändern unter den Augen links liegen zu lassen und im Nebenraum auf Bernard zu warten. Ihre Blicke trafen sich und er schlug nun doch seine Richtung ein, lies sich betont langsam auf den Stuhl sinken. "Sie sehen schlecht aus, Professor." In der kurzen Stille zwischen Ihnen nahm Alexander fahrig die Brille ab und rieb sich die Augen. "Es tut mir leid, Professor. Wäre ich nicht Vorreiter gewesen, vielleicht wäre Erique nie auf die wahnsinnige Idee gekommen,..." "Nein, Sie trifft da am wenigsten Schuld. Diese ganze Reise war bis hierher bereits eine Katastrophe. Alles aufbauend auf meinen Fehlern." Joèl konnte nicht anders. Er musste lachen. Leise nur. Kein böses Lachen. "Wollen wir uns jetzt unsere Schuldgefühle vorheulen? Ich hatte eine Abmachung mit Shatei, höchstwahrscheinlich wären Sie beide lebend hier herausgekommen. Ich glaube, sie brauchen sich um Ihr überleben keine Sorgen zu machen." Alexander setzte zu einer Entgegnung an, doch es genügte, dass Joèl seine Hand leicht hob, um ihn um Schweigen zu bitten. "Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Gerade der, der betrogen wird sollte doch am besten nachvollziehen können, was derjenigen mit dem er betrogen wird, für den Liebsten empfindet. Ich hätte Ihnen und auch Erique zumindest die Chance geben sollen, mit mir zu reden. Mein Verhalten war egoistisch und bei dem hohen Grad der Lebensgefahr unangebracht." Wieder musste Joèl ihn mit dieser Geste vom Widerspruch abhalten. "Außerhalb des Schlosses hätte ich Ihnen wohl eine reingehauen und dabei nicht ansatzweise ein schlechtes Gewissen gehabt, aber hier... " Joèl probierte ein Lächeln. Es fiel ihm noch schwer, und seine Augen erreichte es nicht. Selbstverständlich machte die Tatsache darauf achten zu müssen, dass das Fehlen von Reißzähnen, nicht auffiel, ein Lächeln nicht gerade einfacher. Alexandr schwieg. Er sah aus, als würde er eine ganze Menge sagen wollen, tat es jedoch nicht. Joèl fluchte innerlich. Wahrscheinlich erwartete der Andere, dass er schon aus seinen Gedanken wusste, was er ausdrücken wollte. Dieses Gespräch war gefährlich. Er musste jetzt also ganz genau aufpassen was er sagte. Zu seiner Rettung betrat Bernard die Bücherei und grüßte höflich. "Sie entschuldigen mich, Professor?" Ohne eine Erwiderung abzuwarten stand Joèl auf und folgte Bernard fluchtartig in dessen kleines Studierzimmer. Das war dann ja gerade nochmal gut gegangen. Ein ungewohnter Aufruhr herrschte zwei Tage später auf den Gängen. Joèl wendete sich verwundert dem verhangenen Fenster seines Schlafzimmers zu. Richtig, Er hatte nicht geirrt, die Sonne war längt aufgegangen. Was also war da los? Schnell schlüpfte er in eine Jeans und ein T-Shirt, um nachzusehen. Nicht noch mehr Überraschungen. Bitte nicht. Nicht wieder Ärger, Schmerz.... Er bog um eine Ecke, dann noch eine. Lief die Treppe hinunter, durch eine Tür, bis plötzlich Shatei vor ihm stand und ihm den Weg versperrte. "Du wirst es bereuen. Glaubst du mir diesmal?" Hatte er damit bezwecken wollen, dass Joèl seine Neugier herunterschluckte, so erreichte er mit diesen Worten das genaue Gegenteil. Der Magen des Jungen krampfte sich einen kurzen Moment schmerzhaft zusammen, um dann einem stetigen flauen Gefühl von Angst Platz zu machen. Sein Blick ebenso aggressiv wie vorsichtig. "Möglich, dass du erneut Recht hast, doch umso mehr will ich wissen, was hier los ist. Was soll das Theater, warum sind alle auf den Beinen?" Er schob sich an Shatei vorbei, der ihn gewähren lies. Ihm schweigend folgte. Stimmen und Fauchen führten sie in die Eingangshalle des Schlosses. In weitem Abstand zu der großen Flügeltür hatten