Die letzten zehn Tage von Karopapier ================================================================================ Kapitel 1: Von mir und anderen Katastrophen - überarbeitet ---------------------------------------------------------- Schule. Für viele ist es einfach ein Ort wo man sich langweilt, manche freuen sich darauf. Wieder andere sehen in ihr einen Ort des Grauens. Und zu denen gehörte ich. Vielleicht gab es ja einen speziellen Grund dafür, vielleicht war es einfach nur alles zusammen. Klar war aber, dass ich nur noch zur Schule ging, weil Schulpflicht war. Mit den Lehrern verstand ich mich ganz gut, auch wenn es welche unter ihnen gab, die ich nicht leiden konnte und die mich nicht leiden konnten. Die anderen Schüler, die in meiner Klasse saßen, hätte ich vielleicht irgendwann mal mögen können – wenn sie nicht ein Opferlamm gebraucht hätten. Leider war dem nicht so. Unsere Klasse war die lauteste der ganzen Stufe, die Mädchen die intrigantesten, die Jungen die gewalttätigsten. Im Unterricht konnte man froh sein, wenn man überhaupt etwas verstand, und wenn es sein Nachbar war, der einem etwas sagen wollte. Tests mit einem Notendurchschnitt über 3,6 waren selten, Beschwerden bei der Rückgabe und Lehrergespräche an der Tagesordnung. Blaue Briefe hatte so ziemlich jeder der Klasse mal bekommen, wenn nicht sogar jedes Jahr mindestens einen. Meiner beschränkte sich auf Chemie, aber das lag am Fach. Ich hatte professionelle Nachhilfe bekommen, mein Lehrer gab sich mit mir besondere Mühe und ich durfte sogar Englisch schwänzen, um bei anderen Klassen in Chemie weiterzukommen. Es half nichts. Meine Noten in Englisch blieben gut, die in Chemie blieben schlecht. Als wäre das noch nicht genug, als wären die schlechten Noten alle erst das kleinere Übel, gab es dann noch die Klassenbeste. Sie hatte, soweit ich weiß, noch nie einen blauen Brief, dafür umso mehr Elterngespräche und auch die Lehrer, die normaler Weise in jeder Situation einen kühlen Kopf bewahrten, konnten sich nach spätestens einem Jahr nicht mehr beherrschen und schrieen sie an. Sie selbst behauptete, sich einfach nur keine unfairen Noten und Kommentare gefallen zu lassen, ich war immer wieder der Meinung, sie könnte sich nicht unterordnen. Ihre Respektlosigkeit gegenüber sämtlichen Lehrern war nur noch durch ihre Arroganz zu übertreffen, mit der sie ihre Noten einkassierte. Gab es auch nur ein Fach, in dem ihre mündliche Note schlechter war als die eines anderen Schülers oder war sie schlechter als eine zwei, brach über ihr ihre wohlgeordnete schwarz-weiß-Welt zusammen. Dann kamen die bereits erwähnten Beschwerden, denen sich auch ihre Banknachbarn anschlossen, und wenn das nichts half, erbittert geführte Elterngespräche. Im Zeugnis eine Mitarbeitsnote schlechter als eins? Ein Weltuntergang. Einen Zeugnisdurchschnitt von schlechter als zwei? Das Ende für sie und aus ihrer Sicht wohl auch für den Rest des Universums. Ich denke, spätestens dem Tierarzt von nebenan war ihr Schicksal so ziemlich egal, ihr Tennislehrer wäre froh darum und ein Großteil ihrer Lehrer ebenfalls. Ganz abgesehen von mir, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass alle, denen es um sie Leid täte, zu ihrer Familie gehörten – oder zu ihrer Clique. Freunde waren das jedenfalls keine. Dann war da noch dieser eine kleine Typ, der mit seinen dummen Sprüchen seine Körpergröße wohl komprimieren wollte. Er war intelligent, das will ich nicht abstreiten, aber er war einfach ein ... nun, "Bilderbuchmacho" trifft es nicht ganz. Er war durch und durch einfach nur arrogant, eingebildet, vielleicht unsicher und deswegen so ein mieser – der Ausdruck sei eurer Phantasie überlassen. Ich konnte ihn von der fünften Klasse an nicht leiden, und wenn ich ehrlich bin, er konnte nett sein. Vor allen Dingen dann, wenn er was wollte, wenn er etwas nicht wollte und du allein das verhindern konntest (was allerdings wieder auf das erste hinauslief) und wenn er gerade krank war. Dann war er so geschafft, dass er noch nicht mal mehr für seine Fiesheiten Energie hatte. Dafür reichte schon ein einziger kleiner Schnupfen, aber bis er den hatte, musste man schon wirklich Glück haben. Ich weiß, ich erzähle so, als gehörte ich nicht dazu, aber so war es auch. Ich war in ihrer Klasse, ich saß zwischen ihnen an meinem Platz, ich schrieb ihre Arbeiten mit, aber ich war keiner von ihnen. Denn so wie diese beiden Beispiele waren alle Leute in meiner Klasse. Manche weniger schlimm, manche einfach nur Mitläufer. Und manche waren zu dumm, um überhaupt etwas von beidem zu sein. Die lachten dann mit, wenn es etwas zu lachen gab, auch wenn es nicht lustig war, aber hielten sich sonst aus allem raus. Es sei denn, es gab etwas, wo man lästern, ärgern, provozieren konnte. Und ich war da der perfekte Anlaufpunkt. Ich wehrte mich nicht, ganz einfach, weil es eh keinen Sinn hatte. Ich beschwerte mich nicht, weil die Lehrer und meine Eltern gegen diese verzogenen Rotzbengel, Zicken und regelrechten Arschlöcher eh keine Chance hatten. Spätestens dann, wenn sie ihre Eltern zu Hilfe riefen. Und das war nicht gerade selten. Leider. Es gab viele Tage, an denen ich einfach nur zu Hause saß und mich fragte, was ich noch in dieser beschissenen Welt zu tun hatte. Auch das war nicht selten, aber ich versuchte, es noch in Grenzen zu halten. Und wenn es doch einmal etwas zu oft wurde, schickten mich meine Eltern raus. Es ging ihnen noch nicht einmal darum, dass ich mich mit den Leuten in meiner Klasse verständigte, das hatten sie bereits aufgegeben. Aber wenn man seit vier Jahren nur noch ausgelacht, beschimpft und regelrecht gedemütigt wird, lernt man früher oder später, alleine zu sein. Es macht keinen Spaß, um Gottes Willen, aber mit einem gewissen Maß an Pessimismus, Sarkasmus und Ironie ließ es sich ganz gut verkraften. Zumindest verzweifelte ich nicht mehr in jeder Situation. In der Zeit, wo ich nicht zu Hause saß, war ich entweder in der Bücherei, im Schreibwarenladen oder irgendwo in den Feldern um die Stadt herum. Stadt war eigentlich etwas übertrieben, aber immerhin war es eine "Kreisstadt", was so viel bedeutete wie: Es leben hier nicht genug Einwohner in den Dörfern der Umgebung, um eine andere Kreisstadt zu finden, und um eine richtige, richtige Stadt zu sein, sind es nicht genug Leute. Zur Ernennung zur Stadt reicht es gerade so aus. Ich war mal wieder in der Bibliothek, als mir ein einzelnes Buch nahezu ins Sichtfeld spranng: "Die letzten zehn Tage". Ich schlug es interessiert auf. Während ich die Seiten überflog, stach mir schließlich eine einzelne Zeile entgegen: "... Das erste Zeichen dafür, dass die letzten zehn Tage angebrochen sind, ist, wenn Katzen, Ratten oder andere intelligente Haustiere unruhig werden, weglaufen und nicht mehr wiederkommen oder anfangen, sich ungewöhnlich zu benehmen, also ohne ersichtlichen Grund fauchen, beißen oder Kannibalismus entwickeln..." Der Satz ging noch ein ganzes Stück weiter. Ich blätterte um. Es ging um weitere Vorzeichen, um Menschen, die normaler Weise die Ruhe selbst waren, dann aber plötzlich Aggressionen entwickelten und vieles mehr. Gegen Schluss des Buches fand ich einen Satz, an den ich noch den ganzen Abend denken würde: "Jeder Tag kann der letzte sein. Behalndeln Sie Ihre Umwelt und sich dementsprechend." Zu Hause ging ich langsam in mein Zimmer, warf die Tasche mit den Büchern auf mein Bett und ging in die Küche, um die Katzen zu füttern. Leise rappelte ich mit der Futterdose. Auf Lo, Li und Ta, benannt nach dem Lied von Alizée, wirkte das wie en Zaubergeräusch. Sie kamen jedesmal, egal, wie laut oder leise die Dose rappelte und wo sie gerade waren. Vor mich hin summend füllte ich Futter in die Schüsseln und wechselte das Wasser aus. Ich spürte bereits, wie etwas Weiches, Seidiges um meine Beine strich. Es war nicht mehr als Schleimerei, aber es half jedes Mal aufs Neue. Vorsichtig, um nicht zu stolpern, trug ich die Schüsseln zum Futterplatz in der Ecke. Dann stellte ich mich hin, um die drei zu streicheln, blieb aber mitten in der Bewegung wie angewurzelt stehen. Li war weg. Kapitel 2: Tag 1 - Freitag - überarbeitet ----------------------------------------- Wie gerädert stand ich im Bad vor dem Spiegel. Ich glaubte nicht daran, dass in zehn Tagen die Welt untergehen würde, aber so, wie sich Ta heute Nacht aufgeführt hatte ... Ich betrachtete die Kratzer in meinem Gesicht. Was war bloß in sie gefahren? Seltsam war ja eigentlich weniger, dass sie mal durchdrehte, aber erstens in der gleichen Zeit wie Li verschwand und dann auch noch, zweitens, kurz nachdem ich dieses verfluchte Buch gelesen hatte? Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken wieder frei zu bekommen. Es war schon seltsam, aber deswegen gleich in die Aberglaubenssparte abzurutschen...? Es gab für fast alles eine natürliche Erklärung, und an manche Sachen, die noch nicht erklärt worden waren, glabte ich trotzdem, aber solche Weltuntergangsbücher gehörten nicht dazu. Immerhin, eins konnte ja nicht schaden: Jeden Tag zu leben, als wäre er mein letzter. Nur wo zum Teufel steckte Li? Als die Klingel schellte, schlich ich so schnell wie möglich auf meinen Platz. Ich wollte keine dummen Kommentare über die dunklen Ringe unter meinen Augen oder den Striemen an meinem Hals und in meinem Gesicht hören. Es war auch so schon schwer genug zu ertragen, dass sie sich alle über mich lustig machten, da brauchte ich nicht auch noch so etwas. Unser Lehrer schrieb etwas an die Tafel, was ich mühsam als Termin für die nächste Klassenarbeit entzifferte. In Englisch. Das müsste ich schaffen. Nur die Vokabeln hatte ich noch nicht gelernt, aber die- "Nel?" Ich fuhr zusammen, als er meinen Namen aufrief. Nervös sah ich ihn an. Gleich käme die erste Frage, ich wüsste die Antwort nicht, alle lachten mich aus ... "Hier ist ein Brief für dich im Klassenbuch", sagte er ganz ruhig, als wüsste er nicht, wie beschissen es mir in dem Moment ging. Wahrscheinlich wusste er es auch nicht. "Komm bitte nach vorne und hol ihn dir ab." Zitternd und bereit, jederzeit bei dummen Kommentaren aus dem Klassensaal zu laufen, ging ich nach vorne. Leises Raunen ging durch die Reihen, aber ich bemühte mich, ganz langsam zu meinem Platz zu gehen und nicht den Weg zurück zu rennen. Beim Öffnen zerriss ich unerklärlicher Weise das Blatt im Inneren, aber als ich es auffaltete konnte ich es trotzdem noch viel zu gut lesen: "Liebe Nel, komm bitte am nächsten Freitag nach der sechsten Stunde zu mir, dann können wir nochmal über deine Chemienote reden." Und um so etwas machte ich mir jedes Mal so einen Kopf. Was eine beschissene Klasse. Mein Blick wanderte über den Inhalt meiner Regale in meinem Zimmer, von den vielen bunten Schachteln über das halbe Dutzend Ordnern mit Blumenaufdruck, die ich aus einer Laune heraus einmal gesammelt hatte, bis hin zu meiner angefangenen Packung Taschentüchern auf meinem Schreibtisch. Sie hatten mich nach Hause geschickt, nachdem ich an meinem Pult zusammengebrochen war. Und jetzt saß ich in meinem kleinen Zimmer, drei mal vier Meter groß, und starrte die überfüllten Regale an. Noch neun Tage. Und das in einer Bude, in der sogar noch die Ponyzeitschriften von vor sieben Jahren lagen. Immer noch nicht ganz sicher auf den Beinen stand ich auf und ging zum Regal neben meinem Schreibtisch, das noch am humansten aussah. Dort zog ich alle Kisten aus den Fächern und schüttete sie auf dem Boden aus, ohne Rücksicht auf den Inhalt zu nehmen. Ich hatte die Kisten seit drei Jahren nicht mehr angerührt, da würde ich die Sachen auch jetzt nicht mehr vermissen. Und wenn es zerbrechlich war gehörte es eh nicht in ein Regal in einem Zimmer voller Katzen. Nun, um genau zu sein drei Katzen, aber das konnte man bei dem Zimmerfüllstatus 'Müllkippe' schon als 'Zimmer voller Katzen' bezeichnen. Sorgsam sortierte ich aus, sah mir alles dreimal an und warf es dann in den meisten Fällen weg. Das Entrümpeln war schon längst fällig gewesen. Kapitel 3: Tag 2 - Samstag -------------------------- Als meine Mutter am nächsten Morgen in mein Zimmer kam, um mich zu wecken, saß ich schon wieder auf dem Boden und war gerade dabei, die ganzen alten Sachen, die ich noch nicht wegschmeißen wollte, in Kisten zu verpacken. Es war herzlich wenig; wo vorher mein ganzes Zimmer vollgestellt war mit Kisten, die alle sowieso nur Dinge enthielten, die ich nicht mehr brauchte, waren jetzt nur leere Regale. Die einzigen Gegenstände, die ich behalten wollte, waren ein Zeichenset, die Photos in meinem Ordner und meine Drachensammlung. Es waren sieben schwarze Drachen, alle in anderen Positionen, die nichts mit den hässlichen Drachen aus den Märchen und Legenden gemein hatten. Ich hörte meine Mutter tief einatmen und gönnte ihr einen Moment, um die Fassung wiederzugewinnen, bis ich mich umdrehte. "Hi Mum", sagte ich so ruhig wie ich nur konnte. "Du hast ... ausgemistet." Es war nicht schwer zu erraten, was sie am liebsten gesagt hätte, aber angesichts der Tatsachen schluckte sie ihr übliches "deine Müllkippe von Unrat befreit" tapfer runter. Ich musste lächeln. "Ich habe den Saustall gestern einfach nicht mehr ertragen." Den Überraschungseffeckt ausnutzend drückte ich ihr eine Kiste in die Hand. "Hilfst du mir mal? Die müssen auf den Spitzboden." Mit dem Krusch war auch ungefähr die Hälfte meiner Klamotten verschwunden, die jetzt in Säcken für das Rote Kreuz vor der Tür lagen. Ratlos stand