Ekelpack von winterspross (Shortstories) ================================================================================ Kapitel 1: 1: Werk ------------------ Hallo~ Hier ist also mein erster Text. Das Thema war, dass es irgendwo auf der Welt einen Menschen gibt, der im gleichen Rhythmus lebt. Wir hätten eine Erzählung zu diesem thema verfassen sollen. Hier mein Ergebnis. Ach ja, der Text spielt in Graz, der Landeshauptstadt der Steiermark. Nicht, dass sich hier noch jemand über die lustigen Straßennamen wundert. ~~ Werk O|pus, das; -, Opera ([musikal.]) Werk (Duden) ~~ Endlich ist es vollbracht. Ich habe mein Werk, wie es meinem Wesen entspricht, minutiös geplant und ausgearbeitet. Es kann nichts schief gehen. Langsam erhebe ich mich aus dem Ohrensessel, schlüpfe in die kuscheligen Hausschuhe, die mir meine Freundin zum Geburtstag geschenkt hat und schlurfe ins Badezimmer. Alles liegt bereit, die verwaschene Jeans, das unauffällige schwarze Hemd, die braune Umhängetasche, in der sich die neueste Ausgabe des Dudens und Spraydosen befinden. Gestern habe ich alles vorbereitet, um ja nichts zu vergessen. Ich muss mich nur noch anziehen, alles einpacken, was ich brauche und dann kann es losgehen. "Gehst du schon, Günther?", murmelt Sophie hinter mir und drückt sich an mich. Ihr zartes Parfüm hüllt mich ein. Ich lehne mich zurück. "Ja, ich muss. Heute ist eine Vorlesung, die ich auf keinen Fall verpassen darf." "Schade", stellt sie fest und lässt mich los. Ich drehe mich um und lächle sie an. Was für ein Glück ich doch habe, mit ihr zusammen zu sein. Was für ein Glück ich doch habe, dass sie mich versteht. "Ich komme bald wieder", verabschiede ich mich und küsse sie kurz zum Abschied. Nein, heute gehe ich nicht auf die Uni. Heute habe ich etwas viel Besseres vor. Ich werde endlich das umsetzen, was ich schon seit Jahren geplant habe. Es ist etwas Großartiges, etwas Wunderbares und vielleicht auch etwas Verrücktes. Aber eines ist sicher, ich werde damit in die Geschichte dieser kleinen Stadt eingehen. Man wird in Schulbüchern von mir lesen. Hermann Nitsch und Otto Mühl werden sich vor mir verneigen. Ich muss grinsen. Fast höre ich Sophie "Jetzt komm wieder auf den Teppich, Günther!" murmeln. Und sie hätte ja Recht. Ich versinke gerade in einem einzigartigen Tagtraum. Aber was soll ich denn tun? Der Tag, auf den ich so lange gewartet habe, ist endlich da. Und er wird wunderbar werden, dessen bin ich mir sicher. Ich schlendere vom Jakominiplatz aus die Herrengasse entlang. Sogar an einem gewöhnlichen Dienstagvormittag ist hier etwas los. Leute, schwer mit Einkäufen beladen, kommen mir entgegen. Ich hoffe inbrünstig, dass ich hier niemanden treffe, der mich kennt. Ich würde definitiv in Erklärungsnot geraten, warum ich hier unterwegs bin und nicht in meiner wichtigen Vorlesung sitze. Gott sei Dank entdeckt mich niemand. Ich kann ungestört den Weg vom Hauptplatz in die Sporgasse und Richtung Stadtpark einschlagen. Hier werde ich es vollbringen und in die Riege der Aktionskünstler aufgenommen werden. Wie lange ich das Ganze schon geplant habe? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich schon immer von Wörtern und Wörterbüchern fasziniert war. Und jetzt will ich diese Faszination mit meinen Mitmenschen teilen, ich bin mutig genug und wage es. Meine Mutter war, kurze Zeit, nachdem ich sprechen gelernt hatte, am Rande des Wahnsinns, weil ich Dinge wissen wollte, die ihr nicht ganz koscher vorkamen. "Gibt es ein Synonym für dieses Wort und für das vielleicht auch?", fragte ich sie und wartete auf eine Antwort. Doch die kam nicht. Sie war entsetzt darüber, dass ich schon so jung das Wort ,Synonym' kannte. Anstatt sich darüber zu freuen, ging sie mit mir zum Arzt, der bei mir eine leichte Form von Autismus diagnostizierte. "Inselbegabung", nannte er meine Liebe zu Wörtern, eine Begabung, die nur einen kleinen Teilbereich umfasst. Es gibt Menschen, die unvorstellbar hohe Zahlen im Kopf multiplizieren können. Manche malen ein Bild nach einmaliger Betrachtung detailgetreu nach. Sie alle haben Inselbegabungen. Meine Begabung ist, dass ich mir sämtliche Wörter, seien es nun deutsche oder anderssprachige, durch einmaliges Lesen einpräge, lerne und versuche, Synonyme für sie zu finden. Weiters liebe ich Sprichwörter und Redewendungen. Mein Lieblingsbuchstabe ist das ,S'. Die weiblichen Rundungen machen es unbeschreiblich schön... Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum ich mich in Sophie verliebt habe? Als ich noch jünger war, war ich manchmal so verzweifelt über meine Besessenheit, dass ich nur noch "Gebt mir Wörter" brüllen konnte und darauf wartete, dass mir irgend jemand ein neues Wörterbuch in die Hand drückte. Durch hartes Training lernte ich, mit meiner Begabung umzugehen. Heute spreche ich sieben Sprachen und studiere Russisch, die achte. Dass ich ob meines Wissens noch nicht ,vollkommen durchgeknallt' bin, wie es der Psychologe ausdrücken würde, bei dem ich jede Woche einen fixen Termin habe, liegt wahrscheinlich an meiner wunderbaren Freundin Sophie, die mich schon seit mehreren Jahren erträgt und versteht, dass ich mir als psychisch labiler Mensch schwer tue, ihr zu zeigen, dass ich sie wirklich über alles liebe. Das Grün der Blätter fasziniert mich. Ich mag es, wenn alles ruhig und friedlich ist. Der Stadtpark ist für mich ein Ort der absoluten Entspannung. Ich steuere einen Platz an, der normalerweise von Punks und Tauben bevölkert ist. Auch ein paar schaulustige Touristen haben sich sicher dorthin verirrt, schließlich ist es Frühsommer und sehr warm. Wo könnte man sich besser ausruhen als im Schatten der uralten Bäume? Und wo könnte man mir besser zusehen, wie ich mein Werk vollende? Es ist fast zwölf Uhr. Ich muss beginnen, wenn ich meinen persönlichen Zeitplan einhalten will. Doch was ist hier los? Die Hölle, das muss es sein. Der Platz mit dem großen Brunnen ist wie leer geräumt, nur in einer Ecke drängt sich eine große Menschenmenge zusammen. Neugierig komme ich näher, dränge mich durch schwitzende Menschenleiber. Ekelhaft. Am inneren Rand des Kreises angekommen, muss ich erst einmal schlucken. Was soll denn das?! Hier besitzt doch tatsächlich jemand die Frechheit, am Boden zu hocken und mit vollkommener Gelassenheit meine Wörter auf den Boden zu sprühen, genau wie ich es geplant hatte! Entsetzt mustere ich den Kerl. Er trägt verwaschene Jeans, ein unauffälliges schwarzes Hemd. Irgendwie bin ich mir sicher, dass sich in der braunen Umhängetasche, die neben ihm auf der Erde steht, ein Duden und noch ein paar Spraydosen befinden. Wie kann er es wagen, meinen grenzgenialen Plan zu durchkreuzen? Oder hatte er den gleichen etwa ebenso wie ich schon seit seiner Kindheit? Er sieht mich an. Das Einzige, an das ich in diesem Moment denken kann, ist, dass er wenigstens nicht gleich aussieht wie ich. Irgendwo her kenne ich den Typen. Vielleicht ist er Student, genau wie ich. Aber er studiert sicher nicht Russisch, das kann er wahrscheinlich schon. Andererseits, hat er nicht fast den identischen Haarschnitt? "Günther, du leidest unter Verfolgungswahn...", murmle ich seltsam ruhig, drehe mich um und dränge mich wieder durch den Mob hindurch. Niemand beachtet mich. Dabei hätte das doch mein großer Tag werden sollen, der Tag, an dem ich meine Schüchternheit überwinde und allen Leuten zeige, was mich fasziniert. Dieser... Arsch ist mir zuvorgekommen. Als mir endlich bewusst wird, was geschehen ist, will ich nur noch nach Hause. Die Straßenbahn kommt und ich steige ein. Es ist stickig und heiß, kein Sitzplatz ist frei, also muss ich stehen. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre alt und grau, dann würden die Kinder für mich aufstehen. Mir ist schlecht, die ganze Geschichte hat mich ziemlich mitgenommen. Irgendwie fühle ich mich so schrecklich leer, ganz so, als wäre ich wirklich schon alt und hätte mein Leben bereits gelebt. Als ich aus dem Fenster sehe, bleibt mir fast das Herz stehen. Draußen wartet der andere ebenfalls auf die Straßenbahn, Er will aber anscheinend in die andere Richtung fahren. Seltsamerweise lehnt er in der exakt gleichen Haltung an einer Säule, wie ich es zu tun pflege, wenn ich auf etwas warte. Als er mich entdeckt, zuckt er zusammen. Anscheinend schockt ihn die ganze Sache genauso wie mich. Himmel. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. In Graz läuft jemand herum, der wie ich ist, und ich habe das in all den Jahren nicht bemerkt? "Du musst dringend zu Paulitsch", murmelt Sophie und streichelt mir durchs Haar. In ihren Schoß gekuschelt, kann ich nur leise lachen. Wie soll mir mein Psychologe helfen? Mir kann man nicht helfen. Uns kann man nicht helfen. "Hey, Günther. Sag doch was!" Was soll ich denn sagen, mein Schatz? Ich ertrage langsam aber sicher deine Nähe nicht mehr. Vielleicht drehe ich ja endgültig durch? Durch Durch Durch... ~~ Seltsamer Vorfall in der Steiermark Gibt es solche Zufälle? In der Landeshauptstadt wurden gestern unabhängig voneinander zwei junge Männer in das Landesnervenkrankenhaus eingeliefert. Beide hatten offensichtlich einen Nervenzusammenbruch erlitten und mussten deshalb eingewiesen werden. "Die beiden waren bei ihrer Ankunft vollkommen gleich gekleidet, von ähnlichen Frauen begleitet und zeigten die gleichen Krankheitssymptome. Wie ist so etwas möglich?" Frau S., Pflegerin in der Sigmund Freud Klinik, kann es nicht verstehen. Als sich die beiden Patienten gesehen haben, mussten sie von Pflegern ruhig gestellt werden, da sie aufeinander losgehen wollten. Günther M. und Mario T. beteuern zwar, sich nicht zu kennen, verhalten sich aber wie Geschwister oder Zwillinge. Sie verlangen beide das gleiche Essen und sprechen von denselben Dingen. Anscheinend haben laut Direktor Dr. Schmidt auch beide Patienten eine autistische Hochbegabung, die sich auf Sprachen bezieht. Die Vornamen ihrer Lebensgefährtinnen beginnen mit einem ,S', einem Buchstaben, der laut den beiden eine besondere Anziehung auf sie hat. Was jedoch der gemeinsame Ausspruch "Gebt mir Wörter!" bedeuten mag, ist bis jetzt noch unklar. "Wir werden der Sache auf den Grund gehen", versprach uns Doktor Schmidt. Wir warten gespannt. Kapitel 2: 2: Die Rote Stadt ---------------------------- Grüß Gott, willkommen zu Teil Zwei. Diesmal war das Thema der Satz 'Wissen Sie nicht, wer ich bin?', das Thema des Nichterkennens oder Verkennens. Den Namen Glaurung habe ich aus Herr der Ringe, Kirsche und das Setting London stammt aus dem Buch 'Schlachten' von Melvin Burgess. (Ein Buch, das wirklich lesenswert ist, ganz nebenbei... *_*) Loki ist ein germanischer Gott. Wer mehr über diesen faszinierenden Gesellen wissen will, sollte sich mal das zu Gemüte führen: http://de.wikipedia.org/wiki/Loki Viel Spaß beim Lesen. ~~ Die Rote Stadt Jeder von uns aufgeklärten Londoner Jugendlichen wusste, dass der so genannte Drache nichts anderes war als eine geschickte technische Illusion der Mächtigen, um uns Normalsterbliche zu beeindrucken und unter Kontrolle zu halten. "Doch ich bin mir sicher, dass es niemand schafft, sich seinem subtilen Zauber zu entziehen, auch du nicht", pflegte meine Mutter oft zu sagen, wenn ich sie nach dem Drachen fragte. Jedes Jahr am fünften November, dem Tag der letzten Schlacht zwischen den zwei Städten, tauchte der ,Rote Drache' Glaurung, das Symbol von London, der Stadt, in der ich lebte, aus seiner Höhle in den alten U-Bahnschächten auf und sprach zu uns. Er erzählte vom Glück, dass wir alle hatten, hier in London, der Roten Stadt, leben zu dürfen. Dann spie er Feuer, ein beeindruckendes Schauspiel... Gut, ich musste es zugeben, ich hatte es noch nie sehen dürfen, aber schon viel davon gehört, erzählt bekommen und gelesen. Ich wusste, dass der Drache fast zwanzig Meter lang war und gewaltige lederne Schwingen besaß. Bilder hatte ich gesehen, auf denen er klein, aber dennoch mächtig wirkte. Ich hatte auch gehört, dass er mehrere hundert Jahre alt war und gegen einen ebenso alten ,Blauen Drachen' gekämpft und gesiegt hatte. Wer dachte sich nur solche Märchen aus? Erst vor einigen Wochen war ich sechzehn, also volljährig geworden und somit auch berechtigt, an den Feierlichkeiten teilzunehmen und in die Riege der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Mutter war schon den ganzen Morgen damit beschäftigt, mich einzufangen, um mir für die morgige Volljährigkeitszeremonie die Haare zu waschen und zu schneiden, doch ich hielt im Allgemeinen nicht viel von Körperhygiene. Also hatte ich meine festen Stiefel angezogen und rannte durch die mit Scherben und Schutt bedeckten Straßen von London, immer weiter auf die Stadtmauer zu. Ihr Geschrei konnte mich nicht aufhalten. Sie war schon alt, heute würde sie mich nicht erwischen und mich zu meiner Schande vor all meinen Freunden an den Ohren zum Waschtrog schleifen, heute nicht! Was ich hier in den Vororten wollte? Das wusste ich nicht. Eigentlich hätte es genügt, wenn ich mich bei Clara, dem Nachbarsmädchen versteckt hätte, denn dort suchte Mutter aus irgendeinem Grund nie nach mir. Trotzdem kam ich in letzter Zeit immer öfter hierher. Die zehn Meter hohen Mauern waren ein unüberwindlicher Wall. Niemand, der nicht offiziell vom König für volljährig erklärt worden war, durfte aus der Stadt hinaus, draußen sei alles vom Krieg verwüstet und entsetzlich gefährlich. Banden trieben hier ihr Unwesen; Untiere, schrecklicher als alles, von dem mir jemals erzählt worden war, würden mich zerfleischen, sobald ich nur einen Fuß vor das Stadttor setzte. Und doch, da kamen jeden Tag Händler mit Lastwägen voll Essen in die Rote Stadt. Auch der König verließ ab und zu die schützenden Mauern, um draußen auf die Jagd zu gehen. Warum passierte diesen Menschen nichts? Schützte sie die kleine Tätowierung unter dem rechten Auge, die jeder Volljährige wie eine Trophäe trug, vor dem Angriff des Bösen? Ich konnte es nicht verstehen, wollte nur endlich hinaus und mich selbst überzeugen, wie es draußen aussah. Das Gefühl eingesperrt zu sein, machte mich regelrecht rasend. Manchmal saß ich hier auf den Zinnen der Mauer und starrte auf das ,Öde Land', das ich draußen erblicken konnte. Wer auch immer ihm diesen Namen gegeben hatte, der hatte gewusst, was er tat. Die einzige Auflockerung der Leere war ein Wald in der Ferne. Auch heute kletterte ich wieder auf die Mauer, schlich mich an einem Soldaten vorbei, der seine Arbeit, Jugendliche abzuwimmeln, besonders genau nahm und ließ mich an einer geschützten Stelle nieder. "Träumst du schon wieder, Loki?" Ich hasste diesen Spitznamen, den ich wegen meines roten Haares bekommen hatte. Meine Mutter hatte mich so genannt, als ich noch klein gewesen war, doch jetzt wurde ich ihn nicht mehr los. Ganz London, so schien es, nannte mich so, kaum jemand kannte meinen richtigen Namen, der Titus lautete. Böse lächelnd drehte ich mich zu Kirsche um. Sie grinste zurück. Natürlich wusste sie sofort, dass ich mich insgeheim freute, sie zu sehen Vorsichtig setzte sie sich neben mich, um keinen der alten Steine aus der Mauer zu lösen und zog die langen, schlanken Beine unter ihren Körper. "Sei nicht zornig, du weißt, ich finde den Namen süß", sagte sie. Grüne Augen blitzten belustigt, als ich mich schnaubend von ihr abwendete. Für einen kurzen Augenblick saßen wir in Stille nebeneinander, ich, der Halbstarke, und sie, die junge Frau mit der Tätowierung unter dem rechten Auge. Warum sie sich mich als Vertrauten und Freund gewählt hatte, wusste ich nicht. Sie hätte sich mit jedem abgeben können. "Heute wirst du volljährig", stellte Kirsche fest. Ich nickte. "Und, freust du dich, den Drachen zu sehen?" "Ich weiß nicht... Ja, schon", murmelte ich und starrte in die Ferne. "Eigentlich will ich das nur hinter mich bringen, um endlich aus London hinauszukommen." Wieder wurde es still zwischen uns. Das war etwas, was ich an Kirsche schätzte, sie war wunderbar ruhig und quasselte nicht pausenlos vor sich hin, wie es andere Mädchen gerne in meiner Gegenwart taten. Zart lehnte sie sich an mich. "Du