sich zahlreiche Vampire versammelt, einige standen, saßen oder hockten auf der Treppe. Ein Flüstern, so leise und unverständlich, dass es an das Rauschen von Wind in Laubbäumen erinnerte war rings herum. Dann näherten sich Stimmen, johlend und lachend. Einige der Schaulustigen verstummten, andere knurrten, wieder Andere begannen zu kichern. Ein bösartiges, gehässiges Kichern. Joèl spürte, wie sich Shateis Hand einem Schraubstock gleich um seinen Oberarm schloss und das Ungute Gefühl in seinem Magen nahm zu. Eine Eskorte von fünf Vampiren, Erique in ihrer Mitte, kam aus einem der Gänge und das Fauchen um sie herum schwoll an. Zwei der Vampire hatten den Jungen links und rechts an den Armen gepackt und schleiften ihn mit während er sich, unartikulierte Laute des Protests von sich gebend, strampelnd zu wehren versuchte. Es dauerte einige unendlich wirkende Sekunden, bis Joèl wie vom Blitz getroffen klar wurde, was sie vor hatten. "Nein! NEIN!!" Aus einem Impuls heraus wollte er auf die Gruppe zurennen, doch Shateis unbarmherziger Griff lies ihm nicht einen einzigen Zentimeter Spielraum. Vor Wut und Panik zitternd verstummte er also. Unwillig mit ansehen zu müssen, was als nächsten geschehen würde und doch nicht fähig, den Blick abzuwenden. Umso näher sie der Tür kamen, desto lauter wurden Eriques Schreie. Unmenschlich. Wahnsinnig. Er zappelte, trat aus und doch brachten ihm diese Bemühungen ebenso wenig, wie Joèls soeben unternommener Versuch, von Shatei los zu kommen. Grotesk war das Bild der in schwarze Umhänge gehüllten Gestalten, von denen einer nun nach der Tür griff, was alle Umstehenden noch ein weiteres Stück zurückweichen lies, so als lauere dahinter eine Bestie, die hineinzustürmen drohte, sollte die Tür zu weit geöffnet werden. "Shatei tu doch was, verflucht!" "Das kann ich nicht." Wie bitte?! Joèl war außer sich. "Das kannst du nicht? Natürlich kannst du! Bring sie davon ab!" Keine Reaktion. Er würde nichts tun. Alles ging rasend schnell. Eine Seite der Flügeltür wurde nur einen Spalt geöffnet, Erique hinaus gestoßen und das Tor wieder verschlossen. Einige schrien auf, viele, sehr viele andere, jubelten. "NEIN!" Joèl wäre beinahe gestürzt, hatte er doch nicht damit gerechnet, dass Shatei ihn los lies, als er sich nun nach vorn warf. Er ging wohl nicht davon aus, dass Joèl nun noch etwas unternehmen könnte. Rechnete nicht mit den nächsten Schritten des Studenten, der so schnell bei den Toren war, dass dem Vampir keine Möglichkeit mehr blieb, ihn aufzuhalten, ehe das Sonnenlicht hereinfiel. Auch Joèl hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet und war hinausgeschlüpft. Es lag nicht in seiner Absicht, den Anderen zu schaden. Noch nicht! Erique kauerte unmittelbar vor seinen Füßen auf dem Boden, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf seine Hände. In Sekunden schnelle wurde die Haut erst leicht-, dann dunkelrot, Erique begann zu kichern, seine Stimme brach weg. In das Kichern mischten sich Schluchzer und Schreie. Brandblasen bildeten sich und platzen schon kurz danach auf, Eriques Schreie wurden schriller, bis er nur noch panische und schmerzverzerrt Kreischte. Vor Joèls Augen verbrannte ein Körper ohne Feuer. Er schüttelte die Starre, die ihn für einen Bruchteil der Sekunde befallen hatte ab und packte Erique mit festem Griff, schleifte ihn mit sich und stieß das Tor auf. Lautes Fauchen und Aufschreien schlugen ihm entgegen, als die Vampie, die näher an die Tore herangetreten waren, sich schnell vor den Sonnenstrahlen zurückzogen. Joèl warf seinen Ex-Freund regelrecht zurück in den Saal und stieß die Tür zu. Sofort war er bei