Children of the night von Tak-lung (Die Geschichte des Kilian) ================================================================================ Kapitel 23: Die Wahrheit ------------------------ Kapitel 23 Ein ruhiger Tag verstrich, nichts was mich behelligt hätte, keine Träumer oder Sonnenstrahlen, genauso wenig unliebsame Besucher. Als ich aufstand fand der sein Raum genau so wie ich ihn am Morgen zuvor vorgefunden hatte. Man hatte also meine Wünsche respektiert. Das Fenster wurde geöffnet, um eine frische Abendbrise in das Zimmer zu lassen. Ein herrlicher Abend. Ja, ich freute sich geradezu darauf diesen Abend auszukosten... doch sicher würde es aufsehen um mein ehemaliges Haus geben... vor allem bei denjenigen die mich besuchen wollten. An wen ich dabei dachte sollte jedem Leser inzwischen klar sein. Es kannten nur zwei Menschen meinen Wohnort. Der eine war Luc, welcher nach dem gestrigen Vorfall sich sicher erstmal nicht blicken lassen würde und die andere war natürlich Christine, welche nun einen Tag mit ihren Bruder hatte verbringen dürfen und sicher kommen würde, um mir die geliehenen Kleidungsstücke zurück zugeben. Und tatsächlich, kaum war ich in die Avenue-Phosphoyer eingebogen sah ich sie auch schon. Sie stand da, in ihrem weißen Kleid, die Hände in Bestürzung von dem Mund, die blauen Augen weit aufgerissen und mit einem Ausdruck der Ungläubigkeit und Verzweiflung auf die Trümmer starrend. Einen kurzen Moment hielt ich inne. Xavier hatte mir einst von unwiderruflichen Bildern erzählt, Szenen, die er nie vergessen würde. Dieses war sicher eine aus meinem Leben. Vor allem wie sie sich umdrehte, als ich sanft ihren Namen aussprach. Wie sie mich, die unterdrückten Tränen ausbrechend ansah und ohne darüber nachzudenken, um den Hals fiel. Einfach aus der Erleichterung heraus, mich lebendig zu wissen. Schließlich sah sie wieder auf und lächelte mich an „Sie haben wirklich ein Talent für unerwartete Überraschungen, Monsieur“ Noch begriff sie nicht ganz was sie eigentlich getan hatte, mir einfach um den Hals zufallen schien gar nicht ihre Art. Erst jetzt errötete sie und ging einen Schritt nach hinten „Verzeiht meine…“ „Ihr müsst euch für nichts entschuldigen“, unterbrach ich sie „Ich habe mich zu entschuldigen euch Sorgen bereitet und zum weinen gebracht zu haben“ vorsichtig streckte ich den Arm aus, fing mit meinem Finger eine der salzigen Tränen auf, gab ihr danach galant einen Handkuss, wie es sich für eine formelle Begrüßung geziemte. „Nicht doch, ihr hattet den letzten Tag bestimmt genug zu tun auch ohne eine Nachricht an mich zu schicken... immerhin... na ja, immerhin ist euer Haus... abgebrannt. Ein Glück das ihr nicht im Haus gewesen, als es passierte.“ Plötzlich machte sie eine Pause, sah mich fast bestürzt an während sie ihren Gedanken nach ging und je weiter sie diesen verfolgte umso betroffener schaute sie. Ich ahnte worum sich ihre Gedanken drehten, welcher Natur ihre Befürchtungen waren... „Monsieur... was habt ihr denn vor jetzt zu tun? Also... jetzt wo Euer Haus... nicht mehr wirklich bewohnbar ist?“ „Ich bin sicher nach all der Zeit nicht nach Paris gekommen, um es nach nicht einmal einer Woche zu verlassen“, antwortete ich ruhig „Momentan residiere ich in einem Hotel, bis ich ein Haus finde und es eingerichtet habe, was sicher einen Monat in Anspruch nehmen wird“ Bei diesen Worten verschwand die Sorgen aus ihrem Gesicht wurde durch ein erleichtertes Strahlen ersetzt. Und ich war erleichtert dieses unbekümmerte Lächeln auf ihrem Gesicht wieder sehen zu können, denn für mich war dieses Lächeln von ihr etwas ganz besonderes. Sie sollte sich nicht