musst aber nicht warten, bis du volljährig bist. Du kannst doch jetzt schon gehen." Erstaunt starrte ich sie an. Was hatte sie da eben gesagt? "Ich muss nicht bleiben?", flüsterte ich verwirrt. "Nein", lächelte sie mich an. Für eine kurze Zeit hatte ich das Gefühl, nicht einer jungen Frau gegenüberzusitzen, sondern einer alten Seherin. Weise Frauen gab es jedoch seit Jahrhunderten keine mehr. "Komm mit." Mit diesen Worten nahm sie meine Hand und führte mich weg vom Aussichtsplatz hinunter auf die verbrannte Erde der Stadt. ~~ Nachdem mir Kirsche eingeschärft hatte, ja noch vor dem nächsten Tag wieder vor der Stadtmauer auf sie zu warten, hatte sie eine kleine Tür für mich geöffnet, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Vielleicht war sie, bevor ich mit Kirsche hierher gekommen war, auch gar nicht da gewesen, wer wusste das schon so genau. "Pass auf dich auf, Loki", hauchte meine Freundin mir zu und schloss die Tür. Nun war ich ganz allein. Im Inneren der Stadt war es immer laut und stickig, hier draußen jedoch wehte ein frischer Wind. Außer dem penetranten Zirpen von Zikaden war kein Laut zu hören. Vorsichtig und langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich erwartete jeden Moment, von einem Pfeil der Mauerwächter oder einer Diebesbande getroffen zu werden, bald legte sich dieses Gefühl aber, denn weit und breit sah ich nichts, was mir hätte gefährlich werden können. Auch die Wächter über mir schienen mit einer seltsamen Blindheit geschlagen zu sein, denn niemand entdeckte mich. Endlich konnte ich meinen Ausflug genießen. Von oben sah das Land öd und leer aus, doch wenn man es genauer betrachtete, sah man, dass es lebte. Überall krabbelte und kroch es. Begeistert von dieser Entdeckung stromerte ich immer weiter von der Stadtmauer weg. Ich wollte zu dem Wald, in den ich mich von meinem Aussichtsplatz oben auf der Mauer schon so oft hineingeträumt hatte. Der Weg dorthin war lang und heiß. Mittlerweile war es Mittag, die Sonne brannte auf meinen Nacken und ich spürte, dass ich langsam aber sicher einen Sonnenbrand bekam. Aber das war es wert. Ich war frei. Ich durfte gehen, wohin ich wollte, niemand konnte mich aufhalten. Endlich in dem Wald angelangt, musste ich mich erst einmal hinsetzen. Die Luft erschien mir dünner als in der Stadt, und der frische Wind, den ich vorhin noch genossen hatte, ließ mich nun frösteln. Zitternd zog ich den Parka, den ich trug, dichter an meinen Körper und versuchte mich zu entspannen. Erst jetzt wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich war von zu Hause weggelaufen, hatte die Stadt verlassen, obwohl das strengstens verboten war. Was passierte wohl, wenn ich später zurückkehrte und Kirsche war nicht da, um auf mich zu warten? Nicht auszudenken, was für Probleme ich bekommen würde. Ein gequältes Seufzen entkam mir. So ein Mist. Und so jemand wie ich sollte morgen volljährig werden? Ich war ja nicht einmal zurechnungsfähig. Wer war Kirsche überhaupt? Eines Tages war sie aufgetaucht, hatte sich neben mich gesetzt. Immer, wenn ich zur Mauer kam, war sie da. Wo sie lebte, hatte sie mir nie gesagt, es hatte mich aber auch nicht interessiert. Eigentlich war das ziemlich dumm von mir gewesen. Na ja, jetzt war es auch egal. Ich konnte an der gegenwärtigen Situation ohnehin nichts mehr ändern. Wieder stand ich auf und ging ein paar Runden in dem Wald, der sich bei näherem Hinsehen als Wäldchen von ein paar Bäumen entpuppt hatte und nicht sonderlich spektakulär war. Trotzdem, es war ein richtiger Wald, keine Ansammlung von künstlichen Bäumen wie im Hydepark. Tiere schien es hier keine zu geben. Warum nur? Fast war ich enttäuscht, dass ich bis jetzt noch kein Monster und keine Diebesbande gesehen hatte. Plötzlich zuckte ich zusammen. Im Gebüsch raschelte es leise. Ganz vorsichtig drehte ich mich um und stieß einen kleinen Schrei aus: Hinter mir stand ein junger Mann. Er hatte rötliches Haar, genau wie ich und besaß genau wie ich keine Tätowierung, er wirkte jedoch auf mich wie ein richtiger Erwachsener. Es lag nicht an seinem Äußeren, nein, aber auf irgendeine seltsame Weise wusste ich einfach, dass er älter, viel älter war. "Guten Tag", begrüßte er mich freundlich, doch der unpassende Klang seiner Stimme und die seltsame Betonung der beiden Wörter beunruhigten mich. Als er auf mich zukam, hatte ich das Gefühl, einem riesengroßen Kind gegenüberzustehen. Er benutzte seine Füße wie Fremdkörper, auf denen er nur zufällig stand, mit denen er aber nicht wirklich umgehen konnte. Bevor er stolperte, fing ich ihn auf. Ob seines Gewichts ging ich in die Knie, er sah leichter aus, als er war. Ich ließ mich auf den weichen moosigen Boden gleiten und zog ihn zu mir herunter. Stehen zu bleiben erschien mir zu gefährlich, sicher würde dieser seltsame Typ früher oder später einfach umkippen. "Vielen Dank", lächelte er mich an. Jetzt erst bemerkte ich die ungewöhnliche Farbe seiner Augen. Sie waren goldgelb und seltsam geschlitzt, wirkten fast wie die Augen von einem Reptil. Er blinzelte schnell und wandte sich ab. "Wer bist du?", fragte ich ihn, versuchte die geschlitzten Augen zu verdrängen. "Wie bist du aus der Stadt herausgekommen?" Ich wusste, dass er lächelte. Er schien ohnehin dauernd zu lächeln, fast so, als sei das der einzige Gesichtsausdruck, zu dem er fähig war. "Ich gehe hin, wo ich will. In London ist es doch langweilig, findest du nicht auch?", fragte er mich. Etwas beunruhigte mich an dem Typen. Er kam mir bekannt vor, und doch war ich mir sicher, ihn nie zuvor gesehen zu haben. Wer war er? Und wie zum Teufel hatte er es geschafft, aus der Stadt zu fliehen? Kannte er Kirsche etwa auch? "Ich bin Glaurung", stellte er sich vor und streckte mir seine Hand entgegen, was mir so lächerlich vorkam, dass ich kurz auflachte. Schließlich saßen wir hier beide auf dem Boden und ich spürte, dass das mit Wasser voll gesogene Moos mir langsam aber sicher die Hose durchnässte. Er sah mich erwartungsvoll an, also schüttelte ich ihm scherzhaft die schlanke Hand und stellte mich ebenfalls vor. "Ich bin Titus, aber du kannst mich gerne Loki nennen, das tun in London nämlich alle." "Loki, was für ein schöner Name. Er passt zu dir... Schließlich bist du wie Loki trickreich aus einem Gefängnis entkommen." Ich hatte die Geschichten über meinen Spitznamen und den germanischen Gott der List und Verwandlung, der ihn mir geliehen hatte, schon so oft gehört, dass ich meine neue Bekanntschaft gleich einmal unterbrach. "Und du? Du heißt Glaurung. Ist das ein Spitzname, oder bist du auch so stark und mächtig wie der Rote Drache? Kannst du vielleicht sogar Feuer spucken?", scherzte ich. "Wer weiß? Vielleicht bin ich es wirklich? Vielleicht hatte ich einfach wie du keine Lust mehr, das ganze Jahr eingesperrt zu sein", scherzte er; doch sein Gesicht blieb traurig. "Weißt du nicht, wer ich bin?", schienen die goldenen Augen zu sagen, aber ich konnte mich anstrengen, soviel ich wollte, mir fiel einfach nicht ein, woher ich ihn kannte. Es war schon spät geworden, die Sonne ging gerade über dem Öden Land unter. Glaurung und ich hatten den ganzen Tag geredet. Ich hatte trotz allem kaum etwas über ihn erfahren, obwohl er jetzt meine gesamte Lebensgeschichte wusste. Wie schon oft verfluchte ich mein Mundwerk. Das Einzige, was er mir mit glänzenden Augen erzählt hatte, war, dass es sein sehnlichster Wunsch war, einmal aufs Festland zu ziehen. "Dort muss es herrlich sein", hatte er mir vorgeschwärmt. "Ich muss gehen", murmelte ich ihm zu, der erschöpft von einer Anstrengung, von der er mir nichts erzählt hatte, eingeschlafen war. Mittlerweile war es richtig kalt geworden. "Wach auf, ich muss weg", versuchte ich es noch einmal, aber nichts konnte den Menschen wecken, der hier neben mir den Schlaf der Gerechten schlief. Also zog ich meine Jacke aus, deckte ihn damit zu und machte mich schnell auf den Weg nach Hause. Er schien sie ohnehin dringender zu brauchen als ich. ~~ "Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr wieder", zischte Kirsche mir aus der geöffneten Tür entgegen. "Komm schnell!" Als wir gemeinsam Hand in Hand durch die Straßen von London liefen, fühlte ich mich viel freier, als ich es im Öden Land gewesen war. Was sollte ich dort draußen? Dort gab es nichts, was von Interesse war. Das Leben spielte sich hier ab, hinter den Mauern der Roten Stadt. "Du musst dich beeilen, es ist schon spät! Deine Mutter macht sich bestimmt Sorgen", keuchte Kirsche und zerrte mich durch enge Seitengässchen zu unserer Hütte. Sie hatte Recht. Durch die zerschlagenen Fenster konnte ich sie am Tisch sitzen sehen. Ihr ältliches Gesicht wurde vom Schein einer einzelnen Kerze erhellt, in den sie traurig hineinblickte. "Mutter!", rief ich. Kirsche ließ meine Hand los und winkte mir zum Abschied. Einen Augenblick später war sie im Schatten verschwunden. Mutter sah auf. Sofort verschwanden die Sorgenfalten auf ihrer Stirn. Sie stürzte zur Tür heraus und nahm mich in die Arme. "Das darfst du nie wieder machen, Loki. Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht", schniefte sie und als ich in ihr Gesicht blickte, sah ich, dass sie weinte. ~~ Aufgeregt. Das war wohl das einzige Wort, das meine Stimmung beschrieb. Gewaschen, mit geschnittenen Haaren und festlich gekleidet stand ich mit hundert anderen Sechzehnjährigen und Erwachsenen am Crystal Palace Tower und wartete darauf, dass der Drache erschien. Obwohl ich nicht wirklich an ihn glaubte, wollte ich doch sehen, was meine Mutter an der Erscheinung so faszinierte. Meine Tätowierung hatte ich heute morgen bekommen. Nun war ich offiziell erwachsen und durfte hingehen wohin ich wollte. Es fehlte nur noch er. Mutter wurde unruhig. "So lange hat er noch nie auf sich warten lassen", murmelte sie mir zu. Auch die anderen Anwesenden schienen zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Nach mehreren Minuten, während denen das Gemurmel der Anwesenden zu einem lauten, unwilligen Sprechgesang wurde, wurde eine riesige Projektionsfläche auf dem Turm sichtbar. Kurze Zeit später begann das Schauspiel, das diesmal wirklich eines war. Jeder wusste sofort, dass wir eine Aufnahme der letztjährigen Zeremonie zu sehen bekamen. Trotz allem war es gewaltig. Der Rote Drache brach aus der Erde und schüttelte Beton und Staub von seinen gewaltigen Schwingen. Dann stieg er zum Himmel auf. Kurze Zeit war er aus dem Sichtfeld der Aufzeichnungsgeräte verschwunden, doch ein Flammeninferno auf einer zerstörten Fläche Londons zeugte von seiner Rückkehr. Ich war wie verzaubert, als die Kamera dem riesigen Schädel näher kam und ich mit zig anderen in die klugen goldenen Augen der Echse blicken durfte. Den Rest der Zeremonie bekam ich nur noch am Rande mit. Denn plötzlich wusste ich, warum wir den richtigen Glaurung heute nicht am Nachthimmel sehen konnten. Irgendein Gefühl sagte mir, dass gerade in diesem Moment ein junger alter Mann mit rotem Haar auf dem Weg zum Meer war, um eine Überfahrt nach Europa zu machen. Sicher trug er meinen Parka. Kapitel 3: 3: Wie Frösche im Teich ---------------------------------- Das ist meine Matura- bzw. Abiarbeit in Deutsch. Ich habe ein Sehr Gut bekommen. +stolz+ Viel Spaß beim Lesen. ________________________________________________________________________________ Wie Frösche im Teich Die Jungen werfen im Spaß mit Steinen nach Fröschen Die Frösche aber sterben im Ernst. (Erich Fried) Es platschte, als der Stein im Teich versank. Die Frösche verstummten und tauchten unter, nur ein paar trieben noch auf der Wasseroberfläche, reglos und starr, ganz so, als stellten sie sich tot. Nur einer quakte noch. Grillen zirpten. Der nächste Stein verfehlte einen besonders großen, grün gefleckten Frosch nur um wenige Zentimeter. Erschrocken tauchte er unter. Jetzt wurde es auch den anderen zu bunt. Der Teich schien sie regelrecht zu verschlucken, nur noch ein paar kleine Ringe auf der Wasseroberfläche zeugten davon, dass die je dagewesen waren. „Mist“, fluchte ein blonder Junge und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Sein jüngerer Begleiter zupfte am Ärmel seines Hemdes. „Lass und endlich gehen, Karli. Ich will weg, wir müssen doch rechtzeitig dort sein!“ „Du bist so langweilig! Mama wird uns schon nicht ausschimpfen, weil wir ein bisschen zu spät kommen. Außerdem haben wir sicher noch ewig Zeit.“ Plötzlich verstummten die Grillen. Die schlagartige Stille erschreckte die beiden Brüder zutiefst. Hier auf dem Land war es nie so ruhig, außer es passierte in Kürze das Schreckliche, das Unaussprechliche. Und tatsächlich. Vom Dorf her konnte man leise den harmonischen Klang der Kirchenglocken hören. „Lauf!“, schrie Karl und packte seinen kleinen Bruder Markus am Arm. Getrieben von der panischen Angst, die Mutter könnte ihm den Hintern versohlen, wenn er zu spät kam, sprang er über duftende Wiesen und kiesbedeckte Straßen Richtung Dorf, Markus hinter sich herzerrend. „Pass doch auf, meine Sonntagskleider werden ganz schmutzig!“, schrie der Kleine, als Karl durch eine große Pfütze laufen wollte, um schneller zur Kirche zu gelangen. In letzter Sekunde wich er der Drecksuppe aus. Was hätte es genützt, rechtzeitig und doch von oben bis unten schmutzig anzukommen? Nichts, nichts und wieder nichts. Die Kirche kam in Sicht. Die beiden Brüder legten einen grandiosen Endspurt hin, da die Mutter schon ziemlich ungeduldig zu warten schien. Richtig böse sah sie jedoch noch nicht aus. „Gut, dass ihr endlich da seid, Buben“, sagte sie knapp und putzte ihrem Jüngeren noch schnell ein bisschen Schmutz von der Jacke. Dann betrat die kleine Familie die Kirche. ~~ Es platschte, als Karl und sein Freund Maximilian in saubere, große Pfützen sprangen. Gerade eben hatte es geregnet und jetzt glänzte die gesamte Umgebung in leuchtenden Farben, fast so, als hätte der Regen alles Schlechte fortgewaschen. „Weißt du“, keuchte Max, denn das Springen strengte ihn an, “ich freue mich schon, wenn wir zum ersten Mal auf ein Lager fahren. Dann kommen wir endlich aus dem Dorf hinaus.“ Karl konnte nur zustimmend nicken. Beide trugen die schlichten, aber schmucken Uniformen der HJ, dieser neuen Organisation, die der Führer für die Jugendlichen geschaffen hatte. Das war eine gute Idee gewesen, wie Karl fand. Endlich wurde etwas getan und nicht nur geredet. Hitler war ein charismaltischer Mann und schaffte es, die Stimmung im Volk so aufzuheizen, dass man sich regelrecht daran wärmen konnte und das gefiel Karl. Max und ihm wurde das Pfützenspringen zu dumm. „Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr“, bemerkte Karl immer noch verstohlen grinsend, weil ihm das Ganze solchen Spaß gemacht hatte. „Genau“, stimmte Max zu, rückte seine Uniform gerade, die ob des Springens verrutscht war und setzte eine erhabene Erwachsenenmiene auf, die aber auf seinem immer noch kindlichen Gesicht etwas lächerlich wirkte. Wie zwei kleine deutsche Soldaten marschierten die beiden die Hauptstraße des Dorfes hinunter und übten den Hitlergruß. In den Fenstern hingen Hakenkreuzfahnen. ~ Der Stein verfehlte den Frosch um einen Meter. Im Lauf der Jahre war das Gewässer kleiner geworden und Pflanzen hatten sich im Uferschlamm angesiedelt. Die Frösche aber waren immer noch da, und immer noch versuchte Karl sie mit Steinen zu treffen. Markus und Max saßen auf einem umgestürzten Baum und lachten ihn aus. „Du schaffst das nie, die Viecher sind viel zu schlau für dich!“ Karl drehte sich nicht einmal um, sondern versuchte es verbissen ein zweites Mal. Die Frösche, die vorhin noch nicht untergetaucht waren, taten das nun; getroffen hatte er nicht. „Hab ich dir dich gesagt“, kicherte Max. „Zum Glück hast du keinen getroffen“, bemerkte Markus. Zornig funkelte Karl seinen kleinen Bruder an. „Wieso? Es sind doch nur Frösche, oder?“ Der Pfiff des Gruppenführers brachte die drei Jungen in die Realität zurück. So schnell es ging, rannten sie zum Treffpunkt, wo schon die anderen auf sie warteten. „Gut, dass ihr endlich da seid. Buben. Wir beginnen jetzt mit der Feldübung.