ihm. Die gesamte Haut des Jungen war eine einzige nässende und stellenweise blutende Brandwunde. Seine Augen waren blutunterlaufen und verschleiert, der Mund ein ausgefranstes Loch ohne Lippen. Er schrie und kreischte nach wie vor, wand sich auf dem kalten Steinboden, der doch nicht in der Lage war, den brennenden Schmerz zu löschen. Mit einem Satz war Shatei bei ihnen, Joèl blickte hilfesuchend auf. Er selbst hockte neben dem sich windenden Vampir auf dem Boden, Shatei stand neben ihm, hoch über ihm aufragend mit einem mahnenden Blick. Schräg hinter ihm Andrea und Alexander. Alexander, der von Andrea gestützt wurde. Alexander dessen Blick starr auf Erique gerichtet einen Ausdruck hatte, als wäre er selbst es, der brennen würde. Erst jetzt bemerkte Joèl die Stille. Stille, bis auf Eriques Schreien und Wimmern. Er sah sich erschrocken um, sein Herz begann einen Takt schneller zu schlagen, aller Augen, bis auf die des Professors, ruhten auf ihm. Auf ihm, nicht auf Erique. Noch eine Sekunde. Zwei. Dann setzte sein Herz einen Schlag aus, seine Nackenhaare stellten sich auf und sein Magen drehte sich ihm um. Er hatte sich verraten. All die Wochen... er war nach draußen in das grelle, alles verbrennende Sonnenlicht gerannt und hatte nicht die kleinste Hautrötung aufzuweisen. Eine nasse Hand packte ihn plötzlich am Handgelenk. Riss ihn hinunter. Ehe er wusste, wie ihm geschah, bohrten sich spitze Zähne in seinen Oberarm. Erique... Nach kurzem Erschrecken, atmete Joèl tief durch. Es war in Ordnung. Das wohlige Kribbeln, der laute rythmische Schlag setzten wieder ein. Er schloss die Augen. Spürte wie sein Blut durch seinen Arm strömte. Diese Wunde würde nie und nimmer ausreichen, um Erique genug Blut zu geben, sich zu heilen. Joèl wollte ihm sein Handgelenk darbieten. Sollte er zubeißen. Sollte er alles nehmen, was er brauchte. Er würde ihm alles geben, was er geben konnte. Er wollte es so. Dahingleiten, sterben. Joèl sank immer tiefer in diesen Gedanken und verspürte nicht die leiseste Furcht davor, Erique sein Leben zu überlassen. Nein, ganz im Gegenteil. Dieser Gedanke wurde immer angenehmer und reizvoller. Er konnte sich schon gar nicht mehr vorstellen, die Augen je wieder zu öffnen oder seine Lungen noch einmal mit Luft zu füllen, als es plötzlich vorbei war. Verwirrt sah Joèl sich um. Shatei hatte ihn auf die Füße gezogen, Bernard hielt den jetzt wieder tobenden Erqiue fest gepackt. Seine Sinne waren so sehr geschärft, dass er in Sekundenbruchteilen die gesamte Situation um sich erfasste. Er sah Shatei an, dessen Blick schmerzerfüllt und doch tröstend auf ihm ruhten, Andrea, der einen ähnlichen Blick in Renadalls Richtung warf, ihn immer noch stützend. Nur kurz huschte sein Blick zu Bernard hinüber. Bernard, der aussah, als habe man ihn gefoltert. Als bereite es ihm Schmerzen, Erique fest zu halten. Alexanders Augen waren gerötet, Tränen liefen ihm über die unrasierten Wangen. Ein Ausdruck in seinen Zügen als habe man ihm ein Todesurteil ausgesprochen, die Schlinge des Galgens bereits um seinen Hals gelegt. Der Augenblick in dem Joèl klar wurde, dass der Gedanke an eine Hinrichtung so grausam korrekt war. Er hatte eine Hinrichtung gestört, doch das Todesurteil stand. Im Augenwinkel nahm er wahr, wie Cesario, ein Vampir wie aus einem typischen Horrorfilm, mit langen Spitzgefeilten Fingernägeln, rotumrandeten, gierigen Augen, langem pechschwarzen Haar und dem ständigen Ausdruck eines Raubtieres in den Zügen, in die Hocke ging, die Zähne bleckte und im nächsten Moment schon auf Erqiue zusprang und ihn Bernards Armen entriss. Eriques Schreien ging in einem