ich vor meinem Kleiderschrank. Zehn Tage. Jetzt noch neun, ohne diesen acht. Meine vorher schon begrenzten Klamottenbestände gaben höchstens noch für drei Tage was her, und Sonntag hatten die Geschäfte zu, Montag war Feiertag, Dienstag würde ich zu viele Hausaufgaben aufhaben. Nach kurzem Überlegen griff ich zum Telefon und wählte die Nummer meiner Cousine. Die war sowieso immer für eine Shoppingtour zu haben, und da sie bereits vierundzwanzig war, hatte sie bereits viele Versuche hinter sich, mich auch dafür zu begeistern. Bis jetzt umsonst. Nach dem dritten Klingeln nahm sie ab. "Dana Schaff?" "Hallo, ich bin´s", sagte ich und konnte ihre Überraschung am anderen Ende der Leitung fast hören. "Oh", sagte sie schließlich überrumpelt. "Hallo! Du hast ja schon ewig nicht mehr angerufen! Wie geht es dir? Und worum geht es denn? Einfach so hast du noch nie angerufen." Ich grinste. Es stimmte, ich hatte sie eher gemieden – ich hatte etwas gegen Disco und dagegen, gewaltsam dazu zu überredet zu werden. "Ich brauche Klamotten", erklärte ich ihr, "und da dachte ich mir, wir könnten zusammen shoppen gehen. Dann habe ich keine Chance, es mir zwischendurch anders zu überlegen. Und außerdem brauche ich einen Stylingberater, ich hab keine Ahnung, was mir außer blau und weiß steht." Sie schien mit allem gerechnet zu haben, aber nicht damit. Nach einem längeren Schweigen antwortete sie. "Na ja, ich will ja nichts sagen, aber bis jetzt warst du immer mit deiner Mutter einkaufen, und da hat sie immer rausgesucht, was du anziehen sollst. Wenn du mit mir shoppen gehst, müsstest du die Sachen schon selbst raussuchen. Ich kann dir dann nur sagen, ob sie gut passen und dir Hilfestellung geben." Bei der Unsicherheit, die in ihrer Stimme mitschwang, musste ich lachen. "Ich habe schon lange keine Lust mehr, mit meiner Mutter einkaufen zu gehen", sagte ich ihr mit beruhigender Stimme. "Und der Rest versteht sich von selbst. Mal sehen, was ich dann so anschleppe. Wann hättest du denn Zeit?" Zwei Stunden später waren wir unterwegs. Es war anstrengend, aber auch höchst befriedigend. Ich hatte bereits vier volle Tüten und wir hatten erst den dritten von sechs geplanten Läden durch. Meine Cousine stand an der Kasse und bezahlte, während ich über ihre Schulter hinweg die Sachen betrachtete, die sie mir zur Anprobe gegeben hatte. Es waren viele Teile dabei, die ich vor vier Tagen noch nicht einmal eines Blickes gewürdigt hätte, aber auch Teile, die ich mir schon immer gewünscht hatte und nie mutig genug gewesen war, um sie wirklich zu kaufen. Aber schließlich hatte ich sowieso nur noch acht Tage zu leben und dementsprechend war es eigentlich ja egal, wie ich herumlief. Dass ich meiner Ansicht nach eine Größe zu viel hatte, würde bald auch keinen mehr interessieren. Kritisch betrachtete ich mich im Spiegel. Ich hatte ein Bäuchlein, ja, und mein Hintern war für meine Göße geradezu überdimensional, aber ich kannte Leute, die noch breitere Hintern hatten. Und die hatten auch noch jemanden abbekommen. Dass diese Frauen meistens über fünfzig waren und ihren Mann erst mit dreißig und mehr Jahren geheiratet hatten, ignorierte ich einfach mal geflissentlich. Aber meine Cousine riss mich bald aus den Gedanken. "Komm schon", drängte sie mich und zog mich weiter, "wir haben noch ein paar Läden vor uns!" Wind war aufgekommen während wir im Laden gestanden hatten und im Nu war auch der Rest meiner angeschlagenen Shoppinglaune verflogen. "Warte mal", bremste ich ab, "ich bin ziemlich müde und hab die Dinger ja auch noch zu Hause in den Schrank zu räumen und die alten Sachen muss ich ja auch noch anprobieren. Was hältst du davon, wenn wir langsam gehen? Wir haben ja schon viel gefunden." Mein Cousine sah überlegend von den Tüten in ihren und meinen Händen zu mir. Dann zuckte sie mit den Schultern. "Na gut", sagte sie, "wir haben für den Anfang ja auch schon ein wenig Erfolg gehabt. Das müsste eine Weile reichen." Ich lächelte bereits erleichtert, als die negative Nachricht an mein Hirn drang: "Aber zuerst gehst du in irgendeinen Laden, fragst, ob du auf Klo darfst und ziehst dir was anderes an. Hurtig!" Großzügig wie ich in dem Moment war, widersprach ich auch nicht lange, und so kam es, dass ich bald schon wieder in anderen Kleidern auf der Straße stand. Meine Cousine betrachtete mich kritisch von allen Seiten und nickte dann gönnerhaft. "Rotes Oberteil und schwarzer, faltig fallender Rock – okay. Passt zusammen. Aber deine Haare vertragen auch mal was Neues." Mühsam schüttelte ich ihre Hand ab, die sie auf meinen Oberarm gelegt hatte, um mich zum Frisör zu ziehen. "Lieb gemeint", lächelte ich schnell, "aber ich glaube, für heute war es erst mal genug. Was hältst du von ... in zwei oder drei Tagen?" Sie runzelte die Stirn. Dann seufzte sie resigniert und nickte. "Okay, aber in spätestens drei Tagen warst du beim Frisör, oder ich schleife dich." Ich musste lächeln. Es war nicht leicht, sie auf etwas zu vertrösten, aber heute hatte sie wohl noch vom Shoppen gute Laune. Als mein Blick weiterschweifte über den großen Platz, erstarrte mein Lächeln allerdings sehr schnell. Am Brunnen, genau bei der mittleren Fontäne, stand der Typ aus der Parallelklasse, dem ich schon seit ungefähr einem Jahr hinterhersabberte, bei dem ich mich aber nicht traute, ihn anzusprechen. Ich wusste, er war supernett, das war noch eine Erkenntnis von vor diesem Jahr, er sah gut aus – aber er war schüchtern und ich hatte mich eh noch nicht getraut, ihn anzusprechen. Ich weiß, es klingt, als ob er mich angesprochen hätte wenn er nicht so schüchtern gewesen wäre, aber sagen wir es mal so: ER und ICH? Das konnte man höchstens in der verneinten Form anbringen. Er war der Schwarm der gesamten Klassenstufe unter seiner, noch dazu der eines Großteils unserer und er sah gut aus. Ja, ich weiß, das habe ich schon gesagt, aber er ... sah nun mal gut aus! Ich weiß nicht, wie ich das sagen sol, es wird bei dem Punkt etwas schwierig. Er hatte an dem Tag die blondesten Haare der Welt, das meine ich positiv, die grünsten Augen von ganz Deutschland und das süßeste Lächeln ... also, zumindest mal von der ganzen Region. Wenn nicht sogar von ganz Europa. Aber da will ich mir nichts anmaßen. Gut, ich kannte ihn jetzt auch nicht so gut, dass ich viel über ihn hätte sagen können, aber immerhin so viel wusste ich: Er machte Sport. Er konnte tanzen, spielte Gitarre, hörte die gleiche Musik wie ich und wehrte sich genauso wenig wie ich, wenn jemand auf ihm rumhackte. Mit dem kleinen Unterschied, dass es bei ihm eher um das typische Gockelverhalten unter Jungs und bei mir um das ging, was man allgemein "Mobbing" nennt. Trotzdem: Aus meiner Sicht der perfekte Typ für laue Abende. An die Nächte dachte ich lieber noch gar nicht erst. Das käme später. Ich jedenfalls schmiss meiner Cousine in diesem Moment geistiger Umnachtung die Einkaufstüten entgegen, ignorierte ihr verdutztes Gesicht und lief zügig zum Brunnen. Erst jetzt fiel mir auf, dass er seine halbe Clicque dabei hatte, aber obwohl mir das in dem Moment durchaus bewusst war, machte ich es trotzdem. Es war, im Nachhinein gesehen, wohl der peinlichste Augenblick meines gesamten Lebens. Die letzten Meter joggte ich fast, stellte mich dann genau vor ihn und meinte nur erstaunlich locker: "Hey!" Er sah mich schüchtern an. "Hi", sagte er. "Hättest du vielleicht Lust, mit mir demnächst ins Kino zu gehen?", fragte ich, immer noch verdammt ruhig. Er lief erst rot an, wurde dann kalkweiß und wurde noch röter. "Öhm ... ja, klar!", sagte er dann überrumpelt. "Cool!", antwortete ich und strahlte ihn an. "Was hältst du von morgen Abend? Tut mir Leid, dass ich dich so überfahre, aber meine Cousine wartet da drüben auf mich und ich glaube, die ist im Moment etwas ungeduldig." Er holte tief Luft und nickte dann, noch röter werdend. "Klar", sagte er, "warum nicht?" Er lächelte scheu. "Soll ich dich anrufen, wenn ich wieder zu Hause bin?" Überrascht starrte ich ihn erst einmal eine Weile an, bis ich schließlich nur noch überrumperlt fragte: "Sag mal, hast du meine Telefonnummer etwa?" "Nein", gab er zu, "aber ich weiß ja, wie du heißt und wo du wohnst. Ist das in Ordnung, wenn ich bei dir zu Hause anrufe?" "Klar!" Das Gespräch war wohl nicht sehr originell, ich gebe es zu, aber in dem Moment fiel es mir noch nicht einmal auf. "Dann bis heute Abend!", rief ich und drehte mich um. "Tschüss!", hörte ich ihn noch hinter mir rufen, dann wurde mir klar, was ich getan hatte und ich rannte los. "Was ist denn mit dir los?", fragte meine Cousine, als ich bei ihr ankam. "Frag nicht, renn!", zischte ich und zog sie am Ärmel mit. "Was zum Teufel-?" "RENN!" Wir waren drei Straßen weiter, als ich es endlich wagte, anzuhalten. Schwer atmend lehnte ich mich gegen die Mauer und schlug die Hände vor mein Gesicht. "Oh Gott", murmelte ich immer wieder, "oh mein Gott..." "Hättest du jetzt die Güte, mir dein komisches Verhalten zu erklären?", fragte meine Cousine gereizt und lehnte etwas außer Atem die Tüten gegen die Wand. Ich nickte. Dann schüttelte ich den Kopf. Und nickte wieder. Und schüttelte wieder den Kopf. "Ich warte", sagte sie scharf. Ich seufzte. "Ich habs getan." Sie sah mich verständnislos an. "Was hast du getan?" "Ich hab ihn gefragt", stöhnte ich, als hätte ich Zahnschmerzen – was nach der Aktion auch kein Wunder gewesen wäre. "Was hast du ihn gefragt?" "Ob er morgen Zeit hat." "Ja und?" Sie verlor sichtar die Geduld. "Hör mal, ich habe keine Lust, dir dauernd alles aus der Nase ziehen zu müssen! Erzähl´s oder lass es bleiben!" Ich atmete tief durch. Dann begann ich stockend, ihr mein Unglück zu schildern. "Ja und?", fragte sie verständnislos, als ich geendet hatte. "Du bist jetzt so verstört und fängst an zu rennen, weil du ein Date mit dem Mädchenschwarm der Schule hast? Andere wären froh darum!" Ich versuchte, es ihr zu erklären. "Es ist nicht, dass ich renne, weil ich ein Date mit ihm habe, sondern einfach weil ... oh man, wer ist so blöd und fragt, während die ganze Clicque daneben steht? Das hätte so was von ins Auge gehen können!" Sie zuckte ungerührt mit den Schultern. "Das hätte es auch, wenn er alleine gewesen wäre. Und wenigstens können die Typen dir jetzt nicht mehr nachsagen, dass du feige bist." "Aber was ist, wenn er jetzt nur deshalb ja gesagt hat, weil ich jetzt neue Klamotten habe? Wenn er ansonsten garantiert nein gesagt hätte? Wenn er nur deswegen mit mir verabredet sein will, weil ich besser aussehe als davor?" "Das wäre dann doch ein perfekter Grund, um noch zum Friseur zu gehen und endlich mal neue Schuhe zu kaufen statt den Jesuslatschen." Ich war am Verzweifeln. Wie erklärte man jemandem, der sein erstes Date offensichtlich schon längst vergessen hatte, wie schlimm es war, was ich gerade getan hatte, wie ich mich fühlte, was ich dachte! In meiner Erklärungsnot starrte ich sie hilflos an. Plötzlich grinste sie. "Ich glaube, ich weiß, was mit dir los ist." Sie lachte. "Du bist verknallt, meine Liebe! Und du gibst es noch nicht mal vor dir selbst zu!" "Unsinn!", blaffte ich sie an, merkte aber, wie ich rot wurde. "Ich bin nicht verknallt!" Immer noch breit grinsend drehte sie sich um und zuckte mit den Schultern. Die Heimfahrt verlief weitestgehend schweigend. Kapitel 4: Tag drei - Sonntag ----------------------------- Er hatte nicht angerufen. Ich weiß nicht, was an dieser Tatsache das Schlimmste war: Dass er nichts von mir wollte oder dass ich seit der Shoppingtour gestern wie ein Zombie durch die Gegend lief und meine Mutter bereits mehrere Male besorgt mit meiner Großmutter telefoniert hatte. Beides war schlimm, das eine, weil ich micht vor seiner ganzen Clicque bloßgestellt hatte, das andere, weil meine Großmutter sich als zweiten Sigmund Freud ansah und keine Gelegenheit ausließ, mich zu analysieren und zu therapieren. Es war einfach nur schlimm. Ich hatte den ganzen Abend lang an meinem Schreibtisch gesessen, das Telefon in meiner hand gehalten und gewartet, dass es klingelt, aber es ist wie bei den meisten Dingen: Kaum erwartet man sie, passiert nichts. In dem Fall war es nicht anders. Irgendwann hatte ihc es beiseite gelegt und war ins Bett gegangen. Jetzt saß ich mit rot geränderten Augen an meinem Kleiderschrank und schitt Schildchen von Stofffetzen ab, die ich am Samstag in meiner geistigen Umnachtung gekauft hatte. Und die alten, bequemsten Teile, waren jetzt schon in einer Kiste, außerhalb meiner Reichweite, in der schützenden Dunkelheit des Bettes meiner Mutter. Es war nicht meine Schuld, nu, damit mir keiner auf falsche Gedanken kommt, sondern die meiner Mutter. Und sie war effektiv. Nebenan klingelte das Telefon und ich zuckte zusammen. Meine Großmutter hatte sich heute einen Spaß daraus gemacht und so oft angerufen, dass ich noch hibbeliger geworden war, aber jetzt blieb ich relativ ruhig. Sollte sie doch mit meiner Mutter über mich fachsimpeln, sich Sorgen machen und kluge Kommentare loslassen. Ich würde mich nicht darum kümmern. Ich würde einfach weiter an meinen Klamotten herumschnipseln und – "Für dich", sagte meine Mutter und streckte mir das Telefon entgegen. Ich starrte sie an wie ein Alien. Erstens, warum hatte ich sie nicht kommen gehört, zweitens, warum war es für mich, und drittens, wer sollte das sein? Ich nahm den Hörer und bedeutete meiner Mutter, aus dem Zimmer zu verschwinden. Als sie das getan hatte, legte ich den Hörer ans Ohr. "Hallo?", fragte ich ahnungslos. Ich