sorgen. Freude war das Gefühl, welches zu ihr gehören sollte, denn ihre Freude war ein so unbändiges Leuchtfeuer, so wie ihre Trauer ein tiefes schwarzes Meer war. Sie allein vermochte, schließlich nur durch ihre Anwesenheit, die Stimmung der Menschen zu beeinflussen, ob bewusst oder unbewusst. War sie traurig so herrschte eine seltsame bedrückte Stimmung, doch lachte sie, freute sie sich ihres Lebens so schien die ganze Welt ein freundlicherer Platz zu sein. Diese Eigenschaft liebte ich an ihr, sie erhellte meine Nacht mit ihrem Lachen, gleich einer Kerze in einem Raum, doch hauchte der Wind, stürmte der Regen um sie herum. Ich wollte das Glas sein, das sie vor den Gefahren zu schützen vermochte, wollte das Streichholz sein, das sie wieder anzündete, wenn sie erlosch… Keinen Gedanken an mein Geheimnis, oder was passieren würde wenn sie es erfuhr. Ich war ein Vampir. Daran gab es keinen Zweifel, genauso wenig daran, dass ein ebensolcher ihre Familie ausgelöscht hatte. Ich hätte es sein können, ja ich hätte es gewesen sein können. Ein kaltherziger Vampir, der die Eltern zweier Kinder umbringt, nur, um vielleicht zu sehen, was diese Kinder taten, wie sie empfanden und sie schließlich alleine zu lassen. Es hätte zu mir gepasst, auf eine gewisse Art. Änderte es etwas, dass ich es nicht gewesen war? Zum ersten Mal dachte ich ernsthaft daran es ihr zusagen. Zum ersten Mal erwog ich ernsthaft ihr alles zu sagen, über mich, über das was ich jede Nacht tat... über alles eben. Ich wollte, dass sie mich liebte. Mich. Kilian den Vampiren, nicht irgendeinen Sterblichen Gentillehomme der zufällig nett zu ihr war, sondern als das was ich war. Und doch sagte ich es nicht. Nicht für mich, nicht weil sie mich dann verachten könnte. Nein für sie. Aus Sorge sie, nach diesem kurzen Moment des Glückes, wieder so zu enttäuschen. „Doch jetzt dachte ich erst daran die Sorgen der letzten Nacht hinter mir zu lassen und Paris zu genießen“, ich sagte es halb ihr, halb mir selber, als wolle ich mich, nach diesem traurigen Gedanken wieder an einem Seil der Zuversicht festhalten. „und in Gesellschaft wird dies sicher umso einfacher, vor allem in solch angenehmer wie der Euren, Mademoiselle“ Ich nahm sie bei der Hand, legte ihr zärtlich meinen Arm um ihr feingliedrigen Schultern. „Ich bin wirklich froh euch heute hier zu treffen“ Sie nickte. „Das freut mich Monsieur. Ich wollte Euch ja nicht stören, oder so. Und eigentlich kam ich ja auch nur, um euch den Mantel...den Mantel Eurer Mutter wieder zu bringen“ Ich spürte das Gewicht ihres Kopfes an meiner Schulter, das wallende Haar an einem Rücken. Einer Katze gleich schmiegte sie sich an mich, genoss meine Nähe, so wie ich ihre Genoss. Wir wussten beide, dass sie log, dass es nur ein Vorwand war, um mich zu besuchen, ohne ein schlechtes Gewissen vor Christian haben zumüssen. Doch was machte es schon, solange wir nur zusammen sein konnten? Sollte Christine doch an ihre kleine Lüge an die sie sich klammerte glauben, ich klammerte mich doch genauso an die meine. Hatte es wirklich gestimmt was Xavier mir mit auf den Weg gegeben hatte? War ich kalt geworden im laufe der Zeit? Hatte ich es verlernt mich wirklich zu freuen und wirklich zu ärgern? Ach was. Absurd. Und selbst wenn brachte Grübeln momentan auch nichts. Das Leben, ihr Leben war zu kurz, um es mit solchen Gedanken zu vergeuden. Ich lebte Ewig, ich hatte auch später Zeit über mein eigenes rätselhaftes Wesen und dessen Veränderung zu philosophieren. Ich lebte nun einmal in den Tag, oder in meinem Fall wohl eher in die Nacht hinein. Jede Nacht, ja jede Stunde und Sekunde versuchte ich in vollen Zügen auszukosten, und der Wein des Lebens würde niemals zu sprudeln aufhören. Nicht für mich jedenfalls, denn ich bin ein Kind der Nacht. „Nur wegen diesem Mantel einen solchen Weg auf euch zu nehmen.