Children of the night von Tak-lung (Die Geschichte des Kilian) ================================================================================ Kapitel 2: Leben ---------------- Kapitel 2 Die Felder erstrahlten in einem eigentümlichen goldenen Licht. Wind ließ das Rauschen der Bäume erklingen, wie das Flüstern der Natur selber, als wollten sie mich verabschieden. Der Bach nahe unseres Hauses floss. Das Wasser zog seiner Wege, wie es schon immer weiter geflossen war, plätscherte fröhlich vor sich hin. All die Stellen meiner Kindheit, die alte Eiche, auf welche ich so gerne geklettert war, der Marktplatz, wo ich so vielen Minnesängern applaudiert hatte, die Kirche, in welcher ich den Klängen des Chors hatte lauschen dürfen, wurden ein letztes Mal besucht. All die kleinen, unbedeutenden Freuden meines bisherigen Lebens, ich besichtigte sie ein allerletztes Mal. So wie andere ein Museum besichgen mochten. Denn mir bedueten sie nichts. Nicht mehr. Ohne den Abscheu, den ich am Tag zuvor in meiner Umgebung gespürt hatte, ohne die Bewunderung ging ich von einem Fleck zum nächsten, als wären diese Orte Vitirnen in denen meine Erinnerungen ausgestellt wurden. Ich verabschiedete mich, mehr oder weniger sicher, dass ich sie nie wieder sehen würde. Zumindest nicht allzu bald... Mein Herz war erfüllt mit einer ungewohnten Glückseligkeit, und nichts konnte meine Ruhe stören. „Sag mal, was ist denn mit dir?“ Michel, mein Bruder musterte mich, während ich ohne zu murren meine Arbeit verrichtete. „Hast dich wieder eingekriegt? Das gestern war ja wohl...“ Ich wusste, was er meinte. Am Vortag hatte ich einfach die Schubkarre fallen gelassen; was meine Mutter als Tollpatschigkeit abgestempelt hatte, war volle Absicht gewesen. „Ich will nicht mehr!“ hatte ich geschrieen „Was soll das überhaupt?“, dann hatte mir mein Vater eine Ohrfeige versetzt, hatte mir eine Rede über das Wohlergehen der Familie gepredigt. Ausgerechnet er, der Trunkenbold, welcher unser hart verdientes Geld für seine Saufgelage zum Fenster rausschmiss, ausgerechnet er hielt mir einen Vortrag, man müsse zusammenhalten, man müsse sein Wohl hinter das der Gemeinschaft stellen. Welch Ironie. Ich lächelte stumm, ohne meine Arbeit zu unterbrechen. „Na?“ Hohn und Übermut waren seiner Stimme deutlich anzuhören „Hast endlich kapiert, was es heißt, für andere da zu sein? Wir müssen nun einmal zusammenhalten, um zu überleben. Nur, weil du dich jetzt, wo der Graf da ist, für etwas Besonderes hältst... aber das bist du nicht, das ist dir hoffentlich klar.“ Ich schwieg, Wut kochte in mir auf, wurde jedoch von der Gewissheit, dass ich all dies nicht mehr lange ertragen müsse, zurückgehalten. „Du bist nur ein Spielzeug des Adels, genau wie wir alle. Bald hat er seinen Spaß gehabt und dann verschwindet er auf Nimmerwiedersehen.“ Noch ein Ballen, den ich zusammenband, fest das Seil zusammen ziehend „Gut, dass du jetzt doch noch zur Besinnung gekommen bist und eingesehen hast, dass du nur uns hast; und weiter arbeitest.“ Immer weiter ging es, jedes Wort ein geschliffener Dolch, welcher mich mitten ins Herz traf. Meine Zuversicht drohte zu schwinden. Und wenn es nun stimmte? Wenn er heute Abend einfach ging? Ohne mich? Wenn ich nun tatsächlich nur ein Spielzeug des Grafen gewesen war? Ich etwas Besonderes? Wie hatte ich mir das nur einbilden können? Ich... etwas Besonderes. Doch dann fielen mir die Worte des gestrigen Abends wieder ein „Kilian.“ Mein Name. Ein stolzer Name, ein schöner Name. Mein Name, eine Sternschnuppe, mein Wesen. „Wenn du das sagst; du musst ja wissen, wie es ist, normal und nichts Besonderes zu sein. Und vor allem, wie es ist, ein Spielzeug des Adels zu sein“, erwiderte ich scharf, schärfer als ich erwartet oder beabsichtigt hatte. Michel war nicht weniger überrascht über diese Worte, als ich selber. Nie hatte ich widersprochen, immer nur getan, was man von mir verlangt hatte. Doch auf einmal griff ich ihn an, ließ mich nicht herumschubsen. „Was hast du gesagt?