gurgelnden, übelkeiterregenden Laut unter, als Cesario seine Zähne in dessen Kehle schlug. Dunkelheit legte sich über sein Blickfeld, als Shatei ihm seine kühlen Hände vor die Augen drückte. Doch waren die realen Bilder wirklich schlimmer, als das, was Joèls Vorstellungskraft ihm aufgrund dessen, was er hörte ausmalte? Mit Nachdruck versuchte Joèl sich umzudrehen, würgte. Dann hörte er Shateis tiefe Stimme, spürte sie in seinem zitternden Körper vibrieren. "Ich bin bei dir, Liebster. Es ist vorbei." Sollten diese Worte ihn beruhigen? Shatei hatte ihn mit sich in seine Gemächer genommen, ihn erst einmal unter die Dusche gestellt. Und tatsächlich half ihm das, wieder ein wenig 'aufzuwachen'. Wie sehr sich Shatei auch gewünscht hatte, das Thema 'Erique' endlich abhaken zu können, was nun geschehen war ärgerte ihn ungemein. Joèl hatte sich gerade erst wieder gefangen. Auch wenn Joèl wann immer der Name seines Ex-Freundes fiel, der Schmerz anzusehen war. Wenn er immer einige Sekunden brauchte, den Blick abzuwenden, wenn der Jungvampir einen Raum betrat, er für immer ein Bestandteil seines Lebens sein würde, so hatte Shatei doch das Gefühl gehabt, Joèl habe begonnen, sich langsam zu erholen. Ganz allmählich in seinem Tempo und auf seine Art begonnen zu verarbeiten, was geschehen war und sich mit der neuen Situation zurechtzufinden. So wie er es auch getan hatte, als seine Realität ihm entrissen wurde. "Du bist so unglaublich stark Joèl. Es ist nicht fair, was du hier erleiden musst." Nicht fair, was er hier erleiden musste? Shatei hatte nicht gerade wenig damit zu tun, war daran nicht sonderlich unschuldig! Dennoch lehnte Joèl sich an ihn, verbarg sein Gesicht an dessen Halsbeuge, genoss die kühlen Finger, die seinen Nacken streichelten. Schnell beschloss Joèl für sich, den Schmerz erst einmal zu verdrängen. Tief in seinem Innern einzuschließen. Er würde genug Zeit finden, sich ihm hinzugeben. Wenn er Pech hatte, mehrere Jahrhunderte. Denn das war das Thema um dass er sich jetzt sorgen sollte. Er hatte die Wette verloren. So nahe am Ziel war er in die Sonne gerannt und hatte dem gesamten Schloss gezeigt, dass er sie an der Nase herumgeführt hatte. Wenn Shatei nicht dafür sein Leben als Wetteinsatz einforderte, dann würden es die Anderen spätestens nach seiner Rückreise tun. Aus Wut und Entrüstung, was ein Sterblicher sich gewagt und damit dann auch noch Erfolg gehabt hatte. Die gesamte Nacht bereitete ihm dies Kopfschmerzen, Shatei jedoch vermied es, ihn darauf anzusprechen, aus liebevoller Rücksicht. "Shatei ist in diesem Thema in der Tat schwer einzuschätzen. Er ist sehr besitzergreifend und ich habe ihn nie so vernarrt in etwas gesehen, wie in dich. Andererseits wäre es möglich, dass seine Gefühle ihn dazu bewegen, dir deinen Wunsch zu erfüllen. Immerhin kann er sich wohl seine Chancen bei dir ausrechnen, wenn er dich gewaltsam zu sich nimmt. Damit hätte er sich diese Wette gleich sparen können." Bernard war solch ein Schatz. Er hatte laut gelacht als Joèl den Nebenraum betrat, war aufgesprungen und hatte ihm applaudiert, so begeistert war er von dem, was Joèl gelungen war. Er fing sich allerdings schnell und erkundigte sich danach, wie er sich fühlte, Joèl beruhigte ihn jedoch vorerst, dass er sich damit erst wesentlich später auseinandersetzen wolle. "Du darfst nur selbstverständlich nicht vergessen, dass Andrea auf ähnliche Weise verlassen wurde. Er lies ihn gehen und hat nie wieder etwas von seinem Sohn gehört. Shatei hat natürlich Angst, dasselbe zu erfahren." "Also bist du in diesem Punkt genauso unsicher, wie ich." Joèl wurde das Herz schwer. "Ich werde wohl mit ihm