“, ich lächelte „Was soll ich schon mit ihm? Er hängt doch nur im Schrank und wird von Motten zerfressen. Behaltet ihn ruhig, so weiß ich wenigstens, dass er in guten Händen ist. Doch nun zu anderen Dingen. Was wünscht ihr diese Nacht zu unternehmen. Ihr scheint ja, obwohl ihr Einheimisch seid, recht wenig dieser atemberaubenden Stadt zu kennen. Zumindest der schönsten Plätze dieser Stadt… scheint ihr noch bewundert zu haben.“ „Hm... na ja ich dachte ihr wolltet ihn gerne wieder haben. Immerhin gehörte er Eurer Mutter und...“ einen Augenblick hing sie mir unbekannten Gedanken hinter her, sah auf den weißen Stoff zu ihren Füßen, dann zu mir. Einen Moment war ich besorgt etwas gesagt zu haben was sie beunruhigt, oder gar an etwas Schreckliches erinnert haben konnte. Doch mit dem plötzlichen Lächeln, welches sich nun wieder auf ihrem Antlitz spiegelte, waren diese Gedanken wie weggewischt. Sie bückte sich, hob den Mantel auf und warf ihn sich um die Schultern. Anscheinend hatte sie es endlich verstanden, dass sie sich nicht für jede Gefälligkeit meinerseits zu schämen und die erst einmal abzuweisen brauchte, ehe sie, sie annahm. Endlich sah sie mich als Freund der ihr einfach eine Freude bereiten wollte, nicht als Adeligen der über ihr stand und Almosen verteilte. „Nein, viel gesehen habe ich von Paris tatsächlich nicht. Auch weiß ich nicht viel über die Schönheit dieser Stadt. Doch der Friedhof von Montmatre soll besonders schön sein, nicht?“ Montmartre, einer der drei schönsten Friedhöfe in Paris, direkt nach Les innocents, welcher sich auf einem Marktplatz in der Innenstadt befand und Pére-lachaise etwas außerhalb von Paris. Doch das ausgerechnet Christine einen Spaziergang, bei Nacht, auf einem Friedhof vorschlug… Ich mied diese meistens, da es immer nach Verwesung und Tod roch… es amüsierte mich jedoch zugleich, da mich dieses Schicksal niemals heimsuchen würde. Niemals würde mein Körper von Maden zerfressen werden, von Insekten vertilg und irgendwann zu Erde, zu Staub werden. Einmal hatte ich es probiert und mich für eine Woche in einem Friedhof eingegraben, damals war ich noch recht jung. Es war nur kurz nachdem Xavier mich verlassen hatte. Nun nach der Woche hatte ich wirklich genug von der feuchten Grabes Erste und all dem Gewürm in dem ich lag und so hatte ich beschlossen diesem Job doch den Professionellen Toten zu überlassen. „Montmartre also erneut… ich hatte erwartet ihr würdet etwas wie das Theater oder die Kirchen vorschlagen, doch sicher ist auch der Cimitér Montmartre einen Besuch wert.“ Zwei Vampire näherten sich unserem Aufenthalts ort. Marek und sein Schützling wie ich schnell merkte. Nein, nachdem ich die beiden am Abend zuvor nicht gestört hatte konnte ich gut auf eine Störung von ihnen verzichten. Ich drehte mich also gemeinsam mit Christine um und ging die Straße entlang, entfernte mich allmählich von den beiden Gestalten, die nun vor den Überresten meines Hauses standen und sich fragten, welchem armen Tropf dieses Wrack wohl gehört haben mochte. Ich führte sie fort, drehte sie fort von Marek „Es gibt einige Legenden über den Friedhof“ begann ich während wir gemächlich durch die Straßen wanderten, welche, je weiter wir kamen weniger belebt waren. Der Friedhof war einpaar hundert Meter entfernt, gerade mal eine halbe Stunde zu Fuß. „Legenden?