“ Er packte mich am Kragen und zog mich zu sich hinauf. Schweiß war auf seinem vor Wut verzerrten Gesicht, das braune Haar hing wild über seine Augen, welche mich zornig anfunkelten „Na? Wiederhol es!“ Ich schwieg, starrte ihn nur trotzig an. „Wiederhole es, hab ich gesagt!“ Er schrie jetzt fast. „Ich habe gesagt, dass du ja wissen musst, wie es ist, sich dem Adel zu Füßen zu werfen und nichts Besonderes zu sein“, zischte ich „Und jetzt lass mich runter!“ „Oder was?“ - blanker Hohn, wie schon so oft „Ich bin der Älteste, im Gegensatz zu dir bin ich sehr wohl etwas Besonderes. ICH werde diesen Hof erben, ICH werde der Herr im Haus sein, und DU nicht mehr als ein Untergebener. Ein Arbeiter!“ Stille, nur das ungleichmäßige Atmen von uns war zu hören. Schließlich ließ er mich runter „Sei bloß froh, dass du mein Bruder bist, andere würde ich für solche Frechheiten teurer bezahlen lassen, kapiert?“ Hasserfüllt starrte ich ihn noch eine Weile an, stand dann wieder auf und arbeitete weiter. Nur noch heute. Nur noch heute musste ich Jacques sein. Nach diesem Tag müsste ich mir solcherlei nicht mehr anhören. Kilian würde stärker sein als Jacques es je sein könnte. Schnell und doch viel zu langsam zog der Tag sich hin, die Sonne glitt über das Himmelszelt, von morgens zum Zenit, um auf der anderen Seite anzukommen und den Abend mit seinen Schatten einzuläuten. Die Nacht, welche verhüllte, was man am Tag sah, Hässliches wurde mystisch, oder furcherregend, Schönes makellos und verheißungsvoll brach herein. Ich saß vor der Tür, wartete, dass seine schwarze Kutsche auftauchte und mich mitnahm. Meine Sachen lagen oben zusammengepackt, alles fertig zur Abreise. Die Sonne war nur noch ein rotes Flackern am Horizont, und durch die Wolken, welche in sanften Bahnen sich über den Himmel zogen, wurde ihr sanftes Licht reflektiert, so dass der Himmel eher einem Ölgemälde als der Realität gleich kam. Doch ich hatte kaum Augen für die Schönheit, die mich umhüllte. Nicht für die Abendröte, welche wie ein samtener Vorhang vorbeizog. Nicht für die Vögel, welche ihre Abendlieder zum Besten gaben. Nicht für die letzten Grillen dieses Jahres, welche in das Konzert einstimmten. Nicht für das Säuseln des Windes, welches die Symphonie unterstrich, oder das Rauschen der Bäume, welche sich sacht im Takt wiegten. Wo blieb er? Ich wartete hier, würde notfalls die ganze Nacht draußen verbringen. Er würde kommen. Gewiss würde er seinen Kilian nicht zurücklassen... Ich kann mich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein, doch dem muss so gewesen sein, denn als sich meine Augenlider hoben, sah ich in SEIN Gesicht. „Schlaf nur, Kilian“, vernahm ich seine Stimme, sanft, wie seine Augen, welche mich anstrahlten mit ihrem unsichtbaren Zauber „Wo...?“ ich versuchte meinen Kopf zu heben, doch war ich von tiefer Müdigkeit gefangen. Kein Wunder, ich war ein zehnjähriger Junge und hatte seit nun mehr drei Tagen kaum ein Auge zugetan. Mein kindlicher Körper schien schwer wie Blei, doch das machte nichts, ich blieb liegen und schloss die Augen. Ich spürte das weiche Polster, auf dem ich lag, ein schwarzer Umhang aus ungewohnt weichem Stoff war über mich gelegt, um mich vor der Kälte dieser Herbstnacht zu schützen. Als wir über einige Steine fuhren, wackelte die Kutsche ein wenig, doch das störte mich kaum. „Morgen werde ich dir alles erklären.