will nciht wissen, wie wenige meiner Gehirnzellen in dem Moment noch aktiv waren, oder aber sich einen Witz daraus machten, das Offensichtlichste in dieser Situation zu ignorieren. "Hallo", kam eine schüchterne männliche Stimme aus dem Hörer. "Ich bin´s. Ich wollte eigentlich ja gestern anrufen, aber ich bin erst um elf nach Hause gekommen und habe mir dann nur gedacht, dass es wohl etwas zu spät wäre um anzurufen." Mein Gehirn fing langsam an, den Tatsachen ins Auge zu blicken. "Da war ich noch wach und habe auf deinen Anruf gewartet", sagte ich wie aus der Pistole geschossen und verfluchte mich im nächsten Moment wieder dafür. "Echt?", fragte er überrascht und ich konnte sein Grinsen durch das Telefon hören. Aber obwohl man meinen sollte, ich hätte aus meinen Fehlern gelernt, beging ich sofort den nächsten. "Echt", bestätigte ich und ritt mich immer weiter in die Scheiße, in dem versuch, möglichst lässig zu klingen. "Ich hatte schon Angst, dass du es dir komplett anders überlegt hast." In dem Moment, in dem ich das gesagt hatte, lief ich puterrot an und schlug aus reiner Selbstkastei meinen Kopf gegen den Türrahmen. Es tat höllisch weh und ich konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. "Alles okay?", fragte er besorgt. "Ja, schon okay", murmelte ich zurück und biss die Zähne zusammen. "Ich bin nur ein Fan von Sadomaso." Ein langes Schweigen entstand. "Das war ein Witz", seufzte ich, als die Pause anfing, unangenehm zu werden. Die Antwort klang nach einem unterdrückten Lachen. "Das habe ich auch angenommen." Ich betrachtete meine Stirn in meinem Spiegel am Schrank. "Verflucht, das gibt ne Beule", zischte ich vor mich hin. "Meinst du, du schaffst es bis heute Abend durchzuhalten?", fragte er amüsiert. "Oh no", stöhnte ich, eher in meine Richtung als zu ihm, "da war ja was! Scheiße!" "Hast du´s etwa doch noch vergessen?" Ich seufzte wieder. "Nein, eigentlich nicht. Aber mir ist eben erst klar geworden, was ich mir da eingebrockt habe. Ich mag Kinos nicht so, auch wenn das so gut wie niemand versteht. Ich kann damit einfach nichts anfangen." "Kein Problem", meinte er spontan, "was hältst du davon, wenn ich dir ein Eis spendiere?" Ich war baff. Ich tat unfreiwillig mein Bestes, um ihn zu vergraulen, und er lud mich auf ein Eis ein? "Äh...", fing ich sprachlos an. "Natürlich nur, wenn du willst", beeilte er sich zu sagen, und ich sah vor meinem geistigen Auge, wie er wieder rot wurde. "Nein, das meine ich nicht", beruhigte ich ihn, "es ist nur ... ja, klar, gerne! Ich krieg nur langsam ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich dich gestern so überrumpelt habe und überhaupt ... ich war einfach nur schrecklich nervös und wollte hinter mir habane, falls ich eine Absage bekomme." Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein. "Du warst nervös?", fragte er ungläubig. "Ja, ich war nervös", bestätigte ich, schon wieder knallrot. "Ich weiß, das sah in dem Moment nicht im Geringsten danach aus, aber es war so. Und es war der Grund, warum ich am Ende so gerannt bin." Er lachte und sein Gesicht schob sich in mein Gedächtnis, mit Lachfältchen um die Augen und leichten Grübchen auf den Wangen. Eilig schüttelte ich den Gedanken wieder ab. "Wann hättest du denn Zeit?", fragte ich schnell. "Hm", machte er, "was hältst du von um drei vor Giovanni´s?" "Finde ich toll!", rief ich und hüpfte fünf Runden durch mein Zimmer, wobei ich mir an beiden Füßen meinen kleinen Zeh anstieß. Vor Schmerz nach Luft japsend ließ ich mich auf mein Bett fallen. "Cool", sagte er, "also dann bis um drei! Und tu mir bitte einen Gefallen", bat er mich. "Was denn?" "Verstümmel dich nicht allzu sehr." Fünf vor drei. Die Zeit zog sich wie ein Kaugummi. Ich hörte das Gras wachsen, die Eisdiele verrotten und immer noch war nichts von ihm zu sehen. Schließlich, als ich zum zehnten Mal auf die Uhr sah und merkte, dass in der Zwischenzeit erst eine halbe Minute vergangen war, kam er um die Ecke. "Hey", sagte er und sah scheu vor sich auf den Boden. Ich glaub, das war auch ganz gut so, sonst wäre er wohl von meinen Augen geblendet worden; Er trug ein T-Shirt, das gerade eng genug war, um ganz leicht um seine Schultern zu spannen und seine Oberarmmuskeln zu betonen, dazu eine Jeans und Turnschuhe. Ich weiß, das klingt banal, aber es waren nicht die Klamotten, es war der Typ, der drinnen steckte, der dafür sorgte, dass ich strahlte wie zwei Sonnen auf einmal. Seine Haare hatte er wie immer gegelt, aber heute roch er anders. Ob Aftershave oder Parfum, es roch wirklich gut. Unauffällig wippte ich vor und zurück, um eine Nase voll zu nehmen. "Hey", sagte ich dann. Ich weiß, raffiniert und einfallsreich, es hätte es mit jedem Shakespearewerk aufnehmen können. Es war einfach nur bescheuert. "Gehen wir rein?", fragte ich und kam mir dabei lässiger vor als ich mich fühlte. "Okay", sagte er und hielt mir die Tür auf. "Wollen wir uns direkt hier an den Eingang oder lieber etwas weiter hinten hinsetzen?" Ich überlegte kurz. "Lass uns hinter gehen." Ich lächelte ihn an und er lächelte zurück. Eigentlich fing es dafür, dass wir uns im Grunde genommen gar nicht kannten, ganz gut an. Das Eis essen an sich verlief weitestgehend schweigend. Meine Finger wurden ein wenig glitschig vor Nervosität, aber mir fiel beileibe kein vernünftiges Thema ein. Erst, als wir fertig waren und die leeren Eisbecher vor uns standen, kam langsam ein Gespräch auf. Das Ganze fing allerdings – wie sollte es auch anders sein, wenn ich mit anwesend war – ein wenig peinlich an. Oder, um genauer zu sein, mit einem ziemlich vernehmlichen Rülpser meinerseits. Ihr glaubt nicht, wie peinlich es mir war. Ich hatte einfach kurz davor zu Mittag gegessen (wenn auch nur widerwillig) und war sowieso schon mehr als nur satt, und dann noch das Eis ... es hatte einfach so kommen müssen. Da konnte ich ehrlich gesagt auch verstehen, dass er mich ansah wie ein Alien. "Tut mir Leid", murmelte ich und wurde puterrot. "Warst das wirklich du?", fragte er, immer noch reichlich perplex. Ich konnte nur kleinlaut nicken. "Oh man", entfuhr es ihm. Er lehnte sich mit einem leicht spöttischen Grinsen an die Stuhllehne an und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. "Und da soll mir noch einmal jemand sagen, Mädchen könnten so was nicht." Unter seinem spöttisch-amüsierten Blick wurde ich noch röter. "Na ja, können schon, aber das überlassen wir lieber den Meistern im schlechten Benehmen." In dem Moment, in dem ich das gesagt hatte, verfluchte ich mich selbst dafür. Es klang wie eine schlechte Anspielung auf ihn, für die ich eigentlich keinen Grund hatte. Er aber reagierte einfach nur cool. "Soll das heißen, dass Männer sich nicht benehmen können?" Zum ersten Mal seit Samstag Nachmittag grinste er mir ganz offen und ohne Scheu ins Gesicht. Dann drehte er um und winkte der Bedienung. "Wir würden gerne bezahlen", rief er ihr zu und zückte sein Portmonee. Als ich das Gleiche machen wollte, winkte er ab. "Ich beweise dir jetzt, dass wir Männer uns auch benehmen können, wenn wir wollen." Ich fühlte mich sehr besonders, als ich den Blick der Kellnerin erst bewundernd über ihn und dann ein wenig neidisch über mich gleiten sah. Um mein Grinsen zu verbergen, beugte ich mich umständlich nach meiner Tasche und kramte in ihr herum. Irgendwann hörte ich, wie er hinter mich trat und setzte mich leicht nach hinten gedreht auf, mit der Tasche in der Hand, was zur Folge hatte, dass ich fast mit meinem Kopf gegen seine Nase stieß. "Hoppla", rief ich überrascht aus und sah ihn fragend an. Er lächelte nur verlegen. "Darf ich?" Ich hatte das Gefühl, dass die Fragezeichen, die mir um den Kopf schwebten, mit jeder Sekunde größer wurden. Er zog anstatt einer Erklärung allerdings nur den Stuhl um ein, zwei Zentimeter nach hinten."Oh!", entfuhr es mir und ich stand langsam auf, um ihm den Stuhl nicht gegen das Schienbein zu knallen. "Danke!" Er bekam heiße Ohren. Nein, ich meine nicht heiß in der Beziehung, ich meinte es im Sinne von: Sie glühten so leuchtend rot, dass man es bestimmt bis nach Buxtehude sehen konnte. Nur, falls jemand auf falsche Gedanken gekommen sein sollte. Und ich wohne im Südosten Deutschlands. Als er mir auch noch, zum "Zeichen seines guten Willens", wie er es ausdrückte, in meine Jeansjacke geholfen hatte, und wir unter den mörderischen Blicken der Bedienung um die Ecke gebogen waren, musste ich grinsen. Er zog die linke Augenbraue hoch. "Die Bedienung hat glaub ich gedacht, dass wir uns schon etwas besser kennen", erklärte ich ihm. Er lächelte amüsiert. "Tja, ein unglücklicher Mensch mehr auf der Welt." "Du hast es auch gemerkt?", fragte ich überrascht. Er lachte leise. "Ich bin zwar vielleicht schüchtern, aber nicht blind. Ich bekomme es schon mit, wenn mich manche Mädchen ansehen, als ob sie mich am liebsten gleich auf der Stelle ausziehen würden. Manchmal ist es ein ganz gutes Gefühl, aber meistens werde ich dabei einfach nur knallrot. Ich bin überrascht, dass ich heute überhaupt mehr als nur "hallo" und "schmeckt´s?" gesagt habe." Von einem Schlag auf den anderen wurde er wieder ernst. "Ehrlich gesagt", murmelte er so leise, dass ich Probleme hatte, ihn zu verstehen, "habe ich noch nicht mal eine Ahnung, warum ich dir das jetzt erzähle." Schweigend gingen wir weiter, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, bis wir vor dem Eingang zu dem Reihenhaus standen, in dem ich wohnte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir zu mir gegangen waren, und sah ihn überrascht an. "Hier wohnst du?", fragte er mich. "Ähm, eigentlich schon", antwortete ich, intelligent wie immer. "Wieso eigentlich?", kam die logisch nachvollziehbare Frage. "Uneingentlich auch", sagte ich und fing an zu glühen. "Es war bloß ein wenig ungeschickt formuliert." Schweigen. "Wollen wir vielleicht nochmal runter an den See gehen?", fragte ich, um die Pause zu beenden. Er überlegte kurz, dann zuckte er mit den Schultern. "Okay", sagte er. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber am Ende lagen wir bis zum Sonnenuntergang am See und redeten miteinander. Es war schon erstaunlich, wie gut wir uns verstanden, vor allem, weil wir uns genau genommen erst einen Tag lang kannten. Es ging eigentlich im Großen und Ganzen über so ziemlich alles, was man nur bereden konnte, und ich hätte, wenn jemand nachgefragt hätte, nicht sagen können, ob ich ihn nicht doch irgendwann schon einmal gekannt hätte. "Weißt du", fing er irgendwann an, "normaler Weise habe ich ein riesiges Problem damit, mit irgendjemandem über persönlichere Sachen zu reden. Ich weiß nicht, es ist einfach so ..." er seufzte. "Es ist schwer zu erklären. Wenn man gut aussieht..." er brach ab und korrigierte sich. "Bei mir ist es so, dass viele nur deswegen mit mir ausgehen, weil ich gut aussehe, weil sie mich eigentlich gar nicht kennen, aber einen Freund haben wollen, auf den andere neidisch sein können. Ich weiß nie, warum sich welches Mädchen mit mir treffen will. Und das ist einer der Gründe, warum ich eigentlich beim ersten Treffen meistens sehr zurückhaltend bin. Ich kann einfach nicht mit jedem von Anfang an herumalbern, ganz einfach weil ich nicht weiß, worum es ihnen wirklich geht." Er sah mich nachdenklich an. "Heute war das irgendwie anders." Ich sah den Vögeln zu, die über dem See nach Insekten jagten. "Mir geht es genauso", sagte ich schließlich leise. "Normaler Weise halte ich den Mund, warte höchstens darauf, dass ein dummer Kommentar über mich kommt, wie hässlich ich doch bin, wie dumm ich mich anstelle, wie scheiße meine Klamotten doch aussehen... es ist nicht einfach, wenn man es gewohnt ist, unfreiwilliger Weise der August der anderen zu sein." "Aber wenn du normaler Weise so ausgelacht und niedergemacht wirst", wunderte er sich, "woher nimmst du dann das ganze Selbstbewusstsein, jemanden auf einem öffentlichen Platz und in der Gegenwart seiner halben Clicque um ein Date zu bitten?" Ich glaube, wenn der Erdboden sich immer der Menschen annähme, die seine Hilfe am dringendsten brauchten, wäre ich in dem Moment schon längst weg gewesen. Oder, um genauer zu sein, drei Meter unter ihm. "Ich weiß nicht", gab ich zu und wand mich regelrecht unter seinem Blick. "Ich glaub, ich hab in dem Moment einfach einen Augenblick geistiger Umnachtung gehabt. Und hinterher bin ich auch noch weggerannt. Peinlicher gehts wohl nicht mehr." "Das habe ich gar nicht mitbekommen!" Er grinste wieder. "Das war, glaub ich, der Moment, in dem mich alle ausgequetscht haben, wer du denn seist und ob ich dich kenne und so." "Und was hast du geantwortet?" Jetzt wurde er rot. Wir entwickelten uns zu einem perfekten Team. "Nichts", sagte er. "Nichts?" "Nichts." Er lächelte mich entschuldigend an. "ich war in dem Moment so perplex, dass ich nicht mehr gescheit denken konnte." Ich brauchte erst einen Moment, beovr ich das realisiert hatte, was er eben gesagt hatte. Dann begriff selbst mein etwas schläfriges Hirn den Inhalt dieser Worte. "Du und perplex?" Er nickte. "Ja. Ich hätte nie erwartet, dass ..." Er brach ab. "Vergiss es. Nicht so wichtig." Er stemmte sich hoch und klopfte sich das Gras von den Klamotten. "Was hättest du nicht erwartet?", fragte ich ihn und stand ebenfalls auf. "Wie schon gesagt, ist nicht so wichtig." Er ging los. "Wir sehen uns ja am Montag!" Dann fing er an zu laufen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was sollte das? Was hatte er