“, fragte sie interessiert, lächelte dabei jedoch, als würde sie nach der Gutenachtgeschichte eines Kindes fragen. Schließlich erreichten sie das schwere Eisentor… Dunkel war es, Nebel war aufgezogen, nach dem heißen Tag, welcher soviel Wasser hatte verdampfen lassen waren die Wolken auf die Erde gekommen. Ein unheimliches Ambiente für einen Spaziergang in Paris, auf dem Cimitére Montmartre… „Geister, Rastlose Seelen sollen hier Hausen… jede Statue schützt sie oder kettet sie an sich…“ Das rostige Tor quietschte, als ich es öffnete. Kleine Totenlichter, welche den Seelen den Weg in ihre Heimat zeigen sollten waren aufgestellt, leuchteten wie Irrlichter aus dem Nebel hervor. Kaum ein Geräusch war zu vernehmen, sodass meine Stimme, abgedunkelt durch den dicken Nebel, fast das einzige war, was zu vernehmen war. Das Gelände auf dem wir uns befanden war riesig, fast eine kleine Stadt für sich, gegliedert in Straßen und Gassen. Es gab normale Gräber, ohne oder mit Kreuzen, es gab Büsten für Dichter und Künstler, welche bevorzugt auf diesem Friedhof ruhten, und natürlich die Familiengruften, welche wie imposante Häuser aus dem Nebel hervorragten. Manche Toten hausten besser, als viele Sterbliche es je würden. „Gefallene Generäle, verstorbene Kinder und Frauen… Millionen von Geschichten, jedes Grab hat seine eigene“, erzählte ich versonnen, während wir an den Gruften und Steinen vorbei gingen „Sagt, glaubt ihr an solch ruhelosen Seelen die auf Erden wandeln, Nacht für Nacht, die nicht Leben aber auch nicht sterben?“ Irgendwo schrie eine Eule, ließ Christine etwas zusammen zucken „Ob ich an sie glaube?“ Sie überlegte einen Moment, sah mich dann ernst an und nickte „Natürlich... ja, natürlich gibt es diese Seelen. Sie sind an diese Welt gefesselt und können nicht zur Ruhe kommen. Müssen umherwandern, ruhelos, für die Ewigkeit und ohne Ziel vor Augen. Ich bin mir sicher das es sie gibt, zumal der Mörder meiner Eltern... nun ja...zumindest so was ähnliches gewesen ist. Ich glaube an sie, und mein Gott... ich wünsche ihnen Ruhe. Sie tun mir Leid, ich finde es schrecklich was sie ertragen müssen. Ich wünschte ihnen nichts mehr, als dass sie in Frieden sterben können und ihre Ruhe finden...“ Nach dieser doch recht schnellen Antwort errötete sie, sah beschäm zu Boden „Tut mir Leid. Ihr haltet mich jetzt wohl für vollkommen verrückt“, nuschelte sie verlegen. Mit so einer Antwort hatte ich halb gerechnet und halb überraschte sie mich. Hätte ich Christian dieselbe Frage gestellt, unter der Annahme, dass dieser mir nicht gleich an den Hals gefallen wäre und versucht hätte mich zu ermorden, so hätte seine Antwort sicher anders ausgesehen… ganz anders. Er hätte mit einem sicheren ‚Ja’ geantwortet, hätte mich finster und zornig angesehen ‚Und ich würde sagen es geschieht ihnen recht, wenn, doch noch rechter würde es ihnen geschehen landeten sie in der Hölle, würden dort ihr Leben fristen, als uns in dieser Welt zu belästigen’, oder etwas in der Art. Vielleicht hätte er auch der Vermutung widersprochen hätte gesagt ‚Nein, keine Rastlosen Wesen, das hört sich ja an, als müssten sie einem Leid tun. Mörder, solche die es eigentlich nicht verdient haben bemitleidet zu werden. Dämonen, die gibt es’ „Und was, wenn diese Wesen gar nicht ruhen wollen?“, fragte ich schließlich weiter, als wir unter einer der Laternen durch in die nächste kleine Straße vorbei an einer imposanten Gruft gingen „Was, wenn es ihnen gefällt weiter auf Erden zu wandeln, auch wenn sie hier nicht her gehören?“ Ich sah sie nicht an. Brachte es einfach nicht übers Herz, oder war es gar Furcht? Furcht, dass sie meine Maskerade durchschaute? Aber warum stellte ich ihr dann diese Fragen? Mir selbst hatte ich diese Fragen doch auch nie gestellt, und auch damals begann ich nicht eine eigene Antwort zu ersinnen. Ich wollte nur ihre hören und sonst keine. „Das versteh ich nicht. Wieso sollten sie das denn wollen?