“ Es war mehr ein Flüstern, wie das Rauschen des Bachs aus weiter Ferne, kurz bevor ich wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel. Als ich erneut meine Augen öffnete, war die Sonne bereits aufgegangen und die Kutsche war stehen geblieben. Nein, ich befand mich nicht einmal in einer Kutsche, sondern in einem richtigen Bett. Einen schrecklichen Moment befürchtete ich, das alles wäre nur ein Traum gewesen und ich läge daheim in meinem Bett. Doch schnell merkte ich, dass dies nicht sein konnte. Weich war mein Schlafplatz, nicht nur Stroh, eine warme Daunendecke war über mich gelegt und spendete mir ihre Wärme. Vermutlich war ich in einer Schenke in einem Dorf. „Na, auch schon wach?“ Erschrocken drehte ich mich um. In einer Ecke saß ein älterer Herr, in seiner Hand eine Pfeife, aus welcher Rauch strömte. Ein seltsam würziger Duft stieg mir in die Nase. Ich hustete. „Wo sind wir? Wer sind Sie? Wo ist Xavier?“ So viele Fragen. Fragen, deren Antwort ich nicht wusste, dies jedoch zu ändern gedachte. „Nicht so viel auf einmal, Bub“, lachte der Herr, mit einem starken Akzent, er war aus der Provence. Seine kleinen grauen Augen schauten mich aus seinem faltigen Gesicht heraus an, halb belustigt, halb neugierig. „Wir sind in Valonce, einem Dorf nicht weit entfernt der Provence. Ich heiße Renards und bin der Kutscher und Diener des Grafen de Lambourt. Und was deine letzte Frage betrifft…“ Er setzte die Pfeife an seinen Mundwinkel, um einen tiefen Zug zu nehmen und Rauchringe zu blasen. Wieder dieser würzige Geruch. „Seine Grafschaft pflegt nur des Nachts zu reisen und tagsüber nicht gestört zu werden. Eine Krankheit, welche ihm das Leben im Tageslicht verbietet.“ Ich war schockiert. Warum hatte er mir das nie erzählt? Ich begann zu überlegen. Was wusste ich eigentlich über ihn? Nur, dass er ein Graf aus der Provence und ein guter Zuhörer war. Mehr nicht. Wo hatte er eigentlich hinreisen wollen, bevor er seine Reise unterbrochen hatte? Was war mit seiner Familie? Er selbst schien doch kaum zwanzig Jahre zu zählen... an meine Familie verschwendete ich kaum einen Gedanken. Heute Abend würde ich ihn fragen können. „Was ist mit seiner Familie? Machen sie sich keine Sorgen?“, fragte ich Renard, dieser schenkte mir nur ein mildes Lächeln „Wenig ist über seine Familie bekannt, sein Vater soll im Krieg gefallen sein, seine Mutter im Kindbett verstorben.“ Diese Antwort war ebenso schockierend wie zuvor die Erkenntnis über die Krankheit des Grafen. „Aber das sind nur Gerüchte. Er selbst spricht nie darüber, und lässt auch niemanden in sein Schloss.“ „Wieso?“ Ich erwartete nicht unbedingt eine konkrete Antwort, und war nur milde überrascht, zu hören, dass niemand dies so genau wisse. Immer mehr Gerüchte, über die Krankheit, über sein melancholisches Gemüt, angebliche Liebschaften und gebrochene Herzen, Morde und Anschuldigungen wahrer und nichtiger Natur. Ein Gewirr aus Sagen und Mythen, alles schon dutzend mal erzählt, umgeändert, abgedroschen bis zum geht nicht mehr. Nicht einmal die Hälfte entsprach der Wirklichkeit, und dennoch fragte ich immer weiter, ließ mir immer mehr erzählen und lauschte fasziniert Renards’ Erzählungen, was ihm zu gefallen schien. „Einst soll eine Prinzessin zu ihm gereist sein, gemeinsam mit ihren Untergebenen, um ihm Aufwartung zu machen, um eine Hochzeit zu arrangieren. Hübsch soll sie gewesen sein, und reich. Er empfing sie, und wie ein Paradezug standen sie alle vor dem Tor, doch er ließ nur sie hinein.“ Die Stimme ging herunter, eindeutig ein Zeichen, dass etwas nicht stimmte „Nie wieder wurde sie lebend gesehen, aber im Flussgraben wurde ein Skelett in ihren Kleidern gefunden.“ Ich staunte ihn groß an, wartete auf eine Erklärung. Wie konnte er ihm dienen, wenn er das glaubte... „Die Menschen fürchten und lieben ihn. Seine Grafschaft gedeiht immer weiter, als wäre sie von Gottes Hand persönlich geführt, doch diese mysteriösen Vorkommnisse und seine Geheimnistuerei lassen die Mythen entstehen. Auf ihn verzichten will keiner...“, schloss der alte Herr und tat erneut einen tiefen Zug aus der Pfeife, wobei er mich ansah. „Aber er ist doch noch so jung!