“ Kurze Zeit später lag Karl im Gras, in der Hand hielt er ein ungeladenes Sturmgewehr. Er war zu den ‚Deutschen’ eingeteilt worden und trug eine Hakenkreuzbinde am Oberarm. Seine Kameraden, ebenfalls mit Binden gekennzeichnet, warteten auf den Ansturm der ‚Amis’, der bald erfolgen sollte. Karl zitterte vor Aufregung und umklammerte seine Waffe fester. Ein Blick zu Seite bestätigte ihm, dass es Maximilian genauso ging. Endlich ertönte das erlösende Signal. Erfreut duckte sich Karl tiefer ins Gras, bereit, den Feind, von dem er nicht einmal wusste, von wo er kam, abzuwehren. Doch irgendetwas stimmte nicht. Der Pfiff des Gruppenführers wurde von etwas anderem übertönt. Und tatsächlich, vom Dorf her konnte man den kakophonischen klang der Sirene hören. Fliegeralarm. Als Karl genauer hinhörte, meinte er weit entfernt schon das Summen von Flugzeugmotoren zu vernehmen. „Mist“, fluchte Max und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er sprang auf, warf sein Gewehr fort und rannte davon. Einige andere aus Karls Gruppe wollten es ihm gleichtun, doch der Gruppenführer pfiff sie erbarmungslos zurück. „Wir werden nicht weichen, habt ihr verstanden?“, schrie er, seine Stimme überschlug sich fast. „Wir sind Soldaten des deutschen Volkes!“ Über dem Wald, in dem das Treffen der Ortsgruppe stattfand, zog ein Jagdflieger hinweg. Die Jungen schrien entsetzt auf, als der Gruppenführer vom Feind getroffen niedersank. „Lauft!“, schrie jemand, doch niemand bewegte sich. Alle waren wie gelähmt, starrten den Toten an oder hatten sich noch tiefer in ihre Verstecke gekauert. „Wie Frösche im Teich“, durchzuckte es Karl. „Wir können nicht fliehen, wir sind wie diese verdammten Frösche…“ Er konnte Leute in einer fremden Sprache rufen hören, die von allen Seiten immer näher kamen. „Sie kreisen uns ein“, murmelte er, starr vor Angst. Aus dem Spiel war binnen kürzester Zeit bitterer Ernst geworden… Irgendjemand schnappte sich panisch die geladene Waffe des toten Gruppenfühers, schoss damit wild in der Umgebung herum und wurde selbst getroffen. Wortfetzen der fremden Sptache waberten zu Karl herüber; gleich würde es soweit sein. Die anderen würden sie töten, weil sie die Hakenkreuzbinden trugen. Sie waren für diese Menschen Feinde, sie waren die Frösche; die anderen hatten Waffen, sie effektiver waren als Steine. Er wollte am liebsten abtauchen, so wie es die Amphibien immer getan hatten, doch er wusste, dass das nicht möglich war. Egal, wie gut er getarnt war, irgendwann würden sie ihn entdecken und umbringen. Es war so einfach. Sie mussten nur mehr Geduld haben, als er jemals gehabt hatte. Wimmernd vergrub er den Kopf in den Händen und wartete auf das Ende. Der entsetzte Gesichtsausdruck der Toten ging ihm nicht mehr aus dem Kopf; er wusste, er würde die Bilder nie mehr in seinem Leben loswerden. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Er wagte es kaum, sich umzudrehen. „Hey, Buddy“, lächelte ihm ein Fremder entgegen. Karl schrie auf, der Mann hatte völlig schwarze Haut. Der Soldat musste lächeln, als er sah, wie sehr sich der höchstens sechzehnjährige Junge fürchtete. „Don’t be aufraid“, murmelte er ihm zu und hielt ihm die Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Karl war so überrascht, dass er sie ergriff. ~~ Es platschte, als dicke Regentropfen auf den Regenschirm fielen. Karl ging von der Kirche nach Hause, Markus und dessen vierjähriger Sohn begleiteten ihn. Tobias lief immer einige Meter vor den Brüdern her. Er freute sich über den Regen, der ihm nichts auszumachen schien und sammelte kleine glänzende Kieselsteine auf. Auf dem Weg durch die Gässchen des Dorfes zurück zum Elternhaus kamen Karl, Markus und der Kleine auch am Bach vorbei, der wegen der starken Regenfälle und der Schneeschmelze sehr viel Wasser führte. Frösche tummelten sich in den seichten Stellen des Bächleins, um dort zu laichen. Tobias lachte erfreut und begann mit den gesammelten Steinen nach den Tieren zu werfen, ganz so, wie es Vater und Onkel als Kinder oft gemacht hatten. „Hör auf damit“, presste Karl heraus und lief auf den Jungen zu. „So etwas macht man nicht, hörst du?“ Der Kleine schien nicht zu verstehen. „Du wirfst vielleicht nur zum Spaß mit deinen Steinchen nach den Fröschen, die aber sterben im Ernst. Hast du das verstanden?“ „Ja, Onkel“, murmelte Tobias und ließ die Kieselsteine fallen. Missmutig die Hände zu Fäusten geballt, lief er weiter. „Auch wenn du Fried zitierst, der Junge wird es trotzdem nicht verstehen“, lächelte Markus seinen Bruder an. „Er ist doch noch klein.“ „Er wird es verstehen, so wie ich es verstanden habe“, antwortete Karl grimmig und schloss für einen Moment die Augen, um die düsteren Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Kapitel 4: 4: Hagens Geschichte ------------------------------- Guten Tag. Diese Geschichte beschreibt das Leben meines Dungeons&Dragons-Charakters Hagen. Ich habe sie für meinen Spielleiter geschrieben, damit er sich den guten Hagen ein bisschen besser vorstellen kann. _______ „Herr Hagen!“ Der Barde schreckte aus seinen Träumen hoch, als die kleine Fürstentochter an seinem Hemd zupfte. „Der Herr Vater ist gemein zu mir.“ Sie streckte die Arme aus und Hagen hob sie hoch. Vorsichtig setzte er sie auf seinen Schoß. Sofort kuschelte sich die Kleine an ihn und seufzte zufrieden. „Was hat er denn gemacht, der Herr Vater? Was hat er Euch angetan?“, fragte der Alte neckend. Sie schlug die Augen nieder. „Ach, er hat gesagt, ich soll nicht so viel mit den Bauernkindern spielen und mich mehr aufs Lernen konzentrieren, damit ich später einmal ein guter Herrscher sein kann.“ Wütend plusterte sie die Bäckchen auf. „Ist das nicht gemein?“ Er nickte zustimmend. „Da habt Ihr aber Recht. Ihr seid doch noch jung. Wenn man erst einmal so alt ist wie ich, dann interessieren einen Spiele ja gar nicht mehr.“ „Hast du denn früher viel gespielt, Herr Hagen? Erzählst du mir davon?“ Der Kummer des Mädchens war wie weggeblasen. Neugierig sah es in Hagens vom Alter schon etwas getrübte grüne Augen und stupste ihn in die Rippen. „Erzähl.“ Der alte Barde legte den Kopf schief und streichelte dem kleinen Mädchen leicht über den Rücken. „Hm… Wo fange ich da nur an? Ich erzähle dir von meiner Kindheit und von meinem Vater, wenn Ihr wollt. Und von dem Tag, an dem ich von zu Hause fort ging.“ „Mein Vater und ich hatten ein schwieriges Verhältnis. Er wollte nie Kinder haben und doch musste er sich um mich kümmern, ein Balg, das aus einer einmaligen Liaison mit einer elfischen Magierin stammte. Sie hatte mich, nachdem sie mich geboren hatte, Vater einfach vor die Türe gelegt und meinem Schicksal überlassen. Er sorgte für mich, so gut es ihm trotz seiner Gefühlskälte möglich war, brachte mir alle Sprachen bei, die er beherrschte, erzählte mir Geschichten und Legenden, die ich aufsaugte wie ein Schwamm und brachte mir bei, wie man mit Waffen umgeht. Doch die Magie, die er beherrschte, wollte er mich nicht lehren, da er erkannte, dass mir der nötige Fleiß zum Studieren von Zaubern fehlte. Er war Alchemist, ein mächtiger Mann in der kleinen Stadt, in der wir lebten. als ich größer wurde, zog er jedoch aufs Land, einerseits, weil ihm das Stadtleben zu hektisch geworden war, andererseits meinetwegen, der ihm seit jeher nichts als Ärger bereitet hatte. Ich war doch noch so jung und neugierig. Alles wollte ich wissen und lernen. So brachte mich immer wieder in Schwierigkeiten. Ich erinnere mich dunkel an einen besonderen Vorfall. Damals spielte ich ganz allein auf der Straße, als ein bunter Pferdewagen mit gnomischen Spaßmachern vorbeifuhr. Ich war so begeistert von den lustigen Gesellen, dass ich meine Spielsachen liegen ließ und ihnen nachlief. Sie unterhielten mich mit allerlei Tricks und Gauklereien, bis sie mir schließlich sagten, sie würden jetzt die Stadt verlassen und ich müsste zurück zu meinen Eltern. Doch ich war so weit von zu Hause weggelaufen, dass ich den Weg zurück nicht mehr fand. Als mein Vater mich, der ich endlich weinend und