sagen wollen? Warum hatte er den Satz nicht zu Ende gebracht? Als er ungefähr zweihundert Meter von mir entfernt war, drehte er sich noch einmal um. "Soll ich dich anrufen?", schallte es zu mir herüber. Als ich antwortete, schwebte ich bereits ungefähr einen Meter über dem Boden und wunderte mich, dass er es offenbar nicht merkte. "Gerne!", schrie ich und meine Stimme überschlug sich. Als Zeichen, dass er mich verstanden hatte, winkte er mir zu. Dann ging er endgültig. Kapitel 5: Tag 4 - Montag ------------------------- "Fertig." Ich sah in den Spiegel und stellte fest, dass ich das garantiert nicht war, egal, wer mich vom Gegenteil überzeugen wollte. Nur um mich zu vergewissern, dass dem garantiert so sein würde, fragte ich trotzdem nach: "Wer ist das?" Nadja, die beste Freundin meiner Mutter, sah lächelnd über mich hinweg in das Gesicht des Mädchens im Spiegel. Oder in meins? Es war leicht irritierend. "Das bist du", sagte sie und ich war mir sicher, irgendwann bei dem Gedanken schizophren zu werden. "Quatsch", sagte ich stattdessen so überzeugend wie ich nur konnte und stand auf. "Wie viel soll ich dir dafür geben?" Nadja lachte herzlich. "Ich bin froh, dass ich überhaupt noch mal jemandem die Haare schneiden darf, jetzt, wo ich den neuen Job habe. Sieh es als Freundschaftsdienst." "Danke", strahlte ich und gab ihr in meiner guten Laune einen Dankeschönkuss auf die Wange. Hatte ich nicht vor ungefähr einer Woche noch gesagt, das wäre nichts als albern? Na ja, sie freute sich wie ein Honigkuchenpferd. "Wofür habe ich den denn verdient?" Ich zuckte mit den Schultern. Ich würde meiner Mutter noch genug erklären müssen, da wollte ich es nicht unbedingt jetzt schon anfangen. Allein schon, dass meine haare jetzt nicht mehr bis kurz über den Po reichten sondern gerade so auf meine Schultern fielen, war hart genug, von meinen rötlichen Strähnchen im hellbraunen Haar mal ganz abgesehen. Noch einen Schock für heute und ich hätte für den Rest meines Lebens sturmfreie Bude. Beschwingt schüttelte ich meine neue (etwas kürzere) Mähne und genoss es, wie leicht es mir fiel und wie wenig ich doch Schwung nehmen musste. Dann verabschiedete ich mich, drückte Nadjas Sparschweinchen noch ein kleines Dankeschön in den Bauch und ihrem kleinen Sohn einen Lutscher in die Hand, genoss den dankbaren Blick und ging nach Hause. Dort ahnte ich schon im Treppenhaus schlimmstes: Überall waren Girlanden aufgehängt, Luftschlangen lagen über den ganzen Boden verteilt in riesigen Lachen von Konfetti, die Hausschuhe standen in Reih und Glied nebeneinander und von oben, aus dem Stockwerk, in dem wir wohnten, erklang laute italienische Musik. Vorsichtig schlich ich mich nach oben, was eigentlich bei dem Krach einfach nur überflüssig war, und öffnete die Haustür, um sie sofort wieder zuzuwerfen. Es war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Weitaus langsmer und diesmal sogar halbwegs gewappnet für das, was mich erwartete, öffnete ich die Tür wieder und drückte mich hinein, um sie sofort wieder zu schließen. Die Nachbarn taten mir auch schon ohne die Musik Leid genug: Die Schaffs von gegenüber waren diese Woche eingeteilt zum Treppenhaus kehren. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, stieg ich über die "I ♥ Italy"-T-Shirts hinweg, wich alten Lirestücken aus, balancierte um eine detailgetreue Abbildung des Kolosseums herum und trat zu guter Letzt auf eine CD-Hülle: "Italienisch für Fortgeschrittene". Wenigstens wusste ich jetzt, womit ich es zu tun hatte. Oder besser gesagt, es dämmerte mir wieder. Meine Mutter hatte ihren Italienischkurs beendet. Anscheinend erfolgreich. "Hallo Schatz", flötete der Albtraum aller gut gelaunten Teenager in dem Moment und schwebte um die Ecke. Wusstet ihr, dass manche Frauen wirklich schweben können? Glaubt eurem Physiklehrer kein Wort, wenn er euch etwas über Schwerkraft erzählt – bei Müttern zumindest stimmt das nicht. Vor allem bei Dingen wie Schuhen, Candlelightdinners, einer x-ten wahren Liebe oder bestandenen Italienischkursen. Und auch wenn meine Mutter normaler Weise absolut in Ordnung ist: Bei Italienisch hört der Spaß auf. "Na, das sieht aber mal schön aus", zwitscherte sie in der Zwischenzeit weiter, "nur schade um deine langen Haare. Na ja, vielleicht ist es ja wirklich wieder Zeit für einen neuen Schnitt." Mir fiel die Kinnlade auf den Boden, die Augen aus dem Kopf und mein verstand nahm sich gerade Urlaub. Meine Mutter befürwortete allen Ernstes, dass ich mir die Haare hatte schneiden lassen? Sie machte keinen Aufstand? "Komm schon", drängte sie mich auch schon und schob mir die Bestellliste vom Italiener um die Ecke entgegen. "Die haben heute nicht auf", versuchte ich ihr zu erklären, "heute ist Feiertag und da haben die grundsätzlich nicht offen." Hm", überlegte sie. Dann breitete sich auf ihrem Gesicht der Ausdruck aus, der mir meistens den größten Horror bereitete: Der ich-weiß-was-ich-mache-ich-koche-selbst-Ausdruck. "Nein", sagte ich laut und deutlich und ging in mein Zimmer. Dort schloss ich erst einmal doppelt ab und versteckte den Schlüssel vorsorglich in meinen Socken. Dann ließ ich mich auf mein Bett fallen. "Komm schon", bettelte meine Mutter verzweifelt, "nächstes Mal darfst du auch selbst kochen!" "Oh super", stöhnte ich auf, "ich hasse Gekochtes!" Fünf Minuten später klopfte sie vorsichtig an meine Tür. "Bitte", flehte sie mich an, lass es mich doch wenigstens mal probieren! Ich möchte doch so gerne kochen können, aber du weißt ganz genauso gut wie ich, dass ich einfach zu wenig Übung habe!" Ich schnaubte. Mit Übung war da auch nicht mehr viel zu retten. Meine Mutter schaffte es noch nicht einmal, mit den ausführlichsten Rezepten zurechtzukommen – obwohl ich mich immer wieder fragte, was man beim Kochen nach Rezept überhaupt falsch machen konnte. Als von mir längere Zeit keine Antwort kam, hörte ich schließlich, wie sie wegging. Pardon, schlurfte. Irgendwie tat sie mir schon wieder Leid. Sie konnte ja nichts dafür. Aber als mein Magen mich daran erinnerte, wie lecker und wohlschmeckend ihre letzte Pizza gewesen war, überlegte ich es mir noch einmal gründlich. Sie konnte vielleicht nichts dafür, aber das Ergebnis wurde dadurch nicht besser. N mir drehte sich so einiges um, als ich an die Tortellini à la Panna dachte, die sie an ihrem Geburtstag gekocht (gebräut?) hatte und wie die Fertiglasagne aus der Tiefkühltruhe ausgesehen (und auch geschmeckt) hatte, als ich meine Freundinnen eingeladen hatte. Zu der Zeit, wo ich noch welche gehabt hatte. Im Alter von (mehr oder weniger) unschuldigen 12 Jahren. Meine Mutter klopfte wieder. "Was ist?", schnauzte ich genervt in ihre Richtung. "Telefon!" Dass sie wieder angefangen hatte, vor sich hin zu trällern, verhieß nichts Gutes. Wahrscheinlich hatte sie die Fertigpizza in den Ofen gesteckt und verlangte jetzt von mir, dass ich sie aß. Aber da hatte sie sich geschnitten. Ich würde auf diesen unglaubwürdigen Lockvogel nicht hereinfallen. Wer sollte mich schon anrufen? Ich hatte seit vier Jahren niemanden mehr, der mit mir telefonieren wollte, ohne auf mir herumzuhacken oder zu versuchen, mich auszunutzen. "Wer auch immer es ist, er kann mich am Arsch lecken!", rief ich also, klug wie ich war. Kurz darauf hörte ich meine Mutter im Flur mit jemandem reden. "Es tut mir wirklich Leid, Christian, aber sie sagte, du könntest sie am Arsch lecken." Wie sollte ich ihm das bitte erklären? Gerade erst ein Date mit ihm gehabt, was bisher nicht gerade viele geschafft hatten, und jetzt ... Ich hasste Montage. Kapitel 6: Tag 5 - Dienstag --------------------------- Müde und ohne jegliche Konzentration saß ich an meinem Platz und schaute aus dem Fenster. Ich hätte eigenlich aufpassen müssen, aber ich würde nicht viel verpassen. Schließlich waren da noch die anderen aus der Klasse, die im Moment nicht gerade fleißig mitarbeiteten, und der Lehrer hatte große Mühe, sie unter Kontrolle zu halten. Um nicht zu sagen, er redete und hoffte darauf, dass sie von selbst irgendwann aufhören würden. Als die Tür zufiel, schrak ich auf. "Wo ist denn der Lamb hin?", fragte ich den Jungen, der mir noch am nächsten saß. "Geht was kopieren", sagte der und redete weiter mit seinem Nachbarn. Ich seufzte und sah weiter zum Fenster hinaus. Na super. Kein Wunder, dass die Klasse tobte. Auch, wenn man es sich schlecht vorstellen kann, aber innerhalb einer halben Minute war es noch lauter als sonst geworden. Vielleicht sollte ich die Klasse wechseln...? "Sag mal, was sollte das eigentlich am Sonntag in der Stadt?", fragte mich die Klassenbeste unfreundlich und stieß mich rüde mit dem Ellenbogen auf die Fensterbank. Ich begriff nicht, was sie von mir wollte. Was hatte ich denn am Sonntag getan, was so schlimm war, dass sie sich mit mir abgab? "Was meinst du?", fragte ich zurück. Sie schnaubte. "Ich hab dich gefragt, wie ein so hässliches Suppenhuhn wie du dazu kommt, mit Christian durch die Gegend zu watscheln." Im Raum war es still geworden und jeder sah in unsere Richtung. "Was soll schon los gewesen sein?", fragte ich möglichst ruhig. Es war unschwer zu sehen, dass etwas in der Luft lag, und dieses Etwas würde mir nicht gefallen. "Stell dich nicht so dumm", zischte sie mich an, "ich hab dich gefragt, warum du mit Chris am Sonntag so in der Eisdiele gemacht hast. Ist dir eigentlich überhaupt klar, dass er von dir nichts will? Selbst wenn", sagte sie hämisch und musterte mich von oben bis unten, "selbst wenn er was von dir wollte,dann wäre es doch höchstens, dass du endlich wieder abhaust." Einige in der Klasse lachten. Ich merkte, wie ich heiße Ohren bekam. "Meinst du nicht, dass das seine Entscheidung ist?" Ihre Gesichtszüge entgleisten ihr innerhalb von einer, maximal zwei Sekunden. "Wie bitte?", fauchte sie wie eine wild gewordene Katze, "was hast du gerade gesagt? Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden." Ich nahm meinen Mut zusammen, sah ihr so direkt ich nur konnte in die Augen und sagte dann mit fester Stimme: "Dann soltlest du dir ein Hörgerät kaufen." Jegliches Rascheln hatte aufgehört, alle sahen sie an, wie sie wohl reagieren würde. Ich konnte sehen, dass sie wütend war. Sehr wütend. Kurz davor, zu explodieren, sozusagen. Dann kniff sie die Augen zusammen, funkelte mich noch einmal kurz an und drehte sich zu den beiden Mädchen um, die hinter ihr standen. "Haltet sie fest", befahl sie ihnen. Kurz darauf wurden mir von hinten die Arme festgehalten und hinter der Stuhllehne schmerzhaft verdreht. Mir schossen vor Schmerz die Tränen in die Augen. Mühsam biss ich die Zähne zusammen. "Versprich mir, dass du deine dreckigen kleinen Wurstfinger von Christian lässt", raunte die Klassenbeste bedrohlich leise. Wütend versuchte ich, mich zu befreien, tat mir dabei aber nur selbst weh, und gab schließlich auf. "Versprich es", wiederholte sie, diesmal eine Oktave höher, und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Mein Kopf flog zur Seite, und im gleichen Moment hörte ich, wie mein Genick schmerzhaft knackte. "Du hast ihn nicht verdient, du Schlampe, und nur weil du dich jetzt so anziehst wie wir heißt das noch lange nicht, dass du dazugehörst! Versprich es!" Die letzten Worte hatte sie geschrieen und nun fing sie an, mich heftig zu schütteln, bis ich Blut schmeckte und ich Sterne sah. Als sie mich endlich losließ und außer Atemvor mir stand, mich mit ihrem Blick geradezu anspuckte, hob ich den Kopf und sah sie trotzig an. "Nein." Ungläubig starrte sie mir ins Gesicht. "Wie bitte?" "Ich sagte nein", wiederholte ich. "Wenn du ein Problem damit hast, dass er sich mit mir trifft, dann solltest du dich bei ihm beschweren, nicht bei mir. Er ist nicht dein Besitz." Was die nächsten Minuten passierte, weiß ich nicht mehr genau. Ich bekam nur noch mit, wie sie mich von Stuhl riss, auf mich eintrat und alle, die daneben standen, mitmachten. Nach wenigen Tritten schon tat mir alles weh, und als ob das nicht genug gewesen wäre, schlug mir irgendwann jemand eine Wasserflasche gegen den Kopf. Wimmernd krümmte ich mich zusammen, versuchte, auf die Beine zu kommen, aber sie stießen mich jedes Mal wieder zu Boden. Ich wustse, dass sie mich nicht mochten, aber dass sie mich so sehr hassten, dass sie jemals dazu in der Lage gewesen wären, mir so weh zu tun, hätte ich niemals gedacht. Ich hatte ihnen doch nichts getan. Irgendwann gab ich auf und blieb liegen, in der Hoffnung, es würde bald vorbei sein. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Ich wachte in einem kleinen, weißen Zimmer wieder auf, in dem außer dem Bett – oder vielleicht sollte ich es lieber Pritsche nennen – auf dem ich lag nichts mehr stand. In der Ecke lag mein Ranzen. Als ich mich hinsetzen wollte, fuhr mir ein stechender Schmerz durch den Kopf und ich überlegte es mir anders. Vorsichtig legte ich mich wieder in die Waagerechte. Dann kam bruchstückhaft die Erinnerung wieder und ich stöhnte unwillkürlich leise auf. Ich hatte den Lehrer gehört. Und dann jemanden, den ich nicht hatte einordnen können. Dann kam ein riesiges Loch. Und jetzt ... Die Tür öffnete sich langsam und ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren kam leise herein. Zu erschöpft, um etwas zu sagen, blieb ich einfach regungslos liegen, und wartete darauf, dass er mich bemerkte. Zuerst sah es so aus, als würde er wieder das Zimmer verlassen bevor er merkte, dass ich wach war, dann aber drehte er sich zu mir um. "Oh", sagte er leicht überrascht, "du bist wieder bei Bewusstsein. Das ist gut." Da mir alles weh tat verzichtete ich auf eine dumme Bemerkung und schluckte mein trotziges 'ich hätt jetzt gedacht, das wär schlecht' runter. Stattdessen zuckte ich mit den Schultern. Er seufzte. "Du warst ungefähr zehn Minuten ohnmächtig. Ich weiß nicht, was du deinen Klassenkameraden", die ironische Betonung auf 'Kameraden' war unüberhörbar, "angetan hast, aber sie scheinen es dir sehr übel genommen zu haben. Du hast Glück, dass dein Lehrer noch gerade rechtzeitig zurückgekommen ist. Sonst hättest du in ernsthaften Schwierigkeiten gesteckt." Mein Sarkasmus übernahm die Oberhand. "Oh", bemerkte ich schon fast zynisch, "ich dachte, das würde ich jetzt schon." Meine Stimme war nur ein leises Krächzen und jedes Wort tat mir am Hals weh. Was hatten sie nur mit mir gemacht? Was hatte ich ihnen getan? "Aber vielleicht habe ich nur nicht mitbekommen, dass Ohnmächte gar nicht so schlimm sind." Irgendwie wurde die Welt um mich herum klarer und ich stellte fest, dass mein Ranzen auf einem kleinen Sitz stand und dass der Mann nicht hereingekommen war, sondern die ganze Zeit auf der anderen Seite meiner Liege gesessen hatte. Da, wo ich vorhin nicht hatte hinsehen können, weil ich den Kopf nicht hatte bewegen können, standen verschieden Apparaturen und schaukelten leicht. Ein Erdbeben? "Wir sind in einem Krankenwagen", erklärte mir der Mann und friemelte an einem seltsamen Flimmern herum, das sich kurz darauf als Schlauch entpuppte. "Wir bringen dich ins Krankenhaus, damit wir dich weiter untersuchen können." Ach nee, dachte ich und stöhnte auf, als der Wagen heftig rumpelte. Ich hätte gedacht, es ginge direkt zum Friedhof. Obwohl, bereute ich den Sarkasmus in meinem Gedanken, ich hätte eigentlich nichts dagegen einzuwenden gehabt. "Du hast ganz schön was abbekommen, aber mir scheint, du bist recht zäh." Ich nickte behutsam. Das hatten mir schon so einige gesagt. "Willst du erzählen, was passiert ist?" Ich schloss die Augen. Nochmal erleben? Und das bei den Schmerzen, die mir jedes Wort verursachte? Langsam, um nicht wieder von meinem Brummschädel ins Aus geschickt zu werden, schüttelte ich den Kopf. Er seufzte. Nachdem ich nichts weiter sagte, fuhr er fort. "Es hätte locker schlimmer asugehen können. Du bist mit einigen Prellungen und einer kurzen Ohnmacht davongekommen, wenn du Pech hast, ist eine deiner Rippen gebrochen. Das konnte ich nicht genau erfühlen. Aber es ist nichts Wichtiges getroffen worden." Auf meinen Vorwurfsvollen Blick hin verbesserte er sich. "Zumindest ist nichts Wichtiges schlimmer beschädigt worden. Ist dir schlecht?" Nein, dachte ich, und schloss die Augen. Ich werde ihm nicht antworten. Ich werde den Würgreiz bekämpfen und nichts sagen, bis wir da sind. Meine Umgebung fing wieder an, sich zu drehen. Gegen acht Uhr abends saß ich wieder zu Hause. Es war nichts gebrochen, Gehirnerschütterung hatte ich keine, die Prellungen waren nicht sehr schlimm und auch, wenn mir alles weh tat, mehr als blaue Flecken und Aufschürfungen hatte ich nicht abbekommen. Müde und deprimiert schüttelte ich die Futterdose der Katzen und sah zu, wie die drei lautlos um die Ecke huschten. Auch Li war dabei, aber das wunderte mich nicht weiter. Meine Begeisterungsfähigkeit war im Moment nicht gerade groß. Das einzige, was ich mich in dem Moment fragte, war, warum ich mir in den letzten Tagen so gut wie gar keine Gedanken um sie gemacht hatte. Sie war weg gewesen, aber um es in der harten Version zu sagen: Es war mir egal gewesen. Meine Gedanken wanderten weiter zu Chris. Sollte ich ihn anrufen? Ich füllte die Fressnäpfe auf und stellte die Futterdose wieder weg. Nein. Ich hatte keinen Grund. Und seine Telefonnummer hatte ich auch nicht. Ich drehte mich um und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Dort schiss ich die Tür zu und warf meine Klamotten achtlos in die Ecke. Morgen würde ich sie wegräumen. Vielleicht. Dann drehte ich das Licht aus und legte mich schlafen. Kapitel 7: Tag 6 - Mittwoch --------------------------- Langsam schlenderte ich durch den Park. Es war verdammt heiß, die digitale Anzeige vor der Apotheke zeigte 27°C an. Im Schatten. Ich raffte meinen Rock vorne zusammen, damit man mir nicht bei jedem lauen Lüftchen drunter gucken konnte, und setzte mich auf die Parkbank, die neben mir stand. Ich war heute nicht in der Disko gewesen und hatte stattdessen aus reiner Langeweile den gesamten Tag auf dem Weg vom Haus zum Supermarkt und wieder zurück verbracht. Als mich die Verkäufer allerdings schon beim vierten Mal ziemlich sauer angeguckt hatten, weil ich schon wieder an ihnen vorbeigegangen war, ohne etwas zu kaufen, hatte ich mir beim fünften Mal schließlich eine Packung Gummibären genommen. Die hatte ich jetzt aufgemacht und schob sie mir nacheinander in den Mund, während ich nachdachte. Meine Mutter war wohl während einem meiner Spaziergänge zu meiner Oma gefahren und hatte in ihrer Geistesgegenwart einen Zettel an die Tür gehängt: "Bin bei Oma. Ich habe dir die Lasagne warm gemacht und dann in den Ofen gestellt, damit sie nicht so schnell auskühlt. Komme wahrscheinlich gegen vier wieder." Das Problem war weder die Lasagne gewesen noch der Umstand, dass sie im Ofen stand. Dass meine Mutter weg war, war auch nicht weiter schlimm. Das Problem war nur, dass sie die Tür abgeschlossen hatte. Und von daher durfte ich von jetzt, um halb eins, noch bis um mindestens vier Uhr im Park bleiben und mir die Zeit vertreiben. Wahrscheinlicher war, dass es noch länger dauern würde. Meine Mutter und meine Oma vergaßen schnell mal die Zeit. Ich seufzte und stand wieder auf. Mir taten die Füße weh, weil ich es nicht gewohnt war, in Schuhen mit Absatz zu laufen, aber sitzen bleiben konnte ich auch nicht. Zu schnell schweiften miene Gedanken auf gestern ab, und das musste ich mir nicht weiter antun. Ich war froh, dass ich überhaupt noch schlafen konnte ohne die ganze Zeit vor Schmerz wieder aufzuwachen. Warum die Klassenbeste sich auf das Niveau heruntergelassen hatte, war mir ehrlich gesagt schleierhaft. Was hatte sie vor zwei Wochen noch gesagt? "Ich lasse mich doch noch nicht mal dazu herab, mit der zu reden"? Ich schnaubte höhnisch. Sicher doch. Ich trat auf einen dickeren Ast, der auf dem Weg liegt, rutschte – oder rollte besser gesagt – auf ihm aus und hielt mich im Fallen automatisch an der nächstbesten Person fest. Gott sei Dank war der Park heute gut besucht. "Verdammte Scheiße", fluchte ich und ließ weitere nicht sehr damenhafte Verwünschungen los. Der Jemand, an dem ich mich festgehalten hatte, eindeutig jemand männliches, lachte. Was sollte das? Ich war ausgerutscht und der lachte sich kaputt? "Oh – wie – witzig!" Ich hoffte doch sehr für den Typ, dass er den Sarkasmus gehört und als solchen verstanden hatte, sonst hätte ich ihn zumindest nicht gerade als sehr intelligent eingestuft. "Du sahst eben sehr elegant aus", sagte er und hob mich wieder auf die Beine. Beim Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen, drehte mich ruckartig zu ihm um und rutschte auf dem gleichen verwunschenen Ast wie davor auch schon gerade noch einmal aus. Als ich ungefähr drei Minuten später meinen Pseudohelden ansah, um ihn zusammenzustauchen, warum er mich eigentlich nicht aufgefangen hatte, zuckte ich zusammen. Vor mir saß Chris in der Hocke, sah mir interessiert zu und grinste breit. "Ist das dein Hobby?", fragte er mich, ohne mit der Grinserei aufzuhören. Ich wurde knallrot und funkelte ihn an, ohne ihn eines Kommentares zu würdigen. "Ich meine", fuhr er fort, als ich nichts mehr sagte, "rutschst du öfters zweimal auf dem gleichen Ast aus und fluchst dir die Seele hinterher aus dem Leib?" Statt meinen warnenden Blick zu beachten, redete er einfach weiter. "Dein Wortschatz ist wirklich beachtlich. Schreibst du mir die Flüche mal auf? Die könnten mal nützlich werden. Ich hab öfter mal an so was Bedarf, aber dann fällt mir nichts Passendes ein. Du hast das aber echt gut drauf. Nur gehört sich so was für eine Lady nicht ganz..." Ich rappelte mich mühsam auf und ignorierte seine ausgestreckte Hand. "Ich bin keine Lady", zischte ich und klopfte mir den Schmutz vom Rock, "und ich habe auch nicht vor, eine zu werden." Als ich vorsichtig den Knöchel belastete, landete ich wieder im Dreck. "Warte, ich helfe dir", sagte er und hob mich kurzerhand hoch. Meinen Protest beachtete er erst gar nicht, stattdessen setzte er mich erst an der Bank wieder ab, auf der ich vorhin gesessen hatte und setzte sich anschließend neben mich. Wir schwiegen uns an. Schließlich, als das Schweigen unerträglich wurde, räusperte er sich. "Sag mal", fragte er, "was meintest du eigentlich vorgestern, als deine Mutter mir ausgerichtet hat, ich könne dich mal am Arsch lecken?" Ich fuhr zusammen. Mist. Ich hatte schon gehofft, er hätte es vergessen. "Ach, das..." fing ich ausweichend an. "Na ja, das ... war eigentlich eher ein Versehen. Also, das Ganze fing so an:" Dann erzählte ich ihm die ganze Geschichte: Wie ich nach Hause gekommen war und was ich vorgefunden hatte, was meine Mutter mir hatte antun wollen und wie es anschließend zu dem "sie sagte, du könntest sie am Arsch lecken" gekommen war. Als ich schließlich fertig war, lag er am Boden und rollte sich vor Lachen im Staub. "Ist das dein Ernst?", fragte er schließlich, als er meinen pikierten Blick bemerkt und sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Als ich ihn wütend anfunkelte und zu einem 'was soll das heißen, ist das dein Ernst' ansetzen wollte, hob er beschwichtigend die Hände. "Schon gut, ich glaube dir ja schon." Er grinste. "Aber es klingt irgendwie trotzdem einfach nur genial." Widerwillig lächelte jetzt auch ich. "Na ja", gab ich zu, "ganz alltäglich ist das nicht. Es sei denn, man wohnt mit meiner Mutter zusammen." Wir schwiegen uns eine Weile an und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Schließlich sah er auf seine Uhr und seufzte. "Ich muss nach Hause", sagte er. "Meine Mutter wartet bestimmt schon." Ich verzog das Gesicht. "Du hast's gut", sagte ich, bei dir ist wenigstens jemand zu Hause." Er sah mich verständnislos an. "Bei dir etwa nicht? Und da hast du keinen Schlüssel oder so?" ich versuchte es mit einem erneuten Grinsen, das aber zu einer ziemlich lächerlichen Grimasse ausartete. "Normaler Weise säße ich jetzt zu Hause", erklärte ich ihm, "aber meine Mutter hat Lasagne gemacht, sie in den Ofen gestellt, damit sie nicht auskühlt, mir einen Zettel geschrieben, sie wäre bei meiner Oma und ich solle mir die Lasagne aus dem Ofen holen und dann hat sie die Tür abgeschlossen." Christian sah mich an, als hätte ich gerade vor seinen Augen eine Raupe gefressen. "Und du hast keinen Schlüssel?" "Keinen Schlüssel", bestätigte ich. "Kannst du irgendjemanden aus eurer Nachbarschaft fragen, ob sie dich mal reinlassen können?" "Unsere Nachbarn haben etwas gegen meine Mutter und ihre Dekorationen im Treppenhaus bei Festen und feierlichen Angelegenheiten und die einzige Familie, die mich mag, ist auf Teneriffa." Er überlegte. "Das sieht übel aus", bemerkte er dann scharfsinnig. "Stimmt", antwortete ich. Er überlegte wieder. "Dann stand er auf und zog mich auf die Beine. "Dann kommst du halt mit mir mit." Ich rutschte auf einem Ast aus, hielt mich an ihm fest und landete trotzdem auf dem Hosenboden. "Machst du das absichtlich? Diesmal trage ich dich aber nicht." Er hatte die Stirn gerunzelt und sah mich kritisch an. Dann ging er los. Ich fiel natürlich, weil ich mich in meiner Dummheit immer noch an ihm festhielt, direkt auf die Nase. Hatte ich gesagt, dass ich Montage hasste? Für Mittwoche galt das mal mindestens genauso. "Da sind wir", sagte er und öffnete die Tür zu einer kleinen, gemütlich eingerichteten Wohnung. Ich trat ein und betrachtete neugierig das Bild an der Wand. Es zeigte eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, die lachend durch ein Blumenfeld rannte und unzählige Schmetterlinge aufscheuchte. "Wer ist das?", fragte ich Chris. Er lächelte und trat neben mich. "Das ist meine Mutter. Gefällt es dir?" Gefallen ist gar kein Ausdruck, dachte ich und nickte überwältigt. "Wer hat das gemacht?" Christian wurde rot. "Das ... das ist von mir", sagte er langsam und sah zu Boden. "Ein Hobby von mir. Ich weiß, schrecklich langweilig." Ich sah ihn an, als wäre er von allen guten Geistern verlassen. "Langweilig???" Er wurde noch röter als er es ohnehin schon war. Ich hingegen war kurz davor, ihm an die Kehle zu springen, ihn zu schütteln, zu ohrfeigen oder gleich in die Psychiatrie einzuweisen. Wenn er jetzt noch röter würde, müsste ich mir wohl ernsthaft Sorgen um ihn machen. "Sag mal, bist du noch ganz bei Trost? Ich finde das einfach nur geil!" Er schwieg. Er schwieg weiter. Er schwieg noch länger. Und noch länger. Und er hörte gar nicht mehr auf zu schweigen. Stattdessen scharrte er peinlich berührt mit den Füßen, soweit das auf dem Teppichboden überhaupt möglich war. Schließlich seufzte ich und redete weiter, um der Situation die Peinlichkeit zumindest einmal einzuschränken. Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen, aber blöd wie ih bin sagte ich natürlich in dem Moment das erste, was mir einfiel. "Hast du noch mehr Fotos? Kann ich mir die mal anschauen?" Der Farbton, den sein Gesicht annahm, wurde immer schlimmer. Schließlich zuckte er mit den Schultern: "Wenn du willst." Natürlich wollte ich und kurze Zeit später saß ich auf seinem Bett, während um mich herum Hunderte Fotos ausgebreitet lagen. "Warum sortierst du sie denn nicht einfach mal alle in ein Album ein?", fragte ich Christian. Er hatte in der Zwischenzeit seine Selbstsicherheit wiedergefunden und seine Augen hatten angefangen zu strahlen, als er die ersten Fotos ausgepackt hatte. "Weiß nicht", sagte er und reichte mir die nächste Tüte. "Ich hatte nie einen Grund dazu. Ich weiß ja, wo welche Bilder sind und so kann ich sie ganz einfach aus den Tüten nehmen und jedes Mal wieder zurückstecken. Für mich wäre es nur eine Zusatzgeldausgabe, Alben anzulegen. Immerhin komme ich perfekt zurecht." Ich sah mich zweifelnd um. "In dem Chaos?" Er lächelte. "Normaler Weise ist es ordentlicher." Ich konnte nichts anderes mehr tun als einfach zu nicken. Er musste meinen Zweifel gesehen haben, denn kurz darauf lächelte er noch breiter. Dann fing er an, die Fotos nach und nach wegzuräumen. "Kann ich vielleicht das Foto hier haben?", fragte ich ihn und zeigte auf ein Foto, auf dem ein kleiner schlafender Junge zwischen den Pfoten eines sehr großen Hundes lag, der seinen Kopf schützend auf den Körper des Kindes gelegt hatte. Er sah es sich kurz an und nickte dann. "Klar", sagte er, als wäre es das Natürlichste der Welt, und schob es mir zu. "Das ist mein kleiner Cousin, als meine Tante und mein Onkel in einem Gehege mit Irischen Wolfshunden waren. Der Kleine ist einfach eingepennt. Und der Hund hat dann keinen mehr an ihn rangelassen, auch meinen Onkel und meine Tante nicht. Das hat sie dann nicht so sehr gefreut und am Ende mussten sie auf dem Hof übernachten, weil sonst entweder der Hund oder sie nicht mehr lange gelebt hätten." Ich musste grinsen bei dieser Vorstellung. Dann versuchte ich, mir vorzustellen, meine Mutter würde von solch einer treudoofen Töle im Schach gehalten. Ein Traum. "Meinst du, die haben noch so einen Hund?", Chris grinste breit über seine Schulter hinweg und streckte sich nach oben, um die letzte Kiste in sein Regal zu stellen. "Vielleicht. Aber ich glaube es nicht, sie wollten damals schon nicht züchten. Das war eher ein Unfall gewesen." Mit diesen Worten setzte er sich wieder neben mich. Wir schwiegen, während jeder seinen Gedanken nachhing. Als es langweilig wurde, piekste ich ihn auffordernd in die Seite. "Dreh dich mal um", forderte ich ihn auf und wartete, bis er mir den Rücken zugedreht hatte, was er nicht ohne einen schiefen Blick in meine Richtung tat. Ich überlegte kurz und malte ihm dann mit dem Finger eine Blume auf den Rücken. "Du musst erraten, was das war." Er dachte kurz nach. "Keine Ahnung", sagte er dann. "Ehrlich gesagt, ich habe gar nicht drauf geachtet. Eine Sonne?" "Eine Blume", informierte ich ihn. "Jetzt bist du dran." Ich drehte mich um und wartete darauf, dass er anfing. Als ich schließlich seine Berührung auf meinem Rücken spürte, war alle Konzentration hin. Ich erschauerte. Ich kam mir vor wie unter Strom gesetzt und während er mir irgend etwas auf den Rücken malte, was ich unter normalen Umständen problemlos hätte erkennen können, wusste ich nicht einmal, wie es angefangen hatte. Als er fertig war, bat ich ihn, es mir noch einmal auf den Rücken zu zeichnen. "Komm schon, das war doch jetzt einfach", sagte er und grinste mir erstaunlich frech über die Schulter, dafür, dass er vor zwanzig Minuten noch nicht einmal im Stande gewesen war, mir ins Gesicht zu sehen. Ich wurde rot. "Tut mir Leid", sagte ich, "ich hab irgendwie gar nix erkennen können." Er lachte. Dann malte er mir das Bild ein zweites Mal auf den Rücken. Warum war es nur so schwer, mich auf das Bild zu konzentrieren? Verflucht, ich hatte das Spiel schon so oft gespielt, mit meiner Cousine, meinem Cousin, meinem Bruder, meiner Mutter, als sie noch normal war, unserer damaligen Nachbarin ... und jetzt? Ich merkte, dass Chris fertig war. Schon wieder. Und ich hatte noch nicht mal den Anfang mitbekommen. Ich wurde knallrot und ignorierte die Tatsache, dass er mir über meine Schulter hinweg ins Gesicht sah. "Und?", fragte er entspannter, als ich es unter diesen Umständen wohl jemals sein würde. Ich merkte, wie mir heiß und kalt gleichzeitig wurde, und zuckte verzweifelt mit den Schultern. "Ich kann mich einfach nicht konzentrieren! Ich meine..." Mir wurde erst jetzt klar, was ich da gerade gesagt hatte. Warum konnte es in meinem Leben nicht einfach mal einen Tag geben, an dem alles glatt lief? Falls ich es bis dahin noch nicht gewesen war, wurde ich schlagartig rot wie eine Tomate. Dann warf ich mich auf den Bauch, vergrub das Gesicht in der Decke, machte rundherum dicht und murmelte: "Scheiße." Aus vollstem Herzen. Es vergingen einige Sekunden, die eine Ewigkeit zu dauern schienen. Dann fühlte ich, wie seine Hand mir über den Rücken strich, erst zögernd, dann, als ich nichts dagegen tat, zunehmend selbstbewusster. Sie malte mir Muster auf den Rücken, massierte mir den Nacken und strich mir die Wirbelsäule entlang. Ich merkte, wie sich mir die Härchen auf den Armen aufstellten. "Magst du das?", fragte er mich unsicher. Ich nickte. Zu mehr war ich meiner momentanen Situation nicht fähig. Warum hatte ich ihn eigentlich nicht schon viel früher als erst am Samstag angesprochen? Abends, in meinem Zimmer, lag ich noch lange wach und dachte an den Nachmittag. Vielleicht war mein Leben doch nicht so schlecht. Kapitel 8: Tag 7 - Donnerstag ----------------------------- Die Schulglocke klingelte genau in dem Moment, als ich mich zum Tausendsten Mal fragte, wie lange eigentlich eine Sekunde dauern kann. Heute hatten sie mich in Ruhe gelassen, und ich war froh darum. Meine Mutter war von Anfang an dagegen gewesen, mich gleich wieder in die Schule zu schicken, wo sie mich doch erst vorgestern zusammengeschlagen hatten. Wäre jetzt etwas passiert, hätte sie mir das mein Leben lang bei jeder Situation unter die Nase gerieben. Das wäre nicht gerade angenehm gewesen. Meine Vernunft schaltete sich ein. Wie dumm musste ich eigentlich sein, um bei so einer Situation nur daran zu denken, dass meine Mutter mich daran ewig erinnert würde? Wütend auf mich selbst packte ich meine Hefte zusammen und schulterte meinen Rucksack. Die ganze Aktion würde sich von selbst klären, da war ich mir sicher. Der Bus brauchte mal wieder ewig. Ungeduldig verlagerte ich mein Gewicht vom einen Bein auf das andere. Gerade, als ich anfangen wollte, mit den Füßen zu scharren, drängte sich eine mir nur allzu gut bekannte Fratze ins Sichtfeld. "Oh, warten wir auf Mister Lover Lover?", fragte die Klassenbeste herablassend. Ich fragte mich, ob ich ihr die Zähne einschlagen, sie skalpieren, ihr Hände und Füße abschlagen oder einfach nur bei lebendigem Leib das Herz herausschneiden sollte. Die Entscheidung zwischen einer langen Gefängnisstrafe, dafür aber Genugtuung, und einem weiterhin freien Leben, dafür aber ständig mit dieser Hackfresse in der relativ nahen Umgebung (sie wohnte nur vier Straßen weiter) war schwer. Sehr schwer. Gerade, als ich mich dafür entscheiden wollte, sie einfach zu ignorieren, stieß sich mich grob gegen die nächste Laterne. "Ich hab dich was gefragt!", keifte sie laut. Ich wartete vergeblich darauf, den Schaum um ihren Mund herum zu entdecken. Warum hatte sie keinen Schaum vor dem Mund? Diese Tatsache war wirklich irritierend. Bei dem Verhalten musste sie einfach Schaum vor dem Mund haben, das war ... war es ein Gesetz? Nein, entschied ich mich nach einem weiteren Blick auf ihr Gesicht, wahrscheinlich hatte sie bei der Visage noch einen Extrasack, in dem sie ihren Schaum aufbewahrte, damit sie nicht darauf ausrutschen konnte. Bei der Menge konnte das wahrscheinlich andernfalls gefährlich werden. Gerade, als sie ernsthaft auf mich losgehen wollte, packte sie jemand Großes und sehr Wütendes von der Seite am Arm und drehte sie unsanft herum. "Hör mal zu", sagte der blonde Dämon mit bedrohlich leiser Stimme zu ihr, "wenn du ein Problem damit hast, dass sie mit mir zusammen ist und nicht du, solltest du erst mal in den Spiegel gucken und dann in die psychiatrische Klinik gehen. Das erste gibt dir eine Erklärung, warum, und das zweite gibt dir eine Chance, deine Anfälle unter Kontrolle zu bekommen. Das ist doch nicht mehr normal." Dann drehte Chris sich zu mir um und lächelte mich an. "Kommst du?", fragte er, wieder ganz der Alte, und ich hätte schwören können, dass niemand süßer lächelte als er. Wir waren erst ein kurzes Stück gegangen, als er plötzlich, ohne Vorwarnung, meine Hand nahm. Als ich ihn daraufhin überrascht ansah, wurde er rot. "Tut mir Leid", sagte er und wollte sie wieder wegziehen. Ich hielt ihn fest. "Ich denke, wir sind jetzt zusammen?", fragte ich, halb stolz, halb hoffend, dass er es sich nicht doch noch anders überlegte. "Dann können wir auch mal Hand in Hand durch die Gegend laufen." Daraufhin schwieg er. Ich bereute es schon, es gesagt zu haben. Es klang so fordernd, anklagend. Gerade, als ich anfing, mich so richtig beschissen zu fühlen, dem schlechten Gewissen zu frönen und mir einen möglichst guten Fluchtplan auszudenken, ließ er endgültig meine Hand los und legte seinen Arm um meine Hüfte. Mein Herz schlug schneller. Irgendwo in meinem Gehirn gab es tatsächlich noch einen Bereich, der rational denken konnte und ein intelligentes 'Ist das wirklich kein Wachtraum?' von sich gab, bevor auch er den Geist aufgab. Vorsichtig lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter. Es war etwas holprig, aber im Großen und Ganzen ein tolles Gefühl. Am liebsten hätte ich die Augen zugemacht, aber dann wäre ich wahrscheinlich irgendwo reingetreten, wie ich mich kannte, oder gegen einen Masten gelaufen. "Wir sind da", sagte Chris leise und blieb stehen. Ich merkte, dass ich trotz meiner Bedenken doch die Augen geschlossen hatte, und öffnete sie. Das gleißende Sonnenlicht war im ersten Moment zu hell für mich und ich musste oft blinzeln, dann erkannte ich, dass es stimmte. Er hatte mich durch den Vorgarten bis an die haustür gelotst. "Danke", sagte ich und löste mich mit einem leisen Bedauern von ihm. Schweigen senkte sich zwischen uns. "Na, dann sehen wir uns ja morgen in der Schule", versuchte ich, es möglichst fröhlich klingend zu brechen. "Ja, stimmt", sagte er. Wir schwiegen wieder, beide immer noch am gleichen Platz wie davor. Und wir bewegten uns beide keinen Zentimeter von der Stelle. Irgendwann merkte ich, dass Christians Kopf mir immer näher kam. Scheiße, dachte ich und bekam Schweißausbrüche, hatte ich heute Morgen überhaupt die Zähne geputzt? Roch er mein Frühstücksbrot? Welche Katastrophe passierte als nächstes? In dem Moment, als ich meine Augen schließen wollte, beugte er sich schneller zu mir und nahm mich fest in die Arme. "Dann bis morgen", sagte er in meine Haare. Ich war ein wenig enttäuscht. So überzeugend wie nur möglich lächelnd, schob ich ihn ein Stück von mir weg und küsste ihn auf die Wange. "Tschüss", flüsterte ich. Dann ging ich die Treppen zu unserer Wohnung hoch. Warum musste er ausgerechnet in dem Moment vergessen, dass er seine Schüchternheit bis jetzt so gut überwunden hatte? Kapitel 9: Tag 8 - Freitag -------------------------- Müde öffnete ich die Haustür. Meine Mutter war nicht da, das sah ich allein schon daran, dass ihre Schuhe nicht mitten im Flur lagen. Ungewohnt, aber irgendwie nicht schlecht. Ich schmiss gerade meinen Ranzen in die Ecke neben meinem Schreibtisch, als ich in der Küche ein lautes Scharren hörte. Ich zuckte zusammen. Hatten wir Einbrecher im Haus? Ratten? Für Mäuse war es zu laut. Irgendwelche Vertreter? Nein, rief ich mich zur Ruhe, die konnten gar nicht reinkommen, weil sie sonst eine Anklage riskierten, ihren Job und noch viel Trallala dazu. Leise schlich ich durch den Flur. Irgend etwas Großes, Hünenhaftes stand in unserer Küche. Ich fing an zu zittern. Wahrscheinlich war es doch ein Einbrecher. Oder vielleicht sogar ... ich wagte nicht nachzudenken. Was, wenn meine Oma väterlicherseits gekommen war? Vorsichtig machte ich die Tür einen Spalt auf. Und schrie. Der Typ, der in der Küche stand schrie auch und drehte sich mit dem großen Brotmesser in der Hand zu mir um. Ich schrie noch lauter und schnappte mir den Besen aus der Ecke. Er steigerte seine Lautstärke auch nochmal um ein gutes Stück und nahm sich ein Holzbrettchen als Schild aus dem Schrank. Ich fing an, regelrecht zu kreischen und nahm mir den Stuhl. Dann fing er an, zu husten. "Ohgottohgottohgottohgott!", rief ich, auch schon etwas heiser, und sprang auf ihn zu. "Alex, alles okay?" Mein großer Bruder lief blau an und nickte verzweifelt. Dann schmiss er das Küchenmesser und das Holzbrettchen in die Spüle und klappte kunstvoll zusammen. Ich rannte zu ihm hin, kniete mich neben ihn und schlug ihm dabei den Stuhl gegen die Stirn. Er stöhnte und hob langsam das eine Augenlid. "Willst du mich töten?" Ich sah abwechselnd den Stuhl und ihn an. Er stöhnte wieder und rappelte sich auf. "Ich hol mir nen Kühlakku", sagte er und verschwand. Langsam stellte ich den Besen und den Stuhl zurück an ihre Plätze, um mich dann auf zweiteren fallen zu lassen. Mein Bruder war zurück auf Australien. Er hatte ein Messer in der Hand gehabt. Und er hatte es nicht benutzt. Es schien, als hätte er mir das Malheur von vor zwei Jahren endlich verziehen. Ich schrak auf, als er sich mit einem lauten Plumps auf den anderen Stuhl fallen ließ. "Wo ist denn Mum?", fragte er. "Bist du denn nicht mehr sauer auf mich?", fragte