“ sagte ich „Was sagst du? Er ist nun bald vierzig!“ Ich war verwirrt, wie schon so oft in den letzten Tagen. Vierzig Jahre? Das konnte nicht sein, er war höchstens zwanzig, wenn überhaupt... „Also ist das alles... erfunden?“, hakte ich nach; über das Alter zu streiten schien nicht wirklich etwas zu bringen. „Wer weiß? Ich arbeite erst seit drei Jahren für seine Lordschaft. Der Teufel weiß, was mit meinem Vorgänger geschehen ist. Aber ich glaube nicht, dass er ein schlechter Mensch ist.“ Ich lächelte und nickte „Das glaube ich auch nicht!“ Auch er nickte und eine Weile sahen wir uns so lächelnd an, bis die Stille vom Knurren meines Magens unterbrochen wurde. „Ich sehe, wir haben Hunger. Keine Bange, ich hol Euch etwas zu speisen. Seine Lordschaft hat mich beauftragt, mich um Euer Wohlergehen zu kümmern.“ Hatte ich mich gerade verhört? War ich ge-Euchzt worden? Ich, der kleine Jacques, der Bauer? „Was wünschen Eure Grafschaft Kilian?“, fragte der Herr und musste bei meinem verdutzten Gesicht laut auflachen. „Ja: Eure Grafschaft. Da Seine Gnaden keine Nachfolger hat, und auf Grund seiner Krankheit auch nie einen haben wird, ist er losgeritten, einen Jüngling zu adoptieren. Nun, wie es scheint, seid Ihr der Auserwählte.“ Das Essen war köstlicher als alles, was ich zuvor gegessen hatte. Die Kartoffeln mochten etwas angebrannt gewesen sein, das Fleisch nicht genug gewürzt und das Gemüse kaum durch gekocht, dennoch schmeckte es mir besser als alles wasm eine Mutter je auf dne Tischgebracht hatte. Mein erstes Mahl außerhalb meines Dorfes, weit entfernt von meiner Familie, vom Alltag. Während wir speisten, erklärte mir Renards, dass meine Eltern entlohnt worden waren, hundert Goldstücke hatte Xavier ihnen gegeben, und so hätten sie mich bereitwillig mitgeschickt. Nichts anderes hatte ich erwartet. Für Geld täten sie doch alles, und erst recht, um mich loszuwerden. Kaum waren Speß und Trank geleer, stand ich auf. Ich war ganz begierig, mir das Dorf anzusehen. Zu sehen, ob es anders war, als bei mir Zuhause, oder ob es überall gleich aussah. Renards stimmte zu, er sollte mir ohnehin neue Kleider besorgen, schließlich war ich nun der Sohn eines Grafen und solche Fetzen geziemte sich für meinen Stand nicht. Mit weit aufgerissenen Augen lief ich neben dem Kutscher her. Freilich, große Unterschiede zu meinem Dorf gab es nicht: Dieselben staubigen Straßen und Lehmhäuser. Die Menschen jedoch hatten mir unvertraute Gesichter. Daheim kannte jeder jeden. Selten kamen Reisende vorbei, hier jedoch waren mir alle fremd, das alleine reichte, um mich zufrieden zu stellen. „Ah, quel bel enfant!“ Die Schneiderin war eine recht beleibte Frau mit rosigen Wangen und einem freundlichen Gesicht. „Mal sehen, was wir haben, sicher etwas Besseres, als diese Lumpen, aber für etwas Angemessenes bräuchte ich sicher einen Tag.“ Sie suchte in einigen Kartons und zog schließlich einen schwarzen Anzug, Sonntagskleidung für die Kirche, etwas besser als die gewöhnlichen Straßenkleider, heraus. „Das wird zunächst reichen, wir werden heute Abend noch aufbrechen. Habt dank Mademoiselle.“ Er gab ihr ein wenig Geld und ich wurde in die neuen Kleider gesteckt. Der Tag verging, der Abend kam. Am Nachmittag legte ich mich noch einmal zur Ruh, um in der Nacht mehr Zeit haben zu können, mit Xavier zu reden. Und endlich verschwand die Sonne, und mit ihr ihr wärmendes Licht. „Und? Gut geschlafen?“ Ich sah erneut in diese wunderbaren klaren braunen Augen „Xavier!“ Erfreut sah ich ihn an und fiel ihm um den Hals. Ein wenig verwundert sah er zu mir runter, lächelte schließlich und strich mir sanft durch das lockige Haar. Der Abend war schon fortgeschritten, und seine Haut rosig von dem Blut, welches er erst kürzlich getrunken hatte, und ich lag, von alledem nichts ahnend, in seinen kräftigen Armen. „Los, brechen wir auf.