schmutzig in der Gosse saß, fand, gab er mir eine Ohrfeige und am nächsten Tag begannen wir für unseren Umzug zu packen. Wir zogen in ein kleines Dorf, das nahe bei einem großen Wald lag. Ich fühlte mich hier auf Anhieb wohl, obwohl ich fühlte, dass die Bauernkinder, mit denen ich anfangs spielte, aus irgendeinem Grund auf mich herabsahen. Also verbrachte ich meine Tage alleine und streifte im Walde umher. Wahrscheinlich wäre ich ein Waldläufer geworden, wenn nicht eines schönen Frühlingstages kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag ein Barde in unser Dorf gekommen wäre. Er stand auf dem Marktplatz und spielte so schön auf seiner Harfe, dass die Leute, die ihm zuhörten, starr stehen blieben, Einigen stiegen sogar Tränen in die Augen. Ich hörte aufmerksam zu und stellte nach kurzer Zeit fest, dass ich die Musik zwar ebenfalls sehr schön und melodisch fand und von ihr begeistert war, doch nicht von ihr betört wurde wie die übrigen Dorfbewohner. Verwundert ließ ich meinen Blick über die weggetretene Menge schweifen und entdeckte bald eine dunkel gekleidete Halblingsfrau, die den Menschen flink die Taschen leerte. Als sie ihre ‚Arbeit’ vollendet hatte, hörte der hübsche Barde auf zu spielen, verbeugte sich und schritt, ohne Lohn erhalten zu haben, von dannen. Wie ein Schatten folgte ihm der Halbling, schwer keuchend unter der großen Last der gestohlenen Geldbeutel. Ich musste innerlich grinsen, hatte ich doch als Einziger bemerkt, was da vor sich gegangen war. Natürlich wollte ich diese außergewöhnlichen Gesellen kennen lernen. Ich entdeckte den Barden und seine Begleiterin etwas außerhalb des Dorfes. Die beiden saßen am Straßenrand unter einer großen Eiche und nahmen eine einfache Mahlzeit ein. Neugierig beobachtete ich sie und lauschte angestrengt. „Aber wieso können wir uns nicht in einem Gasthaus einquartieren?“, jammerte die Kleine und biss wütend in ihren Apfel. „Trillian, hör auf zu jammern. Bald kannst du dir einen eigenen Palast leisten. Also verschwende unser Gold nicht, hast du gehört?“ Selbst wenn der Barde sprach, hörte es sich an, als würde er Harfe spielen. Seine Stimme war ungewöhnlich sanft und klar für einen Menschen und kroch mir ins Ohr wie eine Schnecke. Unwillig schloss ich die Augen und schüttelte den Kopf, um sie aus meinen Gehirnwindungen zu vertreiben. Als ich wieder aufblickte, erschrak ich fast zu Tode. Einige Handbreit vor meiner Nasenspitze befand sich eine Armbrust mit einem gefährlich aussehenden Bolzen. „Was willst du hier?“, knurrte der Barde nun gar nicht mehr sanft und freundlich. „Wie lange belauscht du uns schon, Balg?“ Ich stieß ein nervöses Wimmern aus. Zwar war ich schon immer ein sehr neugieriges Wesen, doch in solchen Situationen habe ich meine fünf Sinne oft schnell nicht mehr beisammen. Erst die Stimme der Halblingsfrau riss mich aus meiner Starre. „Jetzt lass ihn doch in Ruhe, Nothek. Er ist doch noch ein Kind.“ Ihre braunen Augen glitzerten vergnügt, als ich ihr dankbar zulächelte. Der Mann ließ seine Armbrust sinken. „Na gut, Kleine. Aber das mache ich nur deinetwegen. Anscheinend hast du ja wieder einmal jemanden ins Herz geschlossen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging wortlos zu den am Boden liegenden Speisen zurück und begann weiter zu essen. Trillian lachte leise. „Nimm es nicht persönlich. Wenn man ihn beim Essen stört, ist er unausstehlich, weißt du?“ Sie kicherte und nahm mich an der Hand. Fast musste ich mir ein Lachen verkneifen, als sie mich mit sich zerren wollte. „Jetzt komm schon, ich lade dich zum Essen ein“, keuchte sie. Irgendwann erbarmte ich mich und ließ sie gewähren. Schließlich war sie seit langem die Erste, die freundlich zu mir war. Wahrscheinlich bin ich nur wegen Trillian geblieben. Sie war ein herzensgutes Wesen und erzählte mir von den Abenteuern, die sie gemeinsam mit dem Barden erlebt hatte. Trotzdem konnte sie es nicht lassen, mir einen alten Kupferring zu stehlen, den ich im Wald gefunden hatte. Oder war es doch der Barde, dessen Musik ich einfach nicht vergessen konnte? Die Töne der Harfe hatten sich in meine Gedanken gebrannt und auch heute noch kann ich viele seiner Melodien auswendig. Nothek blieb weiterhin unfreundlich und betrachtete unser Gespräch argwöhnisch. Anscheinend passte es ihm gar nicht, dass ich mich so gut mit seiner Gefährtin verstand. Es wurde schon dunkel, als er aufstand und sich anschickte, seine Schlafdecke zu holen. „Geh nach Hause, Kind“, herrschte er mich an. „Deine Eltern machen sich sicher Sorgen um dich.“ Traurig sah ich zu Boden, als ich plötzlich spürte, dass mich jemand ins Knie zwickte. „Du darfst gerne morgen wiederkommen. Wir bleiben noch ein, zwei Tage hier.“ Mit diesen Worten steckte sie mir einen kleinen Beutel zu. „Und jetzt lauf nach Hause, kleiner Hagen.“ Mein Vater hatte nicht einmal bemerkt, dass ich weggegangen war. Er schlief schnarchend über seinen Zauberbüchern und zuckte nur kurz zusammen, als ich die Tür ins Schloss warf. Aber es war mir egal. Ich war viel zu neugierig darauf, endlich zu erfahren, was sich in dem Beutelchen befand. Beherzt drückte ich seinen bärtigen Kopf zur Seite und setzte mich an den riesigen Tisch, an dem wir aßen, arbeiteten oder, wie im Falle meines Vaters, auch schliefen und schüttete den Inhalt des Säckchens auf die Tischplatte. Ich war überrascht, neben zwei Goldmünzen noch eine beachtliche Anzahl an grünen Glasperlen in den verschiedensten Formen, Größen und Farbtönen zu entdecken. Was sollte ich denn damit anfangen? Trotzdem freute ich mich über das Geschenk. Die zwei Goldmünzen, für mich, der ich nie Gold bekam, ein kleiner Schatz, steckte ich sofort in die Hosentasche. Wer konnte denn so genau wissen, ob mein Vater sie mir nicht weggenommen hätte? Die Glasperlen packte ich wieder in den Beutel. Ich würde Trillian morgen fragen, was es mit ihrem Geschenk auf sich hatte. Am nächsten Morgen war ich schon lange vor meinem Vater auf den Beinen. Als er noch versuchte herauszufinden, was zum Teufel ihn letzte Nacht einschlafen gelassen hatte, lief ich schon voller Ungeduld durch die Straßen des Dorfes. Trillian war schon wach, als ich kam. „Und? Gefällt dir mein Geschenk?“, begrüßte sie mich. Ich nickte eifrig und sah mich vorsichtig nach dem unfreundlichen Barden um. „Nothek hat sich zurückgezogen. Hörst du ihn? Er spielt auf seiner Harfe.“ Ich lauschte angestrengt und tatsächlich, in der Ferne konnte ich leise, schmeichelnde Töne vernehmen. „Er spielt wunderbar“, murmelte ich. „Ich würde das auch gerne können.“ Die Diebin lächelte. „Dann frag ihn doch, ob er es dir beibringt.“ Ich schüttelte nur den Kopf. Sie machte mich nach und schüttelte spöttisch den ihren. Erst jetzt bemerkte ich die roten Glasperlen, die in die schwarzen Haarstränen eingearbeitet waren. „Was heißt hier ‚Nein’? Er mag dich und er weiß, dass du etwas Besonderes bist, Hagen. Er kann es nur nicht so gut zeigen, mürrisch, wie er nun einmal ist.“ „Ja, aber…“ Sie trat mir mit aller Kraft auf den Fuß. Als ich vor Schmerz aufschrie, grinste sie nur. „Weißt du was?“ Sie stahl mir den Perlenbeutel so schnell, dass ich nur noch einen erstickten Laut des Protests von mir geben konnte. „Jetzt machen wir dich erst einmal hübsch und dann gehst du zu ihm und fragst ihn. Da er selbst schön ist, muss auch seine Umgebung schön sein, dann fühlt er sich gleich viel wohler.“ Trillian war nicht nur beim Stehlen sehr geschickt, wie ich feststellen musste. Ihre schlanken Finger eigneten sich auch wunderbar, mein rotblondes Haar durch die winzigen Löcher der Perlen zu ziehen und so wunderschönen, grün schillernden Schmuck zu fabrizieren. Zuerst war ich ja noch skeptisch, doch dann, als sie mir einen Spiegel reichte, in dem ich mich betrachten konnte, war ich begeistert. „Das Grün lässt deine Augen noch mehr strahlen“, stellte Trillian bewundernd fest. „Nothek wird das mögen.