“ Offensichtlich schien ihr diese Vorstellung völlig neu und gleichzeitig unverständlich. Sie dachte eine Weile nach, als eine Eule erneut mit ihrem nächtlichen Ruf die Stille durchbrach. Unwillkürlich zuckte Christine zusammen, hielt meine Hand noch fester, wie eine Sterbliche eben. Als die Eule erneut aufschrie, sie wieder zusammen zucken ließ musste ich lächeln. Zwar schien sie nicht wirklich Angst zu haben, in dieser Stadt der Toten, in der es nichts lebendes außer ihr selbst und dieser Eule gab, in der die Zeit stehen geblieben zu sein schien, doch schreckte sie zusammen, wie jeder Sterbliche. Das machte das ganze irgendwie erträglicher. Der Gestank von Fäule, von Tot und Moder lag in der Luft, vermischte sich mit dem nassen Hauch der Nebels und drang in meine Nase. Ekelig, allein schon der Gedanke, dass hier unter unseren Füßen Leichen lagen, Skelette und halb verweste in deren Gedärme Insekten liefen, Würmer und Maden sich an den Sterblichen Überresten zuschaffen machten und sie wanderten seelenruhig über diese Gebeine hinweg, unterhielten sich über Geister und Dämonen. Manch einem Pfarrer hätte sich der Magen umgedreht, so respektlos über die Toten zu denken. Doch warum sollte ich zögern, ich der ich selbst zu ihnen gehören sollte. Ich, der unsterbliche Engel des Todes der zuwider Gottes handelte und den Tod betrogen hatte. Und der einzige Grund für diese Stadt der Toten war, dass Menschen sie brauchten. Die Toten scherten sich weder darum, dass ich diese Gedanken hatte, noch dass ein Pfarrer sie ehrte, oder ein Verwandter um sie trauerte. Tote waren tot. Ende der Geschichte. Nein, Gräber waren nicht für die Verstorbenen, sie waren für die Lebenden. Die schwachen Lebenden, die sich verzweifelt an einen Stein mit einem Namen darauf klammerten, weil sie sonst nichts hatte, aber doch etwas brauchten. „Wieso sollte es ihnen gefallen umringt von jenen zu sein die sie verlassen haben? Ich finde sie Vorstellung schrecklich... direkt neben den Menschen zu sein die ich geliebt habe... und sie doch nicht erreichen zu können. Wie schmerzhaft muss das sein? So sehr sie auch versuchen die Lebenden zu imitieren, sie werden nie wirklich zu uns gehören. Was also könnte solch arme Seelen noch in dieser Welt halten? Was...würde ein solches „Leben“ denn lebenswert machen?“ Ihre Stimme riss mich aus diesen unsinnigen Gedanken. Ja, unsinnig, denn die Toten interessierte es ja nicht. Sollten die Menschen doch weiter diesem Irrglauben nachhängen, wen interessierte es schon? Ich konnte einfach nicht anders als zulachen. "Nun, man gehört doch nicht mehr zu den Sterblichen. Ich meine, vielleicht hat man sich dann doch einfach von der Vorstellung gelöst zu ihnen zu gehören. Oder... oder man hat halt nie zu ihnen gehört. Wieso sollte es einem dann schwer fallen? Vielleicht beobachten sie ja auch, machen sich über die Menschen lustig, die immer weiter leben und dieselben Fehler begehen, die sie in ihrem Leben einst begangen hatten. Möglicherweise unterscheiden sie sich in ihrer Art einfach den Menschen, oder sie vergessen einfach wie es als Mensch war und vermissen es darum nicht. Vielleicht macht es ihnen einfach Spaß nicht mehr an die Regeln des Lebens gebunden zu sein, einfach Frei und unbeschwert tun und lassen zu können, was sie wollen.", ich hielt einen Moment inne und überlegte. Ich hatte nie zu ihnen gehört, hatte nie einen der Sterblichen geliebt und war auch nie von einem ihres Gleichen