“ Ich nickte und folgte ihm in die Kutsche. Renards saß auf dem Kutschbock und trieb die schwarzen Rappen an. Wir ritten in die Nacht hinein und ließen schnell das Dorf hinter uns. Eine Weile saßen wir uns stumm gegenüber, betrachteten uns, beide gleichermaßen fasziniert. „Nun frag schon.“ Ich sah ihn an „Ich habe dich so viel gefragt, nun ist es an dir, mich zu fragen. Und ich werde alles so gut wie möglich beantworten.“ Eine Weile dachte ich nach „Stimmt das mit deiner Krankheit?“ Er lachte „Ist es das, was Renard dir erzählte?“ Ich nickte und wartete stumm auf seine Erklärung. „Nun, man kann es sicher als Krankheit bezeichnen, als eine ewig andauernde, mich verzehrende Seuche... doch das wirst du später begreifen, später, wenn die Zeit reif ist.“ Ich verstand seine Worte nicht, war es nun wahr, was Renards mir erzählt hatte? „Renards erzählte mir, du wärst über vierzig... aber…“ „Ich sehe für dich nicht älter aus als zwanzig. Ich weiß“ „Warum?“ „Nun...“, einen kurzen Moment dachte er nach, schaute aus dem Fenster, wo die dunkle Landschaft an uns vorbei zog. In weiter Entfernung waren schon die Pyrenäen zu sehen, groß und bedrohlich, die Grenze nach Spanien. „Nun... Menschen sehen was sie sehen wollen. Ich bin schon vierzig Jahre in dieser Grafschaft, was würdest du erwarten zu sehen?“ „Einen Vierzigjährigen.“ Er nickte. „Und genau das ist es, was ich ihnen zeige.“ Irgendwie gefiel mir diese Antwort nicht ganz, und mein Gesichtsausdruck muss das verraten haben, denn er fügte noch „Alles mit der Zeit, es hat... mit meiner Krankheit zu tun.“ hinzu. Allmählich begann ich mich zu fragen, weshalb ich eigentlich Fragen stellte. Antworten erhielt ich ohnehin nicht, lediglich „Später.“ Schon früher hatte es doch immer „Später“ geheißen, „Später“ oder „Wenn du alt genug bist“, immer dasselbe, und nun schon wieder. Er lächelte, als könnte er meine Gedanken lesen. „Ich weiß, es stört dich. Aber hier in der Kutsche ist es einfach... unpassend. Bei mir zu Hause.“ „Versprochen?“ „Versprochen.“ Den Rest der Fahrt redeten wir, redete ich wieder, wie schon so oft daheim. Ich erzählte ihm von dem Dorf, und all den Menschen, und wie sich alles glich und doch ganz anders war. Und wieder war es wie im Dorf, und wieder hörte er zu und ich fühlte mich geborgen in seiner Nähe, und alle Zweifel waren von mir gewichen. Und am Morgen hielten wir wieder in einem Dorf, mir fiel auf, dass Xavier blasser war als sonst. Seine Haut strahlte unnatürlich weiß, reflektierte verheißungsvoll das sanfte Licht des Mondes, welcher sich dem Horizont näherte, mit jeder Sekunde, die verstrich. Die braunen Augen hatten einen unnatürlichen Glanz angenommen. Wie er mich ansah, anders als sonst, und schnell wandte er sich ab, als könne er es nicht ertragen, mich anzusehen. Was mit ihm war, wollte er, konnte er, mir nicht erklären. Was hätte ich wohl dazu gesagt, hätte er mir erzählt wie sehr ihn sein Durst plagte, dass er das Blut in meinen Adern sah, nicht mehr den Jungen, der ich nun mal war. Wie er sich danach verzehrte, mein süßes Lebenselixier zu trinken, zu kosten und doch vor Schmerz darüber gestorben wäre. Denn ich war sein Engel, wie er meiner war. Ich war seine Erlösung aus der Einsamkeit, sein Gefährte, den er sich auserkoren hatte. Doch wie hätte ich das mit meinen zehn Jahren begreifen sollen? Hätte ich es akzeptieren können, dass er von dem Blut anderer lebte? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht beschwören, dass dies den Zauber, der mich an Xavier fesselte, gebrochen hätte. Ob ich Angst statt Wohlwollen empfunden hätte. Ich sah nur, wie er sich langsam in jemand anderen verwandelte, und das jedenfalls erfülltem ich mit furcht. Ich sah, wie er wegging und mich in der Schenke absetzte, um Nahrung für sich zu suchen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)