“ Den Barden hatte ich schon fast wieder vergessen. Ich warf einen nervösen Blick über die Schulter und konnte ihn auf uns zukommen sehen. Er war so schön, dass ich die Luft anhielt. Verdammt noch eins. Was für seltsame Zauber wirkte der denn? „Jetzt ist der lästige Gnom schon wieder da“, seufzte er theatralisch und ließ sich ins Gras fallen. Trotzdem entging mir der interessierte Seitenblick auf mein Haar nicht und langsam, aber sicher hatte ich den Verdacht, dass das keine gewöhnlichen Perlen waren, die Trillian mir da geschenkt hatte. „Also, was willst du?“ Klang die Stimme nicht schon viel sanfter? „Ich…“, murmelte ich, räusperte mich und ließ so meine Stimme fester werden. „Ich will, dass ihr mich lehrt, so zu singen und ein Instrument zu spielen wie Ihr.“ Ich weiß bis heute nicht, warum ich so plötzlich von dem Gedanken besessen war, das Musizieren zu lernen. Diese Idee war ganz plötzlich da und begeisterte mich jeden Augenblick mehr und mehr. Ich wollte die Leute glücklich machen. Ich wollte meinem Vater beweisen, dass ich auch zu etwas nutze und nicht nur sein lästiges Anhängsel war. Selbst Notheks spöttisches Grinsen konnte mich nicht davon abbringen. „Wir werden nicht für immer hier bleiben, kleiner Mann. Was willst du tun, wenn Trillian und ich weiterziehen?“ Ich zögerte keinen Augenblick. „Ich werde mit Euch gehen.“ Sein schallendes Gelächter lag noch Tage in meinen Ohren. Natürlich nahm er mich nicht mit. Ich war dreizehn Jahre alt, klein gewachsen, und hatte nie viel von der Welt und ihren Gefahren gesehen. Doch er blieb dank Trillians glänzenden Überredungskünsten noch etwas länger und brachte mir bei, wie man einfache Melodien auf der Laute spielt. Anfang Herbst, als die Blätter sich zu färben begannen, zog er mit seiner Gefährtin weiter. Die Diebin versprach mir, dass sie irgendwann, wenn ich älter und stärker geworden war, wieder in mein Dorf kommen würden, um mich zu holen und lieh mir zum Abschied ihre goldene Brosche mit dem Symbol einer mir unbekannten Gottheit. Ich versprach, das Geschenk in Ehren zu halten und bedankte mich höflich. „Na, das hoffe ich doch. Wenn dem Ding etwas passiert, dann bete, dass ich nichts davon erfahre!“, rief sie, zog ihren kleinen Dolch und wedelte damit vor mir herum. „Irgendwann komme ich zurück und dann musst du sie mir zurückgeben, ja?“ Die Brosche habe ich immer noch. Ich habe sie jedoch nie getragen, aus Angst, ich könnte sie verlieren und Trillian würde es erfahren. Also fristet das Schmuckstück sein Dasein in den Tiefen meiner Taschen. Wer weiß, ob die Diebin nicht doch noch eines Tages kommt und sie wiederhaben will. Ich habe lange auf Nothek und Trillian gewartet, doch sie kamen nicht wieder. Mittlerweile war ich zu einem jungen Mann geworden, der die Mädchen mit seiner Musik begeisterte und dadurch die anderen Männer wütend machte. Mein Vater verabscheute mich immer mehr. Ich hatte in seinen Augen in den zwanzig Jahren meines Lebens nichts geleistet, keinen anständigen Beruf außer den des Barden erlernt und machte ihm wie immer nichts als Ärger. Meine Abenteuerlust war grenzenlos geworden. Ich wollte wie die Helden aus den Geschichten meiner Kindheit ausziehen und etwas erleben. Mein Vater hingegen, überaus zufrieden mit seinem ruhigen Leben, wollte nichts davon hören. Ich sollte gefälligst etwas aus meinem Leben und ihm keine Schande machen, Priester werden etwa oder es vielleicht doch noch einmal mit der Magie versuchen. Ich weigerte mich standhaft und lebte weiterhin mein Leben. Irgendwie war ich dann doch zu feige, wirklich fort zu gehen. Also träumte ich mich im Schatten von riesigen Eichen in meine ganz persönliche Traumwelt und ließ die Tage Tage, die Monate Monate und die Jahre Jahre sein. Doch eines Tages geschah etwas, das mir meine Entscheidung, ein Abenteurer zu werden, sehr viel leichter machte. Mein Vater, schon bei meiner Geburt nicht mehr der Jüngste, starb. Doch sein Geist verschwand nicht, nein, er blieb und nistete sich in unserem Haus ein. Es war die Hölle. Er war überall, beobachtete und verfolgte mich, beschuldigte mich bei jeder Gelegenheit, dass ich ihn in Schande gestürzt und in den Tod getrieben hätte und ließ mich nachts nicht schlafen. Also nahm ich meine Sachen, nahm noch die Sense meines Vaters mit, um im Ernstfall eine Waffe zu haben und lud alles auf unseren Esel. Dieses verdammte Tier hätte es fast geschafft, dass ich bleibe. Es hat meinen Vater so sehr geliebt, dass es sich weigerte, auch nur einen Schritt weg von ihm, oder besser gesagt, seinem Geist, zu machen. Dennoch schaffte ich es schließlich, den Esel mitzuzerren und seit diesem Augenblick bin ich ein Abenteurer.“ Hagen schloss müde die Augen. Geschichten zu erzählen fiel ihm von Tag zu Tag schwerer. „Meine Geschichte ist nicht gerade sehr ruhmvoll, nicht wahr?“, lächelte er seine Zuhörerin an. „Ihr hättet Euch sicher mehr gefreut, wenn ich aus anderen, dramatischeren Gründen fort gegangen wäre, oder? Die Kleine grinste frech. „Irgendwie passt sie zu dir.“ Hagen musste lachen. Wie Recht das Mädchen doch wieder hatte… _______ Kommentare, Kritik? Ich nehme alles. Kapitel 5: 5: Baum über Ishington --------------------------------- Klassische Science Fiction. Viel Spaß. :) Baum über Ishington Als das Raumschiff über Ishington seinen Flug verlangsamte, konnten Doktor Casper und seine Assistentin Linda den Baum zum ersten Mal aus der Nähe sehen. „Wahnsinn“, flüsterte die junge Frau und drückte ihre Nase an die Scheibe, um besser sehen zu können. Sie schien beinahe zu vergessen, dass es ihre Hauptaufgabe war, ein Schiff der Aufklärungstruppe Drei zu lenken. Für kurze Zeit trudelte es führungslos durch den grauen Himmel, bis Casper die Kontrolle übernahm. Er lächelte milde und verständnisvoll. Linda hatte Recht, der Baum war gewaltig. Er schien sich kilometerhoch nach oben zu recken, seine Äste reichten über die ganze Stadt. Casper kroch aus dem winzigen Cockpit des Aufklärers und atmete keuchend die dünne Luft Erans ein. Dass zu wenig Sauerstoff in der Atmosphäre vorhanden war, hatte er schon vorher gewusst, aber dass ihm die Mischung aus Stickstoff, Sauerstoff und ungewöhnlich viel Argon so dermaßen zusetzen würde, hatte er nicht gedacht. Automatisch griff er nach der Atemmaske, die von seinem Rucksack baumelte und legte sie an. Als er sich nach Linda umsah, die hinter ihm herlief und neugierig alles beäugte, bemerkte er, dass sie anscheinend keine Probleme zu atmen hatte. Er grinste. Anscheinend machte sich sein Alter jetzt endgültig bemerkbar. Wahrscheinlich sah er mit diesem Ding vor dem Mund auch noch aus wie der letzte Vollidiot. Das ließ seine Chancen bei der jungen Assistentin natürlich drastisch sinken. „Linda?“, rief er nach hinten. Sofort kam die kleine Rothaarige näher und sah ihn erwartungsvoll an. „Ja, Doktor?“ „Setz deine Atemmaske auf. Wir wissen nicht genau, was für Chemikalien oder Keime in der Luft sind, da ist es besser, wir riskieren nichts. Gut?“ „Aye!“, antwortete sie vergnügt und zog ihre Atemmaske zu sich, um sie anzulegen. Casper stellte fast ein bisschen schockiert fest, dass sie auch mit diesem Plastikding vor dem Mund verboten gut aussah. Gut, er hatte gelogen. Es gab weder Keime noch Chemikalien auf Eran, das alles hatte ein früherer Aufklärtrupp feststellen können. Doch dieser war, nachdem er die Daten an das Mutterschiff der ehemaligen Aufklärungstruppe Zwei gesendet hatte, verschwunden. Caspers und Lindas Auftrag war es, herauszufinden, was mit ihm und mit den Bewohnern von Ishington geschehen war. Zwar waren auf ganz Eran ähnliche Bäume aufgetaucht, aber nirgendwo auf dem ganzen Planeten hatte man bis jetzt einen so mächtigen wie diesen hier entdeckt. Linda lief vor Casper her. Sie hatte ein Klemmbrett in der Hand und notierte akribisch, was sie für wichtig hielt. Er bewunderte sie für ihren Elan. Erst vor einem Jahr hatte sie die Ausbildung der Akademie beendet und schon war sie ihm, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Fremdweltforschung, zugeteilt worden. Auch wenn Linda oft ein bisschen naiv wirkte, wusste Casper, dass er sich hundertprozentig auf sie verlassen konnte. Und hier, in dieser fremden Welt, die einst eine Kolonie der Alten Erde gewesen war, brauchte er jemanden, der hundertprozentig hinter ihm stand. Außerdem war seine Assistentin auch noch verdammt hübsch, auch wenn Casper wusste, dass zwischen ihm und Linda nie mehr sein würde als ein Arbeitsverhältnis. Aber träumen war doch nicht verboten. Linda bahnte sich zielstrebig einen Weg durch das zertrümmerte Ishington. Die Hauptstadt Erans schien ihr zu gefallen. „Wir müssen hier entlang!