geliebt worden. Meine ganze Welt hatte Xavier gehört und nur ihm alleine, und als Xavier weg war, war da nur noch eine Person in meinem Leben gewesen. Ich selbst. Warum also bedauern kein Sterblicher zu sein? Warum trauern, dass einer von diesen schwachen Menschen zu Grunde ging? So verbittert klingen diese Worte, jetzt wo ich sie beim schreiben einmal lese, und doch glaube ich eigentlich nicht, mich als verbittert bezeichnen zu können. Es war ja nicht so, dass ich diesen Umstand betrauert hatte, dass ich es mir anders gewünscht hatte. Nein, ich war immer recht zufrieden mit meinem Leben gewesen. Glücklich vielleicht nicht, aber zufrieden, und das war doch immerhin etwas. Und eine Zeit hatte ich sogar geglaubt, dass diese Zufriedenheit Glück sein müsste. „Vielleicht...“, fügte ich noch Lächelnd hinzu, wandte meinen Blick den Sternen zu, überlegte mir eine Antwort „Ihr fragt mich, was dieses Leben Lebenswert machen könnte. Ich weiß es nicht... aber ich stelle es mir... spannend vor, einfach frei sein zu können... die Welt zu sehen wie sie sich verändert. Allein die letzten 200 Jahre, was für eine Freude muss das Zusehen gemacht haben. Ich meine die Reformation, Luther, der als Erster erkannte, was die Kirche eigentlich war: Eine Organisation, die sich über die Menschen hob, die diese anlog, ihnen Befreiung für etwas versprach die es so nicht gab, der erkannte, das man das nur mich sich selbst aus machen konnte, die Veränderungen im Leben, die Rolle der Frau, der ehe, Die Teilung der Kirchen, all die Erfindungen wie die Buchpresse, die Entdeckung Amerikas... sicher wird es einem niemals langweilig...", einen Moment schwieg ich, zufrieden war ich mit dieser Antwort, denn das war es, was ich glaubte, von dem ich überzeugt war. Ich musste schließlich davon überzeugt sein, mit auch nur einem Zweifel wäre ich nicht soweit gekommen wie ich jetzt gekommen bin. Ich blieb stehen. Ein graues Grab war vor unseren Füßen. Moos bedeckte den einst prachtvollen Stein, der Name war kaum noch zu erkennen. Kälte und Hitze hatten Risse in das Denkmal getrieben. „Für die Menschen ist es doch auch irgendwann egal, dass jemand gestorben ist. Für sie geht das Leben weiter, warum sollte das nicht für die Toten gelten? Vielleicht ist dass ja ihre Form von Glück“ „Glück?“, fragte sie während sie auf den Grabstein zu ihren Füßen starrte. „Das nennt ihr Glück, alleine durch die Welt zu reisen? Ihr nennt es Glück sich anzusehen wie andere Leben und Freunde empfinden, Glück zu sehen wie andere Sterben? Ich nenne es Selbstbetrug.“ Sie sprach sie aus, die Worte vor denen ich mich so fürchtete, sprach sie, ganz klar und deutlich, so dass jede Silbe, jeder Buchstabe in mich eindringen konnte. „Frei? Meint ihr wirklich...kann man diese Seelen wirklich ‚frei’ nennen? Ich meine... wie frei kann eine Kreatur sein die sich selbst nach ihrem Tod noch immer, mehr oder weniger zwanghaft, an diese Welt zu klammern versucht. In... diese Welt der Lebenden, in welche sie doch eigentlich gar nicht mehr gehört.“ Sie stand da, als wolle sie testen wie lange ich diese Stille nach diesen Worten ertragen konnte, starrte in stummer Beklommenheit den Grabstein an, als wolle sie eine Antwort auf meine Behauptung darauf lesen, ehe wie weiter sprach „Aber immer nur zusehen?