reden und mich überraschen lassen müssen. Ich danke dir für alles." Er stand auf, wurde an der Tür jedoch noch einmal zurückgerufen. "Natürlich wünsche ich mir, dass du den für dich richtigen Weg wählen kannst, aber ich muss zugeben, dass ich nicht traurig darum wäre, wenn er dich hier halten würde. Du bist ein äußerst angenehmer Gesprächspartner." Bei diesen Worten verneigte er sich vor ihm. Welch ein rührender Abschied, wenn es denn wie im besten Falle erhofft einer sein sollte. Als Gesprächspartner von jemandem wie Bernard geehrt zu werden bedeutete sehr viel, das wusste Joèl. Gerade da er dem 23-jährigen noch ein wenig Zeit einräumen wollte schaffte dieser es erneut den Vampir zu überraschen, als er kurz nach Mitternacht neben dessen Sessel in die Knie ging und so unglaublich sanft und etwas nervös zu ihm aufsah. "Ich war so nah dran. Ich habe die Motoren des Flugzeuges schon förmlich gehört... Forderst du meinen Wetteinsatz dennoch ein?" Verflucht was sollte er denn darauf erwidern? Mit den Fingerspitzen strich er dem Studenten eine braune Haarsträhne aus der Stirn. "Seit ich dich das erste mal gesehen habe wollte ich nichts anderes als genau das. dich in meinen Armen halten und zusehen, wie du zu einem von uns wirst. Mein. Für die Ewigkeit." Joèl richtete sich auf, setzte sich auf die Armlehne des Sessels. "Aber?" Kurz blitze es in den Augen des Vampirs, wollte er sagen es gäbe kein 'Aber', dann seufzte er jedoch. "Willst du wirklich zurück? Was versprichst du dir davon Joèl? Du wärst so wunderbar geeignet für diese Art von Leben. Ich..." Joèl legte einen Finger an seine Lippen. "Es bedarf keiner Rechtfertigungen, mich hier zu halten. Ich habe diese Wette verloren und Wettschulden sind Ehrenschulden, Shatei. Du hast dich an alle Bedingungen gehalten..." "Andrea..." Wieder der Finger um seine Unterbrechung im Keim zu ersticken. "Andrea habe ich geweckt. Hätte ich ihn nicht erneut aufgesucht, ihn nicht neugierig gemacht, dann wäre Erique noch am Leben, und ich wahrscheinlich nicht in das Tageslicht gelaufen. Eine Kette von Ereignissen, die ich ganz allein ins Rollen gebracht habe. Ich kann dich nur bitten, uns mir zu liebe gehen zu lassen." Shatei wendete den Blick ab. Ihm zu liebe? "Du würdest nicht zurechtkommen. Erinnerst du dich? Ich habe dir deine Realität zerstört." Ja damit hatte er Recht. Joèl wusste nun, dass er sein Leben lang falsch gelegen hatte mit seiner Einstellung nur zu glauben, was er sah. Doch viele Menschen glaubten an Übernatürliches und lebten ein vollkommen normales Leben. Warum sollte er das nicht auch können? "Gib mir noch eine Chance, Shatei. Ich schaffe das. Ich kriege mein Leben wieder in den Griff, ich brauche nur die Möglichkeit es überhaupt zu versuchen." Wieder breitete sich Schweigen zwischen Ihnen aus. Dieses mal lies Joèl ihm die Zeit und wartete geduldig, wagte nicht, sich zu rühren. Alexander würde gehen dürfen. Joèl hatte vor wenigen Stunden mit Andrea gesprochen. Dieser hatte ihm zunächst von aller Hoffnung auf ein Weiterleben als Sterblicher abgeraten und ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Alexander sich gegen eine Rückreise entschieden hatte. Joèl wusste, der Professor würde sich nicht verwandeln lassen. aber vielleicht würde er, wie Felix, von den Vampiren als Mitglied dieser Gemeinschaft akzeptiert werden. Er selbst hatte von vorherein geahnt, dass er mit dieser Wette sein Todesurteil unterschrieb. Das Urteil stand. Jetzt kam es auf den Henker an, ob sie vollzogen oder aufgeschoben wurde. An ein 'Aufgehoben' wollte Joèl gar nicht erst glauben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)