ich ihn erstaunt. "Nein." "Nein?" "Nein!" "NEIN???" Er sah mich böse an. "Wenn du weiter alles zehnmal wiederholst, was ich sage, werd ich aber schnell wieder sauer!" Ich hielt vorsichtshalber die Klappe. Mit großen Brüdern verscherzt man es sich allein schon deswegen besser nicht, weil sie mehr Einfluss als man selbst und einen Führerschein haben. Vom Perso und vielen Kontakten ganz zu schweigen. "Nein, ich bin nicht mehr sauer", fuhr er fort, als wäre nichts gewesen. "Ich glaube, es ist ganz gut, dass du seinerzeit solchen Mist gebaut hast. Ich hab mich demletzt von ihr getrennt." Ich traute meinen Ohren nicht. "Du hast dich von ihr getrennt?" Sein warnender Blick ließ mich wieder in mich gehen. "Ja, ich habe mich von ihr getrennt", seufzte er schließlich. "Ich habe dir damals nicht geglaubt, als du mir gesagt hast, dass sie eine 'elende Nutte' ist und dass sie doch mit jedem außer mir ins Bett geht. Ich hätte auf dich hören sollen." Ich erinnerte mich noch gut, wie ich diese arrogante Kuh beschimpft hatte, als sie daneben stand. Ich wusste nicht mehr genau, als was ich sie alles bezeichnet hatte, aber 'elende Nutte' war, glaube ich, noch einer der netteren Ausdrücke gewesen. Mich hatte noch Monate später das schlechte Gewissen geplagt, weil ich mich in dem Moment hatte gehen lassen, nur weil ich gedacht hatte, sie mit einem anderen Typen gesehen zu haben. Mein Bruder hatte größte Probleme gehabt, sie wieder zurückzuerobern, und dass er mit ihr jetzt Schluss gemacht hatte, überraschte mich. "Was ist denn passiert, dass du ihr den Laufpass gegeben hast?", fragte ich neugierig. "Sie ist mit einem anderen ins Bett gegangen – über mehrere Monate hinweg. Oder, um genau zu sein, mit meinem besten Freund, der das gar nicht mitbekommen hat und mit ihr Schluss gemacht hat, als er mitbekommen hat, dass sie eigentlich mit mir zusammen war, und verschiedenen anderen Typen, die ich alle nur vom Sehen in der Stadt kenne. Die meisten sind stinkreiche alte Männer, die selbst wahrscheinlich Familie haben." "Warum hat dir Timo denn nicht Bescheid gegeben, als er das rausgefunden hatte?" "Hat er, aber ich habe nicht auf ihn gehört." Ich sah ihn nachdenklich an. Er schien sehr gefasst zu sein, obwohl das noch gar nicht so lange her sein konnte. Wenn Chris das gemacht hätte, hätte ich mich wahrscheinlich heulend in irgend eine Ecke verkrochen und wäre vor Enttäuschung, Wut und Selbstmitleid erst mal nicht mehr rausgekommen. "Woran denkst du?", fragte Alexander mich. "Ich bin im Moment mit einem Jungen aus einer Klassenstufe über mir zusammen", erklärte ich zögernd. "Ich habe mich gerade gefragt, was ich machen würde, wenn er so eine Show abziehen würde." "Es zog sich schon ewig so hin", erklärte Alex. "Am Ende war es eigentlich nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wir stritten uns ständig über Kleinigkeiten und am Ende gab es dann Türengeknalle." Er sah mich fragend an. "Magst du was über deinen Traumprinzen erzählen oder lieber nicht?" Ich überlegte. Auf der einen Seite wäre es schon schön gewesen, mal jemandem von Christian erzählen zu können, aber auf der anderen Seite war er immer noch er. Schließlich rang ich mich dazu durch, ihm einen Teil zu erzählen. "Er heißt Christian und ich hab ihn letzten Samstag gefragt, ob wir uns vielleicht mal treffen könnten. Dann gin eigentlich alles ziemlich schnell. Ich weiß nicht, vor zwei Wochen kannten wir uns nur vom Sehen und inzwischen laufen wir Händchen haltend durch die Gegend." Ich dachte an vorgestern und wurde rot. "Habt ihr euch schon geküsst?", fragte Alex so begeistert, als wäre er eine pubertierende Teenagerin, die mit mir zusammen am Tisch saß und sich quietschend und giggelnd über den neusten Stand der Dinge informierte. "Nein, haben wir nicht", sagte ich und musste grinsen. "Warum grinst du?" "Weil du aussiehst, als würden die gleich die Augen vor lauter Staunen aus den Höhlen fallen." Ich nahm mir einen Keks aus der angebrochenen Schachtel, die zusammen mit der alten Zeitung von vorgestern und ein paar schmutzigen Tellern auf dem Tisch lag, steckte ihn in den Mund und stand auf, um den Tisch abzuräumen. Als ich die Teller auf die Spüle stellen wollte, fiel mir einer runter, genau auf den Fuß. Mit lautem Schmerzgeheul hüpfte ich vor den Augen meines Bruders dreimal durch die ganze Küche, bis es mir gelang, halbwegs normal stehen zu bleiben, und stützte mich an der Kante der Arbeitsplatte ab. Dabei schmiss ich, typisch ich, gleich auch die Gläser runter, die komischer Weise alle heil blieben. Seufzend bückte ich mich und hob die Gläser und den Teller auf. Warum musste ich eigentlich so eine Chaosschachtel sein? Mein Bruder legte mir von hinten seine Hand auf die Schulter. "Lass nur", sagte er grinsend, "ich mach den Rest. Bevor du alles runterschmeißt." Deprimiert ging ich in die Richtung meines Zimmers. Es war so klar, dass so etwas genau dann wieder anfangen musste, wenn mein Bruder da war. Er machte sich doch so schon genug über mich lustig! Und die letzten zwei Tage waren so schön ruhig gewesen ... Ich drückte die Klinke runter und zog an ihr. Im nächsten Moment lag ich überrascht im Schuhschrank und hielt die lose Klinke in der Hand, während die Tür unverändert verschlossen war. Was sollte das denn jetzt schon wieder? "Musst du bei der Tür nicht drücken?", fragte mein Bruder, der lässig im Türrahmen stand und amüsiert meine momentane Position betrachtete. Wütend stapfte ich zur Tür, steckte die Klinke auf den Stift und drückte – und stand daraufhin tatsächlich in meinem Zimmer. Draußen im Gang lachte sich mein Bruder einen Ast. Ich seufzte. Bleib ruhig, beschwor ich mich, er kann nichts dafür. Du hättest in seiner Situation auch so gehandelt. Du hättest genauso gelacht, dich über ihn lustig gemacht. Ich konzentrierte mich darauf, langsam zu laufen, als ich mich schließlich auf den Weg zum Balkon machte. "Ich geh mal kurz an die frische Luft", knurrte ich Alexander zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch zu, öffnete die Tür (an der man diesmal ziehen musste, wie ich beim dritten Versuch scharfsinnig bemerkte) und setzte mich auf einen der Klappstühle. Wie hätte es auch anders sein können, fragte ich mich, den Tränen nahe, als er plötzlich mit einem lauten Knacken zusammenkrachte. Hinter mir räusperte sich mein Bruder und unterdrückte hörbar seinen lachkrampf. Er schlug sich nicht schlecht. "Der Stuhl ist übrigens kaputt", sagte er, fürsorglich wie immer. Warum hatte ich nur das Gefühl, dass sich heute alles gegen mich verschworen hatte? Als ich schließlich ohne weitere Zwischenfälle in meinem Zimmer saß und Computer spielte, bekam ich über ICQ eine Nachricht von jemandem namens 'Kekskiller'. Verwirrt starrte ich auf die Nachricht. Wer sollte mir schon schreiben? Hast du die Aktion mit dem Mädchen heute mitbekommen? Wer bist du?, fragte ich zurück. Chris. Ich hab dich einfach mal geaddet. Ich zog überrascht die eine Augenbraue hoch. Ich wusste zwar, dass es so was wie ICQ gab, aber ich hatte es noch nie benutzt. Ich sah es einfach mal neutral, dass ich so urplötzlich damit konfrontiert wurde. Was soll denn mit dem Mädchen passiert sein? Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam. Irgend so ein Irrer hat einem Mädchen aus der Zwölften einen Brief geschrieben, dass er sie umbringen wollte, vor drei oder vier Tagen. Dann hat er sich jeden Tag gemeldet, von wegen sie solle sich nicht an die Polizei wenden, sonst würde er ihren Onkel umbringen. Na ja, er hat genauer gesagt geschrieben, sie würde am Sonntag sterben. Sie hat sich natürlich trotzdem an die Polizei gewendet und hat das Ganze als Stalking gemeldet. Kurze Zeit später ist ihr Onkel mit einem Schnitt durch die Kehle umgebracht worden und sie ist mit ihren Eltern irgendwo hingefahren, niemand wusste wo hin. Aber ich hab von ihrer Freundin erzählt bekommen, dass die Nachrichten trotzdem weitergehen und dass das Mädchen so langsam an Verfolgungswahn leidet. Welcher Typ macht so was schon? Jemand, dem es von Kindesbeinen an Spaß macht, katzen zu töten, um die Besitzer zur Verzweiflung zu bringen, dachte ich bei mir. Ich weiß es nicht, schrieb ich stattdessen, aber der Typ muss einfach nur geisteskrank sein. Und es ist wirklich an unserer Schule passiert? Ja. Mir fuhr ein Schauer über den Rücken. Wie musste es wohl sein, das Gefühl zu haben, nur noch eine begrenzte Zeit zur Verfügung zu haben? Dann rief ich mich wieder zur Vernunft. Schließlich war es ja mehr oder weniger genau das, was ich seit letzter Woche Freitag tat. In dem Moment, wo ich den Gedanken ausformuliert hatte, kam auch schon wieder der nächste Eintrag von Chris. Hast du am Samstag Zeit? Hättest du Lust, dich mit mir um vier im Park zu treffen? Geht nicht, antwortete ich, am Samstag wollen wir mit der ganzen Familie grillen, weil mein Bruder von seinem Aupairjahr zurück ist. Was hältst du davon, wenn wir uns im Park treffen und zu mir gehen? Als ich später, gegen halb zwölf, im Bett lag, dachte ich schläfrig an den nächsten Tag. Es würde bestimmt klasse werden, dann könnte ich direkt Chris meinen Eltern vorstellen. Wie als Kommentar dazu knarzte der eine Pfosten meines bettes, gab nach und ich rollte über die Schulter zu Boden. Nun ja, vielleicht war mein Bruder ja so nett, mich wenigstens aus den größten peinlichkeiten herauszuhalten. Auch, wenn das sehr unwahrscheinlich war. Kapitel 10: Tag 9 - Samstag --------------------------- Um viertel vor vier ging ich los. Ich war gerade mal aus der Haustüre rausgekommen, als mir meine Cousine schon entgegenkam. Ich versuchte noch, zu entkommen, aber da ich in meiner Intelligenz den Schlüssel gerade fallen gelassen hatte und sie schon zu nah gekommen war, waren die verbleibenden Fluchtmöglichkeiten begrenzt. "Hey!", rief sie überrascht aus, "du kommst ja mal aus dem Haus! Bist du auf dem Weg zur Bücherei? Die hat Samstags doch zu!" Ich schüttelte den Kopf. "Ich bin auf dem Weg zum Park", erklärte ich ihr, "ich hole noch einen unserer Gäste für heute Abend ab." "Dein Herzblatt von letztem Samstag?" "Dana!" Sie setzte ihre Unschuldsmiene auf. "Was denn?" "Ich bin sicher, Mum wartet schon auf dich", drängte ich sie mit drohendem Unterton in der Stimme. "Die kann warten", sagte sie gelassen und nicht im Geringsten beeindruckt. "Es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass ich die Chance habe, meiner kleinen Cousine ein Date zu vermasseln." Ihr Grinsen reichte von einem Ohr bis zum anderen. "Ich muss jetzt gehen", ermahnte ich sie und lief los. Statt einfach nach oben zu meiner Mutter zu gehen, kam sie mir hinterher. "Ich komme mit." Hätte ich nicht genau gewusst, dass sie genau das erwartete und wollte, hätte ich sie jetzt zusammengeschissen, aber es war wohl für mich besser, den Mund zu halten. Vor allen Dingen sicherer. Manchmal war es trotz allem besser, sich ein bisschen was gefallen zu lassen. Ich weiß nicht, um wie viele Ecken ich schon gegangen war, um sie loszubekommen, aber es waren viele. Ich lief dreimal um den gleichen Häuserblock, ging in ein Geschäft hinein, wieder hinein, wieder hinaus, das Ganze bestimmt zehn Mal – sie folgte mir stoisch. Schließlich gab ich seufend auf. "Also gut", sagte ich und drehte mich zu ihr um. "Aber wenn du anfängst zu nerven sorg ich dafür, dass du bald weg bist – ob freiwillig oder nicht ist mir dann egal, auch wenn du noch so oft älter bist als ich." Sie grinste. "Okay. Willst du zum Park?" "Woher weißt du das?", fragte ich überrascht zurück. "Weil du genau vor dem Tor entnervt aufgegeben hast. Das kam etwas verdächtig rüber." Sie hatte Recht. Ich hatte es noch nicht einmal bemerkt, aber ich war die ganze Zeit über immer weiter in die Nähe des Parks gekommen. Und da wunderte ich mich auch noch, warum Dana wusste, wo ich hin wollte. Langsam schlenderten wir über den Kiesweg. Ich hatte viel Zeit eingeplant, damit ich bloß nicht zu spät käme, und am Ende war ich so nervös gewesen, dass ich noch eine Viertelstunde früher als geplant losgegangen war, deswegen hatte ich jetzt noch ungefähr zehn Minuten. Trotz allem ertappte ich mich zwischendurch immer wieder, wie ich nach Chris Ausschau hielt. Ich warf einen kurzen Seitenblick auf Dana. Sie ging so selbstbewusst und gut gelaunt neben mir her, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie jemals so schüchtern gewesen war, wie meine Eltern mir immer wieder erzählten. Meine Neugierde regte sich. "Wer war eigentlich dein erster Freun-uooooaa!" Ich weiß, ich hatte ein Faible für professionell-tragische Abgänge, aber in dem Moment fand ich das gar nicht witzig. Wütend saß ich auf dem Boden und betrachtete den Ast, auf dem ich ausgerutscht war, mit zusammengekniffenen Augen. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Warum hatte ich nur dieses starke Gefühl, er würde mich angrinsen? "Ein Typ aus meiner Klasse", antwortete meine Cousine mir und schritt an mir vorbei, als befände ich mich gar nicht in dieser misslichen Lage. "Er sah nicht unbedingt aus wie der typische Superheld, aber er konnte, wenn er wollte, wirklich galant sein. Und zumindest in meiner Gegenwart wollte er meistens. Und außerdem konnte er einfach nur klasse tanzen und war sehr einfühlsam. Er war derjenige, bei dem ich gemerkt habe, dass die richtigen Freunde zu einem halten, selbst wenn sie andere Freunde nicht leiden können. Davon hatte ich nicht viele, aber nachher waren wirklich auch nur noch diejenigen übrig, die es wirklich verdient hatten." Sie drehte sich zu mir um, während sie rückwärts weiterlief, und winkte mir zu. "Bis später!", rief sie noch, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging mit beschwingten Schritten weiter. Als ich mich gerade fragte, was das bitteschön sollte, und mich mühsam aufrappeln wollte, hielt mir jemand seine Hand entgegen. Mein Blick wanderte vom schmalen silbernen Ring am Ringfinger über das Armbändchen weiter am Arm hoch, bis er auf das Gesicht fiel. "Kann ich dir helfen?", fragte mich ein grinsender Mund, während die Augen vom Ast in meiner Hand auf mein Gesicht zurückwanderten. Christian. Mist. Ungefähr zwei Stunden später saßen wir am Grill in unserem Garten und sahen dem Ast zu, wie er langsam in seine Einzelteile zerfiel. Ich hatte mich schüchtern an Christians Seite gekuschelt, der daraufhin rot geworden war und zögernd wie immer seinen Arm um mich gelegt hatte. Ich fühlte mich vollgefressen, schläfrig und einfach rundum wohl. "Wie viele Würstchen hast du gepackt?", brummte ich leise. "Vier Stück und zwei Steaks. Du?" "Drei Würstchen und drei Schüsseln Salat. Ich bin so voll." Zur Antwort bekam ich nur ein leises, recht geschafftes "Papp". "Na, ihr zwei?", fragte in dem Moment mein Bruder und ließ sich neben uns ins Gras fallen. Chris machte Anstalten, seinen Arm beschämt wegzuziehen, aber ich hielt ihn fest. "Na, du zwölf?" Es war ein altes Ritual zwischen meinem Bruder und mir. Chris sah zu Boden und betrachtete unsere Gartenflora. Warum musste er nur ausgerechnet jetzt so schüchtern reagieren? Er war schon den ganzen Abend so zurückhaltend gewesen, aber in der Gegenwart meines Bruders war es noch schlimmer. "Ich dachte mir, ich sollte euch vielleicht wieder etwas in die Grillparty einbeziehen", sagte Alex grinsend, mehr in Chris' Richtung als in meine. "Ihr sitzt so abseits." "Schon okay", murmelte dieser. "Hier sitzen wir immerhin an der Futterquelle." "Ihr habt noch Hunger?" Alex fielen fast die Augen aus dem Kopf. "Ihr habt die meisten Sachen zu zweit verputzt, sodass ich nochmal zum Supermarkt musste, und jetzt habt ihr noch Hunger?" "Ich nicht", wehrte ich ab. "Ich möchte einfach nur ein bisschen hier sitzen und dem Ast da oben beim Brennen zusehen." Alex warf einen abschätzenden Blick auf das kleine Stück Kohle, das vom Ast noch übriggeblieben war. "Du willst dem Ast beim Brennen zusehen? Dann kommst du wohl etwas zu spät. Der ist schon am Verglühen. Kann es sein", fügte er verschmitzt mit einem Seitenblick in meine Richtung hinzu, "dass ihr eigentlich nur eine Gelegenheit zur trauten Zweisamkeit sucht? Dann würde ich auch wieder verschwinden." Ich sah ihn giftig an. Er hatte Recht, ich wusste es eigentlich, aber ich fand es alls andere als galant, es so auszuformulieren. Als er meinen Blick bemerkte, zuckte er nur amüsiert mit den Schultern. "Bin schon weg." Dann waren wir wieder alleine. Als ich Chris später das Gartentor aufschloss, damit er nach Hause konnte, war ich etwas enttäuscht. Es war eigentlich ein recht schöner Tag gewesen, aber ich hatte mir mehr erwartet. Warum musste Chris immer dann so selbstbewusst werden, wenn wir alleine waren, dann aber alles wieder hinscheißen und den Kopf einziehen, wenn jemand anderes dabei war? Ich sah ihm zu, wie er die Straße entlang ging und einen Stein vor sich herschoss. Seufzend drehte ich mich um und ging den Kiesweg wieder hoch. Als ich am Holunderstrauch vorbeiging, sah ich dahinter meinen Bruder stehen, der mich mitfühlend ansah. "War wohl heute nichts, hm?", fragte er. Als ich nicht antwortete, fuhr er einfach fort. "Na ja, setz ihn nicht so unter Druck, wenn er so weit ist, kommt er schon auf dich zu – oder du übernimmst das Steuer." Mit diesem Ratschlag entschwand er dahin zurück, wo er hergekommen war: In die Büsche. Kapitel 11: Tag 10 - Sonntag ---------------------------- Diesen Samstag war in der Stadt eine Dartmeisterschaft. Ich weiß nicht, warum ich hinging, weil ich doch eigentlich gar kein Dart spielen konnte, aber ich tat es trotzdem. Was gab es besseres gegen Langeweile, als sich mit neuen Herausforderungen herumzuschlagen? Ich hatte mich gerade angemeldet, als vor mir plötzlich Christian auftauchte. "Hi", sagte er und ich zuckte zusammen. Hatte ich Verfolgungswahn oder war er es wirklich schon wieder? Ich hatte ja nichts dagegen, aber trotzdem ... es ist schließlich nicht unbedingt normal, jemanden eine Woche lang fast jeden Tag zu sehen, wenn man davor ein kompletter Einzelgänger war. "Hi", sagte ich, als ich mich wieder beruhigt hatte. "Was machst du denn hier?" "Ich suche noch jemanden, der mitmacht. Da hinten gibt es eine abgewandelte Version, da spielen immer zwei gegen zwei. Machst du mit?" Es war halb sieben, als wir schließlich zusammen nach Hause gingen. Am Anfang hatten wir jedes Mal haushoch gewonnen, gegen Ende waren wir dafür aber umso tiefer gefallen – wir hatten jedes Mal entweder daneben oder nur die eins getroffen. Ich wusste nicht, ob das von besonderem Können oder von besonders großem Pech zeugte. Mein Blick fiel, nicht zum ersten Mal für heute, auf Christians Hosen. "Warum hast du eigentlich fast nur Carmouflagehosen an?" Er sah an sich runter. "Hab ich doch gar nicht", verteidigte er sich. "Das ist heute nur mal so." "Und gestern und vorgestern und die gesamte letzte Woche und die vorletzte und die Woche davor auch." "Aber ich hab immer andere angehabt, falls dich das beruhigt." Ich runzelte zweifelnd die Stirn. "Hast du denn sonst nicht?" "Ich meine immer in anderen Farben." "Aha." Schweigend gingen wir weiter, während ich immer noch auf seine Hosen starrte. Hatte ich ihn eigentlich jemals in anderen Hosen als in Carmouflage gesehen? "Außerdem hatte ich am Sonntag Jeans an." Ich sah ihn überrascht an und dachte nach. Stimmt, dachte ich, da war etwas. Aber davor? "Wie viele Carmouflagehosen hast du eigentlich insgesamt?" "Eine dunkle, eine helle, eine in grau, eine in Sandfarben, eine in grün, dann eine in dunkelblau ... das wars, glaub ich. Wieso?" Ich schnaubte belustigt. "Brauchst du vielleicht noch eine in rosa? Oder in babyblau? In pink? Können wir alles kaufen, gibt’s in jedem zweiten Klamottenladen." Er sah mich säuerlich an. "Sehr witzig." "Warum?", fragte ich zurück. "Stände dir bestimmt gut." Zur Antwort streckte er mir nur noch wortlos die Zunge raus. Ich grinste breit zurück. "Reg dich nicht auf, wir sind eh da." Galant hielt er mir die Tür auf. "Hab ich schon gemerkt. Sehen wir uns dann morgen in der Pause auf dem Schulhof?" Ich hatte das Gefühl, als strahlte ich von innen heraus die ganze Straße aus, selbst in den hintersten Ecken. "Okay." "Dann bis morgen", sagte er, drehte sich um und wollte gehen, als mir plötzlich etwas einfiel. "Warte mal", rief ich ihm hinterher und wartete, bis er wieder am Tor stand. "Sag mal, was würdest du eigentlich machen, wenn du heute Nacht sterben müsstest?" In seinem Gehirn fing es an zu arbeiten. Allein schon daran, wie er die Stirn in Falten legte, konnte man sehen, dass er wirklich sehr konzentriert über diese Frage nachdachte. Schließlich zog er mich an sich, küsste mich auf den Mund und hielt mich fest. Ich sah zur Seite und selbst in dem Dämmerlicht, in dem unser Haus lag, konnte ich sehen, wie rot er geworden war. Lächelnd legte ich meinen Kopf an seine Schulter und kuschelte mich näher an ihn ran. Warum musste das Gartentor nur so sperrig sein? Er räusperte sich und schob mich sanft von sich weg. "Ich muss los. Bis morgen." Dann ging er im Eilschritt weg. Ich sah ihm noch lange hinterher. Vielleicht sollte ich öfter sterben. Kapitel 12: Epilog ------------------ Ich drehe mich auf die Seite und sehe ihm beim Schlafen zu. Es ist ein warmer Morgen und von draußen schallt der Vogelgesang aus der Tierhandlung von gegenüber zu unserem Schlafzimmer hoch. Zehn Jahre ist das jetzt her, und das ist einfach nur schön. Meine Großmutter hat mir mal erklärt, dass man mit seiner ersten Liebe nur sehr, sehr selten zusammenbleibt. Vielleicht hatte sie Recht. Möglich ist es, aber selbst wenn es nicht so sein sollte, für mich ist Christian einfach ein Geschenk. Wer auch immer dafür zuständig war, ich danke ihm dafür. Oder ihr, das ist mir egal. Tatsache ist, dass ich glücklich bin. Christian dreht sich im Schlaf zu mir um und legt seinen Arm um meine Taille. Als ich ihm sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht streiche und ihn küsse, lächelt er, ohne aufzuwachen. Er sieht erwachsener aus als vor zehn Jahren, im Großen und Ganzen hat er sich aber nicht verändert. Selbst sein jungenhaftes Grinsen hat er noch. Ich denke an die Klassenbeste. Vor einer Woche war Klassentreffen und ich habe erfahren, dass sie nach ihrem Abschluss nicht mehr viel Glück gehabt hat. Sie ist auf die schiefe Bahn geraten, war in Drogendelikte un d banküberfälle verwickelt. Vor zwei Jahren ist sie bei einem Autounfall mit Drogeneinfluss umgekommen. Die Sonne scheint mir durch das Fenster ins Gesicht und ich beschließe, zum Bäcker zu gehen und Brötchen zu holen. Ich stelle die Kaffeemaschine ein, ziehe mich an und gehe los. Vor der Tür trete ich auf einen Ast, der mir unter meinem Fuß wegrollt, und falle hin. Ich hebe ihn auf und betrachte ihn säuerlich. Ich weiß, es ist Unsinn, so etwas zu denken, weil jeder Ast mehr oder weniger wie jeder beliebige andere Ast aussieht. Aber irgendwie kommt mir der Ast bekannt vor. Und ich habe das Gefühl, dass er mich angrinst. -------------------------- NACHWORT Die erste Geschichte, die ich wirklich fertig bekommen habe. Es ist ein schönes Gefühl, am Computer zu sitzen, sich zu denken 'ich könnte mal an meiner Geschichte weiterarbeiten' und dann zu merken: Die, auf die ich ganz automatisch draufgegangen bin, ist ja eigentlich schon längst fertig. Aber keine Sorge, die nächste Geschichte ist in Arbeit, Kapitel 1 ist schon fertig und, wenn das hier auf Mexx on ist, Kapitel 2 bestimmt auch schon. Ich fürchte, diesmal wird die gesamte Geschichte etwas länger, es passiert in den einzelnen Kapiteln mehr und da es inzwischen nicht mehr nur eine Person ist, kommt durch die Dialoge schon ein ganzes Stück mehr zusammen. Ich stelle sie aber wohl erst am Ende der Ferien on, wenn die Freischalter nicht mehr so viel zu tun haben. Man ist ja human. ^^ Außerdem steigert das die Spannung. Aber das erste, was ich hier und jetzt tun möchte, ist, mich zu bedanken. Zuerst mal bei Nellie, wie ich die Ich-Erzählerin nenne, weil sie all den Mist, in den ich sie geschickt habe, mit viel trockenem Humor hingenommen hat, ohne groß zu jammern. Ich finde, das ist eine großartige Leistung und ich bewundere dich. Dür die Art, wie du alles so locker nimmst, für deinen Bruder, dafür, dass du einen - aus meiner Sicht – so süßen Typen abbekommen hast. Ich beneide dich regelrecht dafür, dass du mir so ähnlich und doch so viel cooler bist. Und ich bemitleide dich für deine Mutter. Meine kann auch nicht so gut kochen, aber sie kocht besser als deine und lässt trotzdem bei sehr vielen Dingen die Finger davon. Chris, bei dir möchte ich mich dafür bedanken, dass du Nellie so lieb umpflegst und dass du in meiner Geschichte mitspielst. Ich finde, du bist einfach nur süß und ich kenne nur einen oder zwei Typen, die sich mit dir messen können. Jo! So ist es! Danke, dass du auf meinen Wink hin so oft rot geworden bist, für jede liebe Bemerkung, für jede Berührung, für jeden Kuss, den du Nellie gegeben hast. Dank dir rätseln, glaube ich, einige, wer das sein könnte, der hinter dir steckt. Aber so schnell bekommt das, glaube ich, keiner raus. Dann will ich mich bei denen bedanken, die mir seit langer Zeit helfen, mich ermuntern, Ratschläge geben, trösten, wenn es nicht klappt, loben, wenn etwas funktioniert, mich mit ehrlicher Kritik glücklich machen (egal ob positiv oder negativ) und mich voll unterstützen: meiner Mutter, die für mich so oft den Computer (mehr oder weniger) freiwillig geräumt hat; meinem Bruder, der alle meine Launen und "noch fünf Minuten" ertragen hat; meinem Vater, der der beste Dad im ganzen Universum sein muss und den ich um seine Geduld mit mir und meinen Arbeitsgewohnheiten beneide; meiner Oma, die als sie hörte, dass ich auf Mexx Geschichten on habe, sie sofort lesen wollte (obwohl sie mit Internet nichts am Hut hat); Irene, die mich immer auf neue Ideen bringt (im Positiven und im Negativen) und ohne die diese Geschi wohl nicht halb so schnell fertig geworden wäre; Nasti, deren Kommis immer am meisten anspornen und mich bei egal wie schlechter Laune immer zum Lachen bringen; und, last but not least, Mara. Du bist ein toller Mensch und ich bin froh, dich zur Freundin zu haben. Ohne dich wäre ich Juliafutter (danke auch an die und Kim, so mal by the way; ein Wunder, dass ihr mich noch nicht bei einem Nervenzusammenbruch unangespitzt in den Boden gestampft habt!); an Herr Thomann, ganz nebenbei, geht auch ein herzliches Dankeschön, für den Sarkasmus und die Geduld mit meinen Ergüssen (ich meine die lyrischen, nur falls jemand auf dumme Gedanken kommt). Ansonsten danke ich allen, die sich angesprochen fühlen, die ich aber vergessen habe und all denen, die diese Geschichte gelesen haben – ich hoffe, sie hat euch wenigstens etwas gefallen. Das nächste Mal seid ihr auch dabei. Arrividerci, southern_wind PS: Danke für eure Geduld mit diesem ellenlangen Nachwort – ich sollte mir abgewöhnen, so viel rumzuschwallen! ^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)