“, rief sie nach hinten und sprang leichtfüßig über einen halb mit Pflanzen überwucherten Kinderwagen. Als Casper sich umsah, konnte er sich nicht gegen den Eindruck wehren, dass die Bewohner der Stadt einen eiligen Aufbruch gehabt haben mussten. Wohin er seinen Blick auch warf, konnte er Schuhe, Kleidungsstücke oder andere Dinge herumliegen sehen; in einigen der verwachsenen Vorgärten entdeckte er eilig zurückgelassene Spielsachen, während andere Grünanlagen einfach so aussahen, als ob sie in einen tiefen Schlaf gefallen wären, seit ihre Besitzer sich in Luft aufgelöst hatten. Es war, abgesehen vom Geräusch ihrer Schritte, so still, dass er sein Herz schlagen hören konnte. Sehr unangenehm. „Linda!“, schrie er, um die Stille zu durchbrechen. „Komm schon, ich will den Baum aus der Nähe sehen!“ Sie nickte zustimmend und kam auf ihn zu. Ihr langes rotes Haar wippte aufreizend um die schmalen Hüften. Langsam gingen die beiden durch die leeren Straßen von Ishington, immer weiter auf den gewaltigen Stamm des Baumes zu. Es war ein unglaublicher Anblick. Casper war fast noch dreißig Meter vom Objekt seiner Forscherbegierde weg und legte den Kopf in den Nacken, in der Hoffnung ungefähr abschätzen zu können, wie hoch der Baum war. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er kam zu keinem wirklich brauchbaren Schätzergebnis außer zu dem, dass er gigantisch war. Nun gut, dann würde Linda eben später noch vermessen müssen, es nutzte ja trotz allem nichts. Er hustete in die Unwirklichkeit. Die Stille raubte ihm fast den Atem. Leise begann er vor sich hinzupfeifen. Zum Glück hatte er Linda zugeteilt bekommen. Innerlich vor sich hingrinsend musste er an seinen Kollegen Brodsky denken, der mit seiner Assistentin nicht ganz so viel Glück gehabt hatte wie er. Mari war eine sehr intelligente junge Frau, aber leider hatte sie Gott nicht unbedingt mit umwerfender Schönheit gesegnet. Mit anderen Worten: Sie war unglaublich hässlich. Tja, es konnte nicht jeder alte Mann so viel Glück haben wie er, auch wenn er wusste, dass Linda sich nie für ihn interessieren würde. Sie war jung, intelligent und wunderschön. Warum sollte sie sich mit einem Mann abgeben, der ihr Vater hätte sein können? Ein starker Sog riss Casper aus seinen Gedanken. Instinktiv lehnte er sich nach hinten, konnte aber nicht verhindern, dass ihm die Aufzeichnungen aus der Hand gerissen wurden. Einen Augenblick später war der Spuk auch schon wieder vorbei. Linda schien davon ohnehin nichts mitbekommen zu haben. Völlig unbeeindruckt stapfte sie weiter auf den Baum zu. Verwirrt sammelte Casper die losen Zettel wieder ein und lief ihr nach. Das Gras, das rund um den Baum gewachsen war, hatte eine sehr ungesunde, unnatürliche Färbung. Casper vermutete, dass das am Schatten lag, den das riesige Gewächs warf. Er beugte sich hinunter und pflückte einen der Grashalme, um ihn dann sofort in einen vorbereiteten Glasbehälter zu legen. Später würde er ihn analysieren, später, wenn er und Linda wieder an Bord des Schiffes waren und sie beide endlich wieder richtige Luft atmen konnten. Und danach würden sie diesen unsäglichen Planeten verlassen und sich endlich wieder auf den Weg zurück nach Hause machen. Er seufzte leise und verscheuchte eine schillernde Fliege, die es sich auf seiner Hand bequem gemacht hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass es in der Umgebung des Stammes keineswegs so still war wie in der übrigen Stadt. Erstaunt nahm er das Zirpen von Zikaden wahr, das immer lauter wurde, je näher er seinem Ziel kam. Nur wo steckten die Insekten? So sehr er sich auch anstrengte, er konnte keine im Gras entdecken. Es war eher so, als würde das Zirpen von dem Baum selber ausgehen, ganz so, als wäre er eine gigantische Zikade. Casper schüttelte unwillig den Kopf. So ein Schwachsinn. Bäume zirpten[/1] nicht, auch nicht wenn sie so gewaltig und ungewöhnlich waren wie dieser hier. In einigem Abstand vom Stamm blieb er stehen und befahl auch Linda, es ihm gleichzutun. Etwas Respekt vor dem Gewächs konnte nicht schaden, außerdem brauchte er kurz Zeit, um sich seiner Schutzjacke zu entledigen. Der Marsch hatte ihn doch mehr angestrengt, als er sich selbst eingestehen wollte. Obwohl keine Sonne am Himmel zu sehen war – denn dieser wurde von der dichten Krone des Baumes überzogen – schwitzte er und fühlte sich älter und verbrauchter denn je. Linda reichte ihm mitleidig eine mitgebrachte Wasserflasche, die er mürrisch annahm und mit wenigen Zügen leerte. „Verdammt, ist es heiß hier“, murmelte er. „Da haben Sie Recht, Doktor, es ist wirklich ungewöhnlich warm“, gab nun auch die junge Frau zu und lächelte verschmitzt. „Und dabei sind wir doch im Schatten.“ Casper wischte sich mit dem Ärmel über die verschwitzte Stirn. „Beginnen wir mit den Untersuchungen, dann sind wir schneller wieder zu Hause. Was meinst du?“ Sie nickte eifrig. Er hatte das Gefühl, dass ihm die Luft des Planeten langsam aber sicher schadete, denn er konnte kaum noch klar denken, was bestimmt an dieser ungewöhnlichen Hitze lag, die in der Umgebung des Baumes herrschte. Mittlerweile hatte er lange genug gerastet, um sich sicher zu sein, dass der Stamm die Wärme ausstrahlte. Das Surren, auch davon war er inzwischen überzeugt, würde ebenfalls vom Baum selbst erzeugt. Schnell kritzelte er die Gedanken in sein Notizbuch. Er fühlte sich unwohl. Ob er da wirklich eine Pflanze vor sich hatte? Irgendwie war er sich nicht mehr ganz so sicher wie am Anfang seiner Forschungsreise. Es war Zeit, dass sie von hier verschwanden. Wo war Linda überhaupt? Casper sah auf und erblickte sie. Sie hatte sich dem Stamm gefährlich genähert und lief wie hypnotisiert immer weiter auf ihn zu. Innerlich schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Hatte er seiner Assistentin nicht gesagt, sie sollte sich davon fernhalten? Er kniff die Augen zusammen. Hatte sich die Rinde nicht eben bewegt? Schnell legte er seine Unterlagen auf die Erde und machte einige Schritte auf den Stamm zu. Tatsächlich. Das Holz schien zu beben, nein, zu fließen, fast lebendig wirkte es. Er öffnete den Mund zu einem stummen Schrei, als Linda die Hand ausstreckte und die Rinde berührte. Wie aus dem Nichts schnellte ein Arm aus Holz aus dem Baum hervor und packte Linda an der Hand. Erschrocken und wie aus einem Traum erwacht riss sie den Kopf herum, starrte Casper an und begann hysterisch zu kreischen. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, was dieser Schrei auslöste. Wogen von menschlichen Gliedmaßen erschienen wie aus dem Nichts und es schien, als würde der ganze Baum nur noch aus menschlichen Leibern bestehen. Gesichter, junge, alte, drückten sich aus dem Holz und schienen nach ihm zu rufen; leere Augen starrten ihn an. Linda stieß Laute des absoluten Entsetzens aus, er jedoch konnte nichts anderes tun als zuzusehen, wie sie von immer mehr Armen gepackt und in den Stamm gezogen wurde. Als sie endgültig eins mit dem Baum geworden war, ging ein Schaudern durch den Stamm. Schlagartig war die Rinde wieder glatt und borkig wie zuvor. Das Zirpen setzte wieder ein. Casper sank zusammen. Nun wusste er, wo die Bewohner von Eran waren. Er wusste, wieso es in der Umgebung des Baumes so heiß war. Und er wusste auch, dass er Linda niemals wieder sehen würde. „Mist“, murmelte er und war sich durchaus bewusst, dass das Wort seine Situation nicht einmal ansatzweise traf. Müde starrte er den Baum an. Dann rappelte er sich auf und torkelte kraftlos auf den Stamm zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)