“, jetzt erst sah sie mich an, mit ihren traurigen blauen Augen, und jetzt erst wagte ich es sie wieder anzusehen. Diese Augen, vor denen ich gerade in jenem Moment am liebsten davon gelaufen wäre, und die mich doch nicht losließen, die mich fest in ihren Bann hielten, mich paralysierten. Alles schien vergessen, der Nebel der immer weiter aufstieg und uns mit seinen eisigen Klauen umhüllte, die Kälter, die durch die Kleider an unseren Leibern zerrte, die Dunkelheit, die uns umfing, als gäbe es kein Licht mehr auf dieser Welt. Nur ich und sie, und diese unvergesslichen, traurigen, gütigen, verstehenden blauen Augen Christines. „Monsieur, kann es nicht sein, dass Jene die verdammt sind, jene ruhelosen Seelen sich nur einbilden glücklich zu sein? Sich...nur einbilden ‚frei’, oder mit ihrer Existenz zu Frieden zu sein? Sie alle sehen die Jahrhunderte an ihnen vorbeiziehen, reden sich ein die Zeit zu beobachten, weil sie es interessant finden, wo sie doch in Wahrheit nichts weiter tun als jenen vergangenen Zeiten nachzutrauern in denen sie selbst noch Teil von ihr waren. Bevor sie in die Ewigkeit gingen... bevor die starben“ „Ich glaube es kommt darauf an. Auf manche mag es zutreffen, aber nicht auf alle. Es kommt wahrscheinlich auf den Charakter an. Vielleicht gibt es ja auch welche, die nicht nur zusehen sondern mit mischen wer weiß. Sicher sind ihre Naturen genauso unterschiedlich wie die der Menschen. Einige sind traurig, gerade zu schwermütig, andere nehmen es mit Witz, machen das Beste daraus. Falls es sie geben sollte, so haben sie es sich sicher nicht ausgesucht, und wenn sie es sich ausgesucht haben, bereuen sie es nicht. Ihr glaubt, dass man für immer an das Leben gebunden ist. Für manche mag es zutreffen, aber nicht für alle. Was ist mit denen, die nie ein Leben hatten? Oder die den Freitod wählten? Was ist mit denen die das Leben einfach vergessen. Vielleicht ist der Tot dann auch mehr, als ein Ende, vielleicht ist es gleichzeitig der Anfang einer völlig neuen Existenz in einer völlig neuen Welt, die den Menschen verschlossen bleibt.“ Wieder eine Pause, wieder ließ ich die Worte einwirken doch nicht nur auf Christine, die mich noch immer mit diesem seltsamen Blick ansah. Ich ließ sie auf mich einwirken. Ich musste sie aussprechen, ich musste etwas gegen Christines Worte hervor bringen, ich konnte es nicht einfach akzeptieren, und doch hatte ein kleiner Zweifel in meinem Herzen Einzug gefunden. Diese Worte von mir sollten mir Zeigen wie unsinnig dieser Zweifel doch war, doch nichts schien sich zu ändern. Und das Loch wurde größer. „Ich könnte mir vorstellen, dass sie ihr eigenes Leben führen. Untereinander erkennen sie sich, doch die Menschen erkennen sie nicht und so wissen sie wer und was sie sind, nutzen diese Kenntnis und ihr neues Leben. Ich weiß es nicht, es sind nur Mutmaßungen, aber so könnte ich es mir vorstellen, und mir gefällt diese Vorstellung besser, als die eines dahin Vegetierens, einer reinen, Sinnlosen Existenz, welche nicht endet, welche die Seele an einen Ort bindet, der nicht mehr ihr zu Hause ist. Es wäre doch schöner, wenn, wenn sie hier bleibt, dies auch weiter als ihre Heimat ansieht und weiter... lebt, oder wie auch immer man es nennen will. Es wäre doch traurig, wenn man stirbt, nur um dann hinterher an einem Ort gefangen zu sein an dem man nicht gehört, und sich an etwas zu erinnern, was man nicht mehr haben kann. Auch wenn manche Menschen dafür nicht tot sein müssen. Manche hängen auch so ewig der Vergangenheit hinterher und vergessen über diese ganz die Zukunft. Dabei ist sie es doch, die das Leben ausmacht, was bringt es sich über altes Unglück zugrämen und darüber das Zukünftige und momentane Glück zu vergessen?“ Das allerdings war die Wahrheit, und an die glaube ich noch bis Heute. Es mochte sein, das ich mir ein Glück vorspielte, dass es nie gegeben hatte, wer weiß, aber eines stand fest: Ich hatte eine Existenz, es war meine eigene, mein Leben. Man musste nicht tot sein um sich etwas einzubilden. Christine selber tat es doch schon seid 10 Jahren. Seid zehn Jahren hing sie an ihrem Bruder, redete sich ein, das es genügen würde, dass sie mit ihm glücklich war und nichts anderes brauchte. Ein weiches, und zugleich trauriges Lächeln huschte über die Lippen Christines. Hatten sie meine Worte erinnert? An ihren Bruder, der sich auch etwas vorspielte? Der sich auch vorspielte, er sei der einzige für Christine? Er müsse Rache nehmen? Der sich für immer in die Vergangenheit seiner Kindheitstage eingegraben hatte und aus diesem Unglück nicht entfliehen konnte, nicht entfliehen wollte? Dachte sie an jenen Junge, der sie zum verzweifeln brachte, in dem er nie lachte, sich nie freute? Der Junge, der sie in ihre eigene Illusion gesperrte hatte? „Natürlich... ist es eine schöne Vorstellung, dass jene Seelen in ihrer Art Frieden gefunden haben. Aber trotz allem...Trotz der Tatsache das es vielleicht nie irgendjemand erfahren wird, so bleibt es trotzdem nichts weiter als eine Maskerade. Ein billiger Schwindel... eine Täuschung für die Welt und ebenso für jene Kreatur die versucht in ihr zu leben.“ Schwindel... das Wort traf mich hart, auch wenn sie recht hatte. „Warum auch nicht?“, fragte ich fast ein wenig wütend über ihre ewigen Widerreden. „Menschen machen es ihnen doch auch so leicht. Sie lassen sich doch beschwindeln wo es nur geht, suchen Ausreden. Ein nicht angerührter Teller: der Mann hatte keinen Hunger. Das Weinglas noch voll, er war einfach mit den Gedanken bei dem Gespräch. Haben es Menschen denn besser verdient?“ Ich wusste sie hatte Recht. Ich wusste es einfach, egal was ich tat, egal was ich sagte, was ich ihr gesagt hatte und sagen würde, es war alles Schwindel und nichts war real, bis sie die Wahrheit erfuhr. Und in diesem Augenblick fasste ich einen Beschluss. Ernst sah ich sie an, sah wie ihre Augen erstarrt waren, wie ihr Gehirn die Sätze von mir zu verarbeiten versuchte. Es würde sie zerstören, vielleicht nicht sofort... aber... ich konnte nicht länger hinter einer Lüge leben. Ich stellte mich vor sie, beide Hände auf ihrer Schulter, ungewohnter Ernst in meinen kühlen blauen Augen. Es war verboten, ich durfte nicht einmal sagen was ich solange schon verschwiegen hatte. Das Geheimnis der Kinder der Nacht musste gewahrt werden. Doch das war mir egal. Es war mir egal, ob ich für diese Wahrheit büßen müsste, ob andere mich verfolgen würde. Regeln waren dazu da um gebrochen zu werden. (ein weiteres meiner Mottos) Und dann war da noch sie... eine zarte Rose der ich Licht gespendet hatte, ohne das sie wusste, dass dieses Licht doch nur Dunkelheit gewesen war. Sollte ich alles was ich ihr gegeben hatte wieder wegnehmen, sie mit einem Satz in diese Dunkelheit stoßen? Aber war es denn nicht besser, sie hasste mich für eine Wahrheit als mich für eine Lüge zu lieben? Ein schon lang erloschen geglaubter Funke tief in meinem Herzen, der seid dem Abschied Xaviers verschlossen gewesen war schien wieder zu erleuchten. „Christine...“, ich zögerte. Reue lag in meiner Stimme, Reue und Zweifel, aber wenn ich es jetzt nicht sagte würde ich es nie mehr sagen. „Christine, ich hoffe du hasst mich nicht dafür, ich hoffe du kannst mir vergeben aber ich...“ Kalt. Meine Augen weiteten sich, mein Blick wandte sich von Christine ab. Kalt. Nicht die Kälter der Nacht, nein etwas anderes. Etwas fremdes, nicht weit von hier. Etwas, dass mich Christine vergessen ließ und mich zu sich rief. „Bleib hier ich komme bald zurück“ wie in einem Traum sprach ich die Worte ohne